OGH 10ObS17/17y

OGH10ObS17/17y21.3.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Herbert Bauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*****, vertreten durch Dr. Christian Ortner, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Weitergewährung der Berufsunfähigkeitspension, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 20. Dezember 2016, GZ 25 Rs 112/16f‑37, womit das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 19. Oktober 2016, GZ 42 Cgs 156/15f‑32, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00017.17Y.0321.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten der Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Begründung

Die am 25. 12. 1980 geborene Klägerin verfügt über keine abgeschlossene Lehrausbildung. Sie arbeitete von November 1997 bis August 1998 im Rahmen ihres Lehrverhältnisses als Lehrling in Österreich. Danach wurde ihr Krankengeld, Arbeitslosengeld und Notstandshilfe gewährt. Von 1. 8. 2001 bis 30. 4. 2015 bezog sie durchgehend eine von der beklagten Partei mehrfach befristet gewährte Berufsunfähigkeitspension. Auch derzeit ist die Klägerin arbeitsunfähig. Unter der Voraussetzung, dass sie sich zusätzlich zur Drogen-Substitutionsbehandlung einer zumutbaren psychiatrisch‑psychotherapeutischen Behandlung unterzieht, ist mit einer kalkülsrelevanten Besserung der bestehenden Leiden ab Mai 2017 zu rechnen.

Unstrittig ist, dass die Klägerin seit 1. 3. 2013 in der Bundesrepublik Deutschland wohnhaft ist und sie ausschließlich in Österreich Pensionsversicherungszeiten erworben hat.

Mit Bescheid vom 14. 6. 2015 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin auf Weitergewährung der bis 30. 4. 2015 befristet zuerkannten Berufsunfähigkeitspension mit der Begründung ab, dass Berufsunfähigkeit nicht dauerhaft vorliege. Ab 1. 4. 2015 sei jedoch vorübergehende Berufsunfähigkeit gegeben, weshalb als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten sei. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig. Aus der Begründung des Bescheids ergibt sich, dass grundsätzlich Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der gesetzlichen österreichischen Krankenversicherung bestehe. Leistungszuständig sei aber nicht die österreichische, sondern die gesetzliche deutsche Krankenversicherung.

Das Erstgericht wies das Begehren auf unbefristete Gewährung der Berufsunfähigkeitspension über den 30. 4. 2015 hinaus ab. Es sprach aus, dass ab 1. 5. 2015 vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliege, dass als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten sei und die Klägerin ab 1. 5. 2015 für die weitere Dauer der vorübergehenden Berufsunfähigkeit Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der österreichischen Krankenversicherung im gesetzlichen Ausmaß habe. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und ließ die Revision zu.

Rechtliche Beurteilung

Die von der Klägerin beantwortete Revision der beklagten Partei ist mangels einer erheblichen Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

1. Im Revisionsverfahren strittig ist nur noch die Frage der Exportfähigkeit des Rehabilitationsgeldes ins EU‑Ausland.

Der Oberste Gerichtshof hat zu dieser Frage in der am 20. 12. 2016 zu AZ 10 ObS 133/15d ergangenen Entscheidung, die am 30. 1. 2017 im Rechtsinformationssystem des Bundeskanzleramts veröffentlicht wurde (somit erst nach Einbringung der vorliegenden Revision) ausführlich Stellung genommen.

Nach dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hatte die dortige Klägerin in Österreich Versicherungszeiten erworben, dann von der beklagten Partei eine befristete Invaliditätspension bezogen, an die der Rehabilitationsgeldbezug unmittelbar anschließen sollte. Der Wohnsitz der Klägerin lag – jedenfalls bei Antragstellung auf Weitergewährung – im EU‑Ausland (in der Bundesrepublik Deutschland).

Der Oberste Gerichtshof kam zusammengefasst zu folgenden Ergebnissen:

1.1. Im Kontext der Sozialrechtskoordinierung stellt das Rehabilitationsgeld eine Geldleistung bei Krankheit im Sinne des Art 3 Abs 1 lit a der VO (EG) 883/2004 dar. Diese Einordnung als Geldleistung bei Krankheit hat Auswirkungen auf die unionsrechtliche Leistungszuständigkeit nach der VO 883/2004 .

1.2. Grundsatz der Koordinierungsregelungen der VO 883/2004 ist nach ihrem Artikel 11 Abs 1, dass Personen, für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegen.

1.3. Welche Rechtsvorschriften anwendbar sind, bestimmt sich zunächst nach den Sonderkollisionsnormen der Titel III und V der VO 883/2004 , dann nach den Bestimmungen in Art 12–16 und schließlich nach Art 11 Abs 3 der VO 883/2004 .

2.1. Ist an sich der ausländische Wohnsitzmitgliedstaat für die Erbringung der Leistung bei Krankheit zuständig, ist allerdings der Sondercharakter des Rehabilitationsgeldes zu beachten, das nicht eindeutig den Leistungen bei Krankheit bzw die Leistungen bei Invalidität zugeordnet werden kann (vgl EuGH 30. 6. 2011, C‑388/09, da Silva Martins, Rz 48, zum deutschen Pflegegeld). Diese Charakterisierung kann zu einer Leistungspflicht (auch Exportpflicht) des nach den Bestimmungen der VO 883/2004 nicht leistungszuständigen Mitgliedstaats führen.

2.2. Die Annahme einer alleinigen Zuständigkeit des ausländischen Wohnsitzmitgliedstaats und der damit einhergehende Leistungsverlust trotz bereits im Inland erworbener Versicherungszeiten kann nämlich in bestimmten Fällen die primärrechtlich verbürgte unionsrechtliche Freizügigkeit beschränken. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art 45 ff AEUV oder der allgemeinen Freizügigkeit von Unionsbürgern gemäß Art 18 ff AEUV handelt (EuGH 21. 7. 2011, C‑503/09, Stewart, Rz 77 ff).

2.3. Der EuGH stellt darauf ab, ob die Leistung mit Sondercharakter eine begünstigende Gegenleistung für die in einem bestimmten Mitgliedstaat (hier: Österreich) in ein separates Versicherungssystem eingezahlten Versicherungsbeiträge darstellt. Der Sondercharakter führt (nur) dann zur Leistungszuständigkeit dieses Mitgliedstaats, wenn die betroffene Person diese Vergünstigung deshalb verliert, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem sie ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt. Eine Beschränkung der Freizügigkeit wird insbesondere dann vorliegen, wenn der aktuelle Wohnsitzmitgliedstaat keine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Leistung kennt.

3. In diesem Sinn ist im Einzelfall zu prüfen, ob ein primärrechtlich fundierter Exportanspruch gegeben ist.

3.1. Das Rehabilitationsgeld ist eine Vergünstigung, die eine Gegenleistung für die vom Versicherten in Österreich entrichteten Pensions-versicherungsbeiträge darstellt. Aufgrund des Sondercharakters des Rehabilitationsgeldes ist im Zuständigkeitswechsel und Leistungsverlust allein durch die Wohnsitzverlegung eine Beschränkung der primärrechtlichen Freizügigkeit zu sehen. Der Leistungsverlust wäre auf die Inanspruchnahme der Freizügigkeit zurückzuführen. Der Wohnsitzmitgliedstaat Deutschland kennt keine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Geldleistung. Die Nahebeziehung zum österreichischen System der sozialen Sicherheit ist durch die erworbenen Versicherungszeiten sowie durch den Bezug einer befristeten Invaliditäts‑ bzw Berufsunfähigkeitspension dokumentiert.

3.2. Um die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, ist der Umstand, dass der Versicherte Versicherungszeiten in Österreich erworben hat, deretwegen überhaupt erst Anspruch auf Rehabilitationsgeld besteht, in die Beurteilung der Leistungszuständigkeit einzubeziehen. Da das Rehabilitationsgeld als Leistung zwischen Krankheit und Invalidität einzuordnen ist und die Anknüpfung an erworbene Versicherungszeiten den Bestimmungen über Leistungen bei Invalidität entspricht, sind diese Bestimmungen bei der Prüfung der Zuständigkeit für die einzelnen Versicherungszeiten zu beachten.

3.3. Um den Leistungsverlust zu verhindern und die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, haben dem Versicherten die Regeln der Art 45 ff iVm Art 50 ff VO 883/2004 zugute zu kommen. Erfüllt er die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für das Rehabilitationsgeld nach nationalem Recht, ist dieses nach Art 21 Abs 1 der VO 883/2004 in die Bundesrepublik Deutschland zu exportieren.

4.1. Diese Aussagen treffen auch auf den vorliegenden Fall zu.

4.2. Demnach ist auch im vorliegenden Fall für die Klägerin die Zuständigkeit ihres im EU-Ausland gelegenen Wohnsitzstaats (der Bundesrepublik Deutschland) für Geldleistungen bei Krankheit gegeben, sodass grundsätzlich kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld gegeben wäre. Im Hinblick auf den Sondercharakter des Rehabilitationsgeldes kann aber auf die in der Entscheidung 10 ObS 133/15d enthaltenen Aussagen verwiesen werden. Um den Leistungsverlust zu verhindern und die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, ist unter Anwendung der Art 45 ff iVm Kapitel 5 der VO 883/2004 an die in Österreich erworbenen Versicherungszeiten anzuknüpfen. Da die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen für das Rehabilitationsgeld nach nationalem Recht erfüllt, ist dieses nach Art 21 Abs 1 VO 883/2004 in die Bundesrepublik Deutschland zu exportieren.

5. Eine zur Zeit der Einbringung des Rechtsmittels tatsächlich erhebliche Rechtsfrage fällt weg, wenn sie durch eine andere Entscheidung des Obersten Gerichtshofs – hier durch die Entscheidung 10 ObS 133/15d – mittlerweile geklärt wurde (RIS‑Justiz RS0112921 [T5]).

Die Revision war daher zurückzuweisen.

6. Zum Zeitpunkt der Einbringung der Revisionsbeantwortung war die Entscheidung 10 ObS 133/15d bereits veröffentlicht. Dennoch hat die Klägerin – nicht einmal inhaltlich – die Unzulässigkeit der Revision geltend gemacht, weshalb ihr für die Revisionsbeantwortung kein Kostenersatz gebührt (RIS‑Justiz RS0035962).

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