OGH 10ObS126/94

OGH10ObS126/9420.9.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Josef Fellner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr.Renate Klenner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Maria F*****, Pensionistin, *****vertreten durch Dr.Johannes Grund und Dr.Wolf D. Polte, Rechtsanwälte in Linz, wider die beklagte Partei, Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Pflegegeldes in Höhe der Stufe 5, infolge Revisionsrekurses der klagenden Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz als Rekursgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10. März 1994, GZ 12 Rs 6/94-19, womit der Beschluß des Landesgerichtes Ried im Innkreis als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 15. Dezember 1993, GZ 3 Cgs 114/93f-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Beklagte hat der Klägerin binnen vierzehn Tagen die einschließlich 338,24 S Umsatzsteuer mit 2.029,44 S bestimmten halben Kosten des Revisionsrekurses zu ersetzen.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 12.2.1993 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 23.11.1992 auf Hilflosenzuschuß ab, weil sie nicht derart hilflos sei, daß sie ständig der Wartung und Hilfe bedürfe.

Das Begehren der fristgerecht erhobenen Klage richtete sich zunächst nur auf Leistung des Hilflosenzuschusses im gesetzlichen Ausmaß ab 23.11.1992. In der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 15.12.1993 dehnte die Klägerin das Klagebegehren auf Leistung eines Pflegegeldes in Höhe der Stufe 5 ab 1.7.1993 aus.

Die Beklagte anerkannte das Klagebegehren "im Rahmen des Anspruches auf Hilflosenzuschuß", "bestritt" jedoch das "darüberhinausgehende" Begehren auf ein Pflegegeld in der Höhe der Stufe 5.

Auf Antrag der Klägerin verkündete das Erstgericht in der genannten Tagsatzung in Anwesenheit der Parteien ein in Rechtskraft erwachsenes Teilanerkenntnisurteil. Darin erkannte es die Beklagte schuldig, der Klägerin ab 23.11.1992 den Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß zu zahlen und die mit 5.988,72 S bestimmten Prozeßkosten zu ersetzen.

Mit Beschluß vom 15.12.1993 wies das Erstgericht das auf Leistung eines Pflegegeldes in Höhe der Stufe 5 ab 1.7.1993 gerichtete Klagebegehren mit folgender Begründung zurück:

Nach § 4 Abs 4 Bundespflegegeldgesetz (BPGG) bestehe ab 1.7.1993 ein Rechtsanspruch auf das Pflegegeld in Höhe der Stufen 1 und 2, ab dem 1.1.1997 auch auf das Pflegegeld in Höhe der Stufen 3 bis 7; in der Zeit vom 1.7.1993 bis zum 31.12.1996 sei zwar bei Vorliegen der Voraussetzungen der Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe vom zuständigen Sozialversicherungsträger oder vom Bund (Entscheidungsträger gemäß § 22) als Träger von Privatrechten zu gewähren. Ein Rechtsanspruch auf diesen Differenzbetrag bestehe jedoch nicht. Im übrigen seien die Bestimmungen des BPGG auf den Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe des Pflegegeldes mit der Maßgabe anzuwenden, daß keine Bescheide, sondern lediglich Mitteilungen zu ergehen hätten und der Rechtsweg ausgeschlossen sei. Deshalb sei das ausgedehnte Klagebegehren wegen Unzulässigkeit des Rechtsweges zurückzuweisen.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Klägerin, in dem die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Zuerkennung des Differenzbetrages zwischen der Stufe 2 und der Stufe 5 beantragt und angeregt wurde, beim Verfassungsgerichtshof den Antrag zu stellen, § 4 Abs 4 BPGG auf seine Verfassungsgemäßheit zu überprüfen, nicht Folge. Der angefochtene Beschluß entspreche der zit Gesetzesstelle, gegen die das Rekursgericht keine verfassungsrechtlichen Bedenken habe.

Im Revisionsrekurs macht die Klägerin unrichtige rechtliche Beurteilung geltend. Sie regt neuerlich an, beim Verfassungsgerichtshof die Überprüfung der Verfassungsgemäßheit des § 4 Abs 4 BPGG zu beantragen. Weiters beantragt sie, den Beschluß des Rekursgerichtes aufzuheben und zu entscheiden, daß ihr die Beklagte auch den Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und der Stufe 5 zu gewähren habe.

Die Beklagte erstattete keine Rekursbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Der nach § 47 Abs 2 ASGG zulässige Revisionsrekurs ist nicht berechtigt.

Nach § 4 Abs 2 BPGG besteht Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufen 1 und 2. Gemäß Abs 3 leg cit gebührt Pflegegeld vorbehaltlich des Abs 4 in Höhe der Stufen 3 bis 7. Der bezogene Abs 4 lautet: "Ab 1. Juli 1993 besteht ein Rechtsanspruch auf das Pflegegeld in Höhe der Stufen 1 und 2, ab dem 1. Jänner 1997 auch auf das Pflegegeld in Höhe der Stufen 3 bis 7; in der Zeit ab 1. Juli 1993 bis zum 31. Dezember 1996 ist bei Vorliegen der Voraussetzungen der Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe vom zuständigen Sozialversicherungsträger oder vom Bund (Entscheidungsträger gemäß § 22) als Träger von Privatrechten zu gewähren. Ein Rechtsanspruch auf diesen Differenzbetrag besteht nicht. Im übrigen sind die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes auf den Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe des Pflegegeldes mit der Maßgabe anzuwenden, daß keine Bescheide, sondern lediglich Mitteilungen zu ergehen haben, und der Rechtsweg ausgeschlossen ist."

Diese Formulierung des Abs 4 geht auf einen im Unterausschuß eingebrachten Abänderungsantrag der Abgeordneten Eleonore Hostasch und Dr.Feurstein "zur Klarstellung in verfassungsrechtlicher Hinsicht" zurück (AB 908 BlgNR 18. GP 3).

Nach der RV 776 BlgNR 18. GP sollte Abs 4 folgendermaßen lauten: (4) Ab 1. Juli 1993 besteht ein Rechtsanspruch auf das Pflegegeld in Höhe der Stufen 1 und 2, ab dem 1. Jänner 1997 auch auf das Pflegegeld in Höhe der Stufen 3 bis 7; in der Zeit ab 1. Juli 1993 bis zum 31. Dezember 1996 ist vom Entscheidungsträger bei Vorliegen der Voraussetzungen das Pflegegeld in Höhe der Stufen 3 bis 7 zu gewähren. Sämtliche Bestimmungen dieses Bundesgesetzes gelten für das Pflegegeld in Höhe der Stufen 3 bis 7 mit der Maßgabe, daß bis zum 31. Dezember 1996 keine Bescheide, sondern lediglich Mitteilungen zu ergehen haben und der Rechtsweg ausgeschlossen ist.

Die RV führte zu Abs 4 auf S 26 aus (sa MGA ASVG 57. ErgLfg N 10, 326f FN 1):

"Abs 4 legt fest, daß ab dem Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes lediglich auf die Gewährung von Pflegegeld der Stufen 1 und 2, nicht jedoch auf die Zuerkennung des Pflegegeldes der Stufen 3 bis 7 ein Rechtsanspruch besteht. Diese Regelung muß aus nachstehend angeführten Gründen gewählt werden: Der Gesetzentwurf sieht eine Klagemöglichkeit bei den Arbeits- und Sozialgerichten vor. Um den hiedurch bedingten vermehrten Arbeitsanfall bewältigen zu können, ist jedoch die Bereitstellung zusätzlicher Richter erforderlich. Mit Rücksicht darauf, daß deren Ausbildung vier Jahre in Anspruch nimmt, soll für die Übergangszeit bis 31. Dezember 1996 lediglich die Gewährung von Pflegegeld der Stufen 1 und 2 durch Klage bei den Arbeits- und Sozialgerichten angefochten werden können. Liegen die Voraussetzungen für ein Pflegegeld der Stufen 3 bis 7 vor, hat die Bewilligung in Form einer Mitteilung zu ergehen, gegen die der Rechtsweg bis 31. Dezember 1996 ausgeschlossen ist."

Die RV 24 rechnete im Zusammenhang mit dem BPGG mit einem Ansteigen der gerichtlichen Sozialrechtssachen erster Instanz von rund 17.000 bis 20.000 jährlich um rund 10.000. Dieser Zuwachs werde in zwei Etappen eintreten. In den ersten Jahren nach dem Inkrafttreten, in denen die Zuordnung der Anspruchsberechtigten zu den Pflegegeldstufen 3 bis 7 noch von der sukzessiven Gerichtskompetenz ausgenommen bleibe, sei mit rund 4.500 zusätzlichen erstinstanzlichen Sozialrechtssachen zu rechnen. Nach dem Wirksamwerden der umfassenden sukzessiven Gerichtskompetenz am 1. Jänner 1997 sei ein weiterer Zuwachs von 5.500 erstinstanzlichen Verfahren zu erwarten. Um den zusätzlichen Anfall in angemessener Zeit bewältigen zu können, sei es erforderlich, bereits mit dem Inkrafttreten des Gesetzes die Richterplanstellen um 11 und die Planstellen für nichtrichterliche Bedienstete um 22 zu erhöhen. Mit dem Inkrafttreten der Neuregelung sei aber auch dafür vorzusorgen, daß am 1. Jänner 1997 weitere 14 Richter ernannt werden können. Im Hinblick auf die für eine Ernennung zum Richter erforderliche vierjährige Rechtspraxis müßten daher sobald wie möglich 14 Richteramtsanwärter ... aufgenommen werden.

Fink, die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Bundespflegegesetzes, SozSi 1993, 352, der § 4 Abs 4 BPGG sehr eingehend behandelt (352, 353, 362, 364, 365, 367, 369, 370), äußert gegen diese Bestimmung keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

Solche werden auch von Grillberger, Österreichisches Sozialrecht2, 132 nicht vorgebracht. Nach seinen Ausführungen ist zu beachten, daß bis Ende 1996 ein Rechtsanspruch auf Pflegegeld nur in den Stufen 1 und 2 besteht. Höhere Stufen könne der zuständige Sozialversicherungsträger bis dahin als Träger von Privatrechten gewähren. Damit könnten Sozialleistungen nicht in den Formen des öffentlichen Rechtes, sondern des Privatrechtes erbracht werden. Das sei im Sozialrecht sonst nur bei der Sozialhilfe möglich. Der Wortlaut des § 4 Abs 4 BPGG lasse freilich offen, ob ein Rechtsanspruch selbst dann nicht bestehen solle, wenn der Sozialversicherungsträger eine Vereinbarung über die Gewährung des höheren Pflegegeldes mit dem Pflegebedürftigen abgeschlossen habe. Die allgemeinen zivilrechtlichen Regeln über den Abschluß von Verträgen und damit über die Entstehung von Verpflichtungen würden wohl auch hier zur Anwendung kommen.

Kuras, Das neue Pflegeleistungssystem, ZAS 1993, 161 (165) nimmt zur Verfassungsgemäßheit des § 4 Abs 4 BPGG ausdrücklich im bejahenden Sinn Stellung. Er führt aus, bis 1.1.1997 (richtig 31.12.1996) würden die Pflegegeldstufen 3 bis 7 von den Entscheidungsträgern nur im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung gewährt, ohne daß der Pflegebedürftige einen durchsetzbaren Rechtsanspruch hätte. Zur Erforderlichkeit dieser Einschränkung verweise die RV darauf, daß die zur Bewältigung des durch die Einführung des Pflegegeldes mit allen sieben Stufen erforderliche zusätzliche Zahl an Richtern mit Rücksicht auf die Ausbildungszeit von vier Jahren erst bis 1997 bereitgestellt werden könne. Durch die Übergangsvorschriften sei gewährleistet, daß die Bezieher bisheriger pflegebezogener Leistungen nicht in ihren Rechten beeinträchtigt würden. Durch die Zuerkennung des Rechtsanspruchs auf Pflegegeld der Stufe 2 könne auch nicht davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber das Vertrauen von Personen auf für die Zukunft eingeräumte Rechte ohne Vorliegen rechtfertigender Gründe enttäuscht hätte (VfGH 6.12.1990 VfSlg 12.568). Dabei sei zu berücksichtigen, daß Hilflosenzuschüsse, -zulagen etc zumeist nur Zuschüsse zu Pensionen und ähnlichen Leistungen darstellten, für die auch keine eigenen Beiträge eingehoben würden. Durch das BPGG sei also nicht ein gesamtes Leistungssystem aufgehoben, sondern nur in "Aspekten" (Zulagen) verändert und gleichzeitig ein neues, letztlich wesentlich umfangreicheres eigenes Leistungssystem für die "Aspekte" geschaffen worden. Auch der Charakter der Bestimmung als eine unter der Devise "Das Bessere soll der Feind des Guten nicht sein" geschaffene Übergangsregelung (vgl VfGH 15.3.1991 VfSlg 12.691) sei zu berücksichtigen (FN 37).

Pfeil, Probleme des Bundespflegegeldgesetzes, DRdA 1993, 181 weist zunächst darauf hin, daß das BPGG erst am 1.1.1997 seine volle Wirksamkeit entfalten werde, weil für den im Hinblick auf Einstufungsstreitigkeiten zu erwartenden Arbeitsanfall bei den Arbeits- und Sozialgerichten Vorsorge getroffen werden müsse (191 s FN 61). Im P V. 3. (die Sonderregelung des § 4 Abs 4) seines Aufsatzes vermutet dieser Autor sodann, diese Gesetzesstelle dürfte wohl neben der "Vernachlässigung" der Sach- und Dienstleistungsebene die meisten Diskussionen hervorrufen. Aus den schon genannten Gründen bestehe bis 31.12.1996 nur ein Rechtsanspruch auf Pflegegeld der Stufen 1 und 2. Der Differenzbetrag zu einer allenfalls - nach Maßgabe des § 4 Abs 3 - gebührenden höheren Stufe sei bis dahin vom jeweils zuständigen SV-Träger bzw Bund lediglich als Träger von Privatrechten zu gewähren. (Die mehrfache Betonung des Fehlens eines durchsetzbaren Rechtsanspruches solle der Klarstellung in verfassungsrechtlicher Hinsicht dienen [FN 92]). Daher hätten über den Differenzbetrag auch keine Bescheide, sondern bloße Mitteilungen zu ergehen, und sei auch der Rechtsweg ausgeschlossen. Die Durchsetzung eines höheren Pflegegeldes als nach Stufe 2 sei somit gänzlich verwehrt. Damit sei auch einem Rekurs auf das Institut der Auslobung oder auf eine längere gleichförmige Verwaltungspraxis, auf Grund welcher doch ein - bei den ordentlichen Gerichten - durchsetzbarer "privatrechtlicher Anspruch" entstehen könnte, jeder Boden entzogen. Auch wenn nach dem Wortlaut des § 4 Abs 4 der Differenzbetrag vom SV-Träger bzw dem Bund zu gewähren sei, folge daraus nur eine - allenfalls im Wege der Aufsichtsbeschwerde oder disziplinarrechtlich sanktionierbare - Verpflichtung der jeweiligen Organwalter. Das Vorliegen einer Leistungspflicht, die nicht durchgesetzt werden könne, erinnere an eine Naturalobligation. Pfeil meint, daß es rechtspolitisch vielleicht besser gewesen wäre, für die Übergangszeit, deren Notwendigkeit grundsätzlich durchaus einleuchte, zunächst nur ein gröber differenzierendes (etwa mit den jetzigen Stufen 1, 2 und 4), aber durchwegs mit Rechtsansprüchen ausgestattetes System vorzusehen, das dann - allenfalls auch sukzessive - feinmaschiger ausgestaltet hätte werden können (194, 195). Seine Ausführungen lassen jedoch keine Bedenken gegen die Verfassungsgemäßheit der Übergangsregelung erkennen.

Im Dritten Teil seines in Druck befindlichen Werkes "Pflegebedürftigkeit als Rechtsproblem" setzt sich Pfeil eingehend mit der Frage der Verfassungsgemäßheit des § 4 Abs 4 BPGG auseinander (Abschnitt 2 V 2.2.). Er bezeichnet das Rechtsschutzdefizit zwar als "gewiß sozialpolitisch fragwürdig", hält es aber nicht für verfassungswidrig. Gegen eine Verletzung des Gleichheitssatzes sprächen mehrere sachliche Gründe: Da die Stufe 2 des Pflegegeldes als funktionale Fortsetzung des Hilfslosenzuschusses angesehen werden könne, handle es sich dabei um jenen "durchschnittlichen Regelfall", von dem lediglich ausnahmsweise - hier im Hinblick auf die (sofortige) Durchsetzbarkeit der betreffenden (höheren) Leistungen abzuweichen iS der stRsp des Verfassungsgerichtshofes nicht unsachlich wäre (zB VfSlg 8.204; 11.469; 11.615; 11.665; 12.154; 12.642). Vor allem sei zu bedenken, daß die Frist nach deren Ablauf auch die höheren Pflegegeldstufen mit einem Rechtsanspruch ausgestattet sein werden, mit dreieinhalb Jahren doch relativ kurz bemessen sei. Der Verfassungsgerichtshof habe ausdrücklich festgestellt, daß erhebliche Kosten der Verwirklichung eines Zieles und die technischen Schwierigkeiten einer sofortigen Angleichung die vorübergehende Hinnahme einer Ungleichbehandlung nahelegen könnten bzw daß Ungleichbehandlungen vorübergehend als sachlich anzusehen seien, die wenigstens in Richtung eines Abbaues allfälliger Unterschiede gingen (zB VfSlg 6.365; 8.871; 12.154). Weiters sei zu beachten, daß die Gewährung von die Stufe 2 übersteigenden Pflegegeldern als solche keineswegs dem Belieben der betreffenden Träger überlassen worden sei. Diese würden vielmehr dazu an sich verpflichtet (arg "gebührt" im § 4 Abs 3 erster Halbsatz BPGG bzw "ist zu gewähren" im § 4 Abs 4 erster Satz zweiter Halbsatz leg cit), so daß es wohl nur in einzelnen Fällen zu Härten kommen dürfte. Stünden im Grunde nur neue Leistungen bzw deren Durchsetzbarkeit in Frage, seien ohne Zweifel auch wesentlich großzügigere Maßstäbe anzulegen als bei Übergangsfristen, durch die allzu abrupte Eingriffe in sogenannte "wohlerworbene Rechte" vermieden werden sollen. Schließlich sollte nicht völlig unberücksichtigt bleiben, daß die fragliche Frist zum Zeitpunkt einer allfälligen Prüfung durch den Verfassungsgerichtshof noch deutlich kürzer sein werde. Letzte Zweifel im Zusammenhang mit Art 7 Abs 1 B-VG müßten jedoch bei Betrachtung des eigentlichen Grundes der Differenzierung, nämlich dem derzeitigen Fehlen einer ausreichenden Zahl von (entsprechend ausgebildeten) Richtern, beseitigt sein. Diese "technischen" Schwierigkeiten könnten grundsätzlich als sachliche Rechtfertigung für die bloß stufenweise Umsetzung der Reform angesehen werden. Diesbezüglich könnte auch zu beachten sein, daß der einfache Gesetzgeber nach Art 6 Abs 1 MRK verpflichtet sei, für ädäquate Verfahrensbedingungen zu sorgen. Aus diesem Art der MRK seien daher sogar Argumente für die sachliche Rechtfertigung der Differenzierung in § 4 Abs 4 BPGG zu gewinnen. Der Ausschluß der Durchsetzbarkeit bzw Überprüfbarkeit von Pflegegeldern der Stufen 3 bis 7 sei - unabhängig davon, ob man das Pflegegeld als "civil right" ansehe oder nicht - eindeutig keine Verletzung dieser Verfassungsbestimmung. Diese setze nämlich stets das Vorliegen subjektiver Rechte voraus. Genau diese habe der Gesetzgeber aber vorerst hinsichtlich über die Stufe 2 hinausgehender Pflegegelder ganz offenkundig ausschließen wollen.

Nach Marhold, Neuregelung des Pflegeproblems in Österreich, Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht 1993, 309 (312f) sieht § 4 Abs 4 BPGG vor, daß ein Rechtsanspruch auf das Pflegegeld nur in Höhe der Stufen 1 und 2 ab 1.7.1993 besteht. Bis zum 31.12.1996 gewähre der zuständige Sozialversicherungsträger oder der Bund das höhere Pflegegeld ... nach den Stufen 3 bis 7 nur als Träger von Privatrechten, ohne daß ein Rechtsanspruch auf diesen Differenzbetrag bestünde. Verfassungsrechtliche Bedenken hegt Marhold allerdings nur im Zusammenhang mit den Ausgleichen iS des § 44 BPGG. Er meint nämlich, § 4 Abs 4 letzter Satz leg cit wäre auch auf zu leistende Ausgleiche iS des § 44 anzuwenden.

Generelle verfassungsrechtliche Bedenken gegen die insbesondere durch § 4 Abs 4 BPGG bewirkte Einschränkung des Rechtsschutzes wurden bisher in der Fachliteratur nur von zwei Autoren geäußert:

Geppert, Pflegevorsorge, SozSi 1993, 347 (348) meint, daß nach der österreichischen Verfassungslage einschließlich der EMRK mit ihrem Grundsatz vom Schutz durch den gesetzlichen Richter ein verfassungsrechtlich verbriefter Anspruch auf Rechtsschutz durch unabhängige Richter bestehe. Infolgedessen hätte die Justizverwaltung rechtzeitig vor dem Inkrafttreten des BPGG entsprechende Vorsorgen treffen müssen. Die dabei in Kauf genommene Verzögerung, ein juristisches Austriacum, werde im Falle ihrer Bekämpfung vor dem Verfassungsgerichtshof angesichts unserer Verfassungsrechtslage wohl kaum Bestand haben können.

Tomandl, SV-System 7. ErgLfg, der die Neuordnung durch das BPGG grundsätzlich als gelungen bezeichnet (342), nimmt von dieser Einschätzung nur den Rechtsübergang zum neuen Recht aus (343). Bisherige Bezieher des Hilflosenzuschusses erhielten das Pflegegeld der Stufe 2. Den übrigen Anspruchsberechtigten sei bis Ende 1996 ein Rechtsanspruch nur auf die Stufen 1 und 2 eingeräumt. Ein Rechtsanspruch auf ein Pflegegeld ab der Stufe 3 bestehe erst ab 1997. Die Leistungserbringer seien aber (in ihrer Eigenschaft als Träger von Privatrechten) berechtigt, ein höheres Pflegegeld faktisch zu gewähren. Diese Übergangsregelung werde in der RV - in einer rechtsstaatlichen Erfordernissen widersprechenden und daher wohl verfassungswidrigen Weise - mit einem Mangel an ausgebildeten Richtern begründet.

Gruber-Pallinger, Kommentar zum BPGG § 4 Rz 66 ff verneinen die Frage, ob die Einschränkung der Klagemöglichkeit auf die Stufen 1 und 2 gegen den Gleichheitsgrundsatz, das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter oder die MRK verstoße, aus folgenden Überlegungen:

Nach der Judikatur des VfGH dürften Personen im Vertrauen auf das Weiterbestehen gesetzlich eingeräumter Rechte nicht ohne Vorliegen ganz besonderer rechtfertigender Gründe enttäuscht werden. Der Gesetzgeber verletze den Gleichheitsgrundsatz dann, wenn er bei Änderung der Rechtslage plötzlich und intensiv in erworbene Rechtspositionen eingreife (VfSlg 12.568). Eine solche Verletzung sei hier nicht anzunehmen, weil die Hilflosenzuschüsse und die vergleichbaren - nun durch das Pflegegeld ersetzten Leistungen bis auf wenige Ausnahmen betraglich unter dem Pflegegeld der Stufe 2 gelegen seien und gemäß § 38 BPGG anstelle der bisherigen pflegebezogenen Leistungen ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 gebühre. Insoweit bisher ein Anspruch auf eine höhere Leistung bestanden habe, sie diese auch ab 1.7.1993 gemäß § 44 leg cit durch einen einklagbaren Ausgleich gesichert.

Der Verfassungsgerichtshof habe etappenweise Änderungen wiederholt als sachlich gerechtfertigt beurteilt (VfSlg 12.154;12.691).

Auch wenn auf Gewährung eines Pflegegeldes der Stufen 3 bis 7 (noch) kein Rechtsanspruch bestehe, seien die Entscheidungsträger verhalten, bei Zutreffen der Voraussetzungen solche Pflegegelder zu gewähren. Die Revisionsrekurswerberin hält § 4 Abs 4 BPGG aus mehreren Gründen für verfassungswidrig. Erstens bestehe zwischen dem 2. Halbsatz, nach dem in der Zeit ab 1.7.1993 bis zum 31.12.1996 bei Vorliegen der Voraussetzungen der Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe vom zuständigen Sozialversicherungsträger oder vom Bund (Entscheidungsträger gemäß § 22) zu gewähren ist, und dem 2. Satz, nach dem ein Rechtsanspruch auf diesen Differenzbetrag nicht besteht, ein klarer Widerspruch. Zweitens verstoße der Ausschluß des Rechtsweges gegen das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht auf den gesetzlichen Richter.

Der Oberste Gerichtshof hat gegen die Anwendung insbesondere des § 4 Abs 4 BPGG aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit keine Bedenken. Er hat daher beim Verfassungsgerichtshof keinen Antrag auf Aufhebung dieser Gesetzesstelle nach Art 89 Abs 2 B-VG zu stellen.

Nach § 19 ABGB steht es jedem, der sich in seinem Rechte gekränkt zu sein erachtet, frei, seine Beschwerde vor der durch die Gesetze bestimmten Behörde anzubringen. Gemäß Art 83 Abs 2 B-VG darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Laut Art 6 Abs 1 Satz 1 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten 4.11.1950 BGBl 1958/210 (MRK) hat jedermann Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen... zu entscheiden hat. Nach Art 7 Abs 1 B-VG sind alle Bundesbürger vor dem Gesetz gleich.

Diese Grundsätze werden durch § 4 Abs 4 BPGG nicht verletzt. Daß es jedem, der sich in seinem Rechte gekränkt zu sein erachtet, nach § 19 ABGB freisteht, seine Beschwerde vor der durch die Gesetze bestimmten Behörde anzubringen, bedeutet nur, daß jedes (behauptete) Recht grundsätzlich behördlich geltend gemacht werden kann, aber nicht notwendig, daß es klagbar sein muß. Nach österreichischem Recht dedarf es daher im Gegensatz zum römischen Recht nicht einer besonderen actio, damit man es geltend machen kann. Es bedarf vielmehr einer besonderen gesetzlichen Bestimmung, um die Geltendmachung auszuschließen (Wolff in Klang2 I/1, 141f). Nach österreichischem Recht sind nicht alle Schulden mit der Möglichkeit zwangsweiser Durchsetzung ausgestattet. Es gibt sog natürliche oder unvollkommene Verbindlichkeiten (Naturalobligationen), die nicht erzwungen werden können. Der Mangel der Durchsetzbarkeit ändert aber nichts daran, daß der Naturalschuldner wirklich schuldet. Erbringt er die Leistung, dann hat er seine Verbindlichkeit erfüllt und kann das Geleistete nicht etwa mit der Begründung zurückverlangen, der Gläubiger hätte keinen Anspruch gehabt. Das ergibt sich aus § 1432 ABGB, nach dem Zahlungen..., zu deren Eintreibung das Gesetz bloß das Klagerecht versagt, ebensowenig zurückgefordert werden können, "als wenn jemand eine Zahlung leistet, von der er weiß, daß er sie nicht schuldig ist". Da der Naturalschuldner mit der Leistung seine Schuld tilgt, ist im Erfüllungsakt auch keine Schenkung zu erblicken. Als Beispiel einer Naturalobligation nach dem ABGB seien Wett- und Spielschulden genannt. Redliche und sonst erlaubte Wetten und Spiele sind nach den §§ 1271 und 1272 ABGB nämlich insoweit verbindlich, als der bedungene Preis nicht bloß versprochen, sondern wirklich entrichtet oder hinterlegt worden ist. "Gerichtlich kann der Preis (aber) nicht gefordert werden".(Zur Frage der Naturalobligationen vgl zB Koziol-Welser, Grundriß des bürgerlichen Rechts9 I 200f; Rummel in Rummel, ABGB2 I, Rz 12 zu § 859 mwN; Krejci in Rummel II, Rz 69 und 73 zu den §§ 1267-1274; Rummel in Rummel II Rz 1 und 2 zu § 1432).

Daß nach § 4 Abs 4 2. Halbsatz BPGG in der Zeit ab 1.7.1993 bis zum 31.12.1996 bei Vorliegen der Voraussetzungen der Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe vom zuständigen Entscheidungsträger zu gewähren ist, auf den Differenzbetrag nach dem

2. Satz dieses Abs aber kein Rechtsanspruch besteht und nach dem 3. Satz dieses Abs die Bestimmungen des BPGG mit der Maßgabe anzuwenden sind, daß keine Bescheide, sondern lediglich Mitteilungen zu ergehen haben und der Rechtsweg ausgeschlossen ist, steht miteinander weder in einem Widerspruch, noch verstoßen sie gegen verfassungsrechtliche Grundsätze.

Aus der "eigentümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhange und aus der klaren Absicht des Gesetzgebers" (§ 6 ABGB) ist § 4 Abs 4 BPGG vielmehr so auszulegen, daß in der Zeit ab 1.7.1993 bis zum 31.12.1996 bei Vorliegen der Voraussetzungen der Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe vom Entscheidungsträger nur als Naturalobligation im oben dargelegten Sinn zu gewähren ist, über die keine Bescheide, sondern lediglich Mitteilungen zu ergehen haben und der Rechtsweg ausgeschlossen ist. Unter Rechtsanspruch iS der auszulegenden Gesetzesstelle ist hingegen in der Zeit ab 1.7.1993 bis zum 31.12.1996 ein Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufen 1 und 2 und ab dem 1.1.1997 auch auf das Pflegegeld in Höhe der Stufen 3 bis 7 zu verstehen, über den (dann) Bescheide zu ergehen haben werden und der Rechtsweg zulässig sein wird.

Dadurch, daß der Rechtsweg hinsichtlich eines Differenzbetrages zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe in der Zeit ab 1.7.1993 bis zum 31.12.1996 gesetzlich ausgeschlossen ist, wird niemand seinem gesetzlichen Richter iS des Art 83 Abs 2 B-VG entzogen. Der verfügte Ausschluß des Rechtsweges im genannten Zeitraum verstieße aber - selbst wenn es sich bei dem erwähnten Differenzbetrag um einen zivilrechtlichen Anspruch oder eine solche Verpflichtung ("civil rights and obligations" bzw "droits et obligationes de caractere civil") iS dieses Art handelte - auch nicht gegen Art 6 Abs 1 MRK. Dieser Art will nämlich keine neuen Rechte schaffen, sondern nur jenen Rechten einen Verfahrensschutz erhalten, die bereits innerstaatlich als Recht anerkannt werden. Die Anwendung dieser Bestimmung setzt also voraus, daß das Recht innerstaatlich gewährt wird. Ein solches Recht besteht dann aber nicht, wenn generell in einem Bereich die gerichtliche Durchsetzung ausgeschlossen wird (Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (1993) 225f mit Entscheidungsnachweisen in den FN 13ff, Pfeil, Pflegebedürftigkeit aaO 2.2.3).

Abschließend ist zu betonen, daß es sich bei den Bestimmungen des § 4 Abs 4 BPGG über den Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe in der Zeit ab 1.7.1993 bis zum 31.12.1996 um Übergangsbestimmungen handelt, die zur Vermeidung einer nicht zu verantwortenden Überlastung der Arbeits- und Sozialgerichte aller Instanzen getroffen wurden und dazu auch geeignet sind. Daß Personen, denen ein Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe zu gewähren ist, während des Zeitraumes von 3,5 Jahren darauf keinen Rechtsanspruch haben und Rechtsweg nicht beschreiten können, macht diese sachgerechte und maßvolle Übergangsregelung nicht verfassungswidrig (vgl Kuras aaO 165 und die in der FN 37 zit Rsp des Verfassungsgerichtshofes; Pfeil, Pflegebedürftigkeit aaO 2.2.2). Der Gesetzgeber hätte den ihm von Verfassungs wegen eingeräumten rechtspolitischen Spielraum selbst dann nicht überschritten, wenn er Pflegegeld in Höhe der Stufen 3 bis 7 überhaupt erst ab 1.1.1997 eingeführt hätte. Deshalb kann es auch nicht verfassungswidrig sein, wenn er für eine Übergangszeit diesbezüglich nur einen nichtklagbaren Anspruch einräumt.

Da der angefochtene Beschluß der verfassungsrechtlich unbedenklichen und daher anzuwendenden Gesetzeslage entspricht, ist er zu bestätigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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