European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130633
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das klageabweisende Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 209,39 EUR an Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 34,90 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Der Kläger ist ein 1944 geborener deutscher Staatsangehöriger, der eine monatliche Rente von 445,30 EUR netto aus der deutschen Rentenversicherung bezieht. Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob er zur Begründung seines Anspruchs auf Ausgleichszulage einen auf Art 8 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege, BGBl 1969/258 (in der Folge nur: „FürsorgeAbk“) gegründeten Aufenthalt als rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland (§ 292 Abs 1 ASVG) geltend machen kann.
[2] Kein Thema des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob der Kläger allenfalls bereits ein Recht auf Daueraufenthalt nach Art 16 Abs 1 der Richtlinie 2004/38/EG (UnionsbürgerRL, auch FreizügigkeitsRL) erworben hat; auf dieses Thema ist daher nicht weiter einzugehen.
[3] Der Kläger war ab 2004 – mit Ausnahme eines Auslandsaufenthalts von 21. 8. 2019 bis 28. 8. 2019 – in Österreich aufhältig. Sein Lebensunterhalt wurde von seiner Lebensgefährtin finanziert. Seit 26. 3. 2018 ist er im Besitz einer unbefristeten Anmeldebescheinigung gemäß § 51 Abs 1 Z 2 NAG, die aufgrund der (weiteren) Zusicherung von Unterhaltsleistungen der Lebensgefährtin ausgestellt worden war. Danach bestand der gemeinsame Haushalt des Klägers mit seiner Lebensgefährtin aber nur mehr bis 15. 9. 2019; damals musste er die gemeinsame Wohnung verlassen. Seit 1. 10. 2019 bezieht der Kläger bedarfsorientierte Mindestsicherung.
[4] Mit Bescheid vom 5. 11. 2019 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 19. 9. 2019 auf Gewährung der Ausgleichszulage mit der Begründung ab, dass kein rechtmäßiger Aufenthalt im Inland vorliege.
[5] In seiner Klage bringt der Kläger vor, aufgrund von Art 8 des FürsorgeAbk dürfe einem deutschen Staatsbürger, der sich ununterbrochen mehr als ein Jahr lang in Österreich aufgehalten habe, der weitere Aufenthalt nicht allein aus dem Grund der Hilfsbedürftigkeit versagt werden. Bei einer Abwesenheit bis zur Dauer eines Monats gelte der Aufenthalt gemäß Art 9 Abs 2 des FürsorgeAbk als nicht unterbrochen. Da er diese – von Art 8 und 9 des FürsorgeAbk verlangten – Voraussetzungen erfülle, habe er nach wie vor einen rechtmäßigen Aufenthaltsstatus in Österreich, weshalb ihm Ausgleichszulage zustehe.
[6] Die Beklagte wendete zusammengefasst ein, ab dem Zeitpunkt des Wegfalls der Unterhaltsleistungen der Lebensgefährtin sei der Kläger zur Bestreitung seines Lebensunterhalts auf Sozialleistungen (die Ausgleichszulage) angewiesen. Sein Aufenthalt in Österreich sei daher nicht rechtmäßig.
[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Mit dem Wegfall der von der Lebensgefährtin des Klägers erbrachten Leistungen lägen ab 15. 9. 2019 die Voraussetzungen für ein auf § 51 Abs 1 Z 2 NAG gestütztes Aufenthaltsrecht des Klägers im Bundesgebiet nicht mehr vor. Die in Art 2 des FürsorgeAbk vereinbarte Gleichbehandlungspflicht deutscher und österreichischer Staatsbürger umfasse nur die Gebiete der Fürsorge- und Jugendwohlfahrtspflege. Die Ausgleichszulage sei jedoch – ungeachtet ihrer fürsorgeähnlichen Züge – eine (Annex‑)Leistung aus der gesetzlichen Pensionsversicherung. Auch ein rechtmäßiger bzw erlaubter Aufenthalt eines deutschen Staatsbürgers nach Art 8 des FürsorgeAbk komme nur im Anwendungsbereich dieses Abkommens in Betracht. Der nicht erwerbstätige Kläger, der nur mehr im Zusammenhang mit einem Sozialleistungsbezug innerhalb der Europäischen Union bzw des Europäischen Wirtschaftsraums mobil sei, habe daher weder auf der Grundlage des Unionsrechts noch nach innerstaatlichem Recht Anspruch auf Ausgleichszulage.
[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und änderte das Urteil des Erstgerichts dahin ab, dass es die Ausgleichszulage von 1. 10. bis 31. 12. 2019 in Höhe von 432,17 EUR brutto, von 1. 1. bis 30. 6. 2020 in Höhe von 465,76 EUR brutto und ab 1. 7. 2020 in Höhe von 448,49 EUR brutto zusprach. Auch wenn der Kläger ab 15. 9. 2019 die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht nach § 51 NAG bzw Art 7 RL 2004/38/EG nicht mehr erfülle, sei bei der Prüfung, ob ihm als deutschen Staatsangehörigen nach den fremden- bzw aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen ein Aufenthaltsrecht in Österreich zukomme, Art 8 des FürsorgeAbk zu berücksichtigen. Art 8 sei als Einschränkung der pass- und fremdenrechtlichen Bestimmungen zu verstehen und werde nach der maßgeblichen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs – unabhängig von einem Bezug zu den vom FürsorgeAbk erfassten Leistungen – als fremden- bzw aufenthaltsrechtliche Bestimmung verstanden, die den Aufenthalt des Hilfsbedürftigen rechtmäßig mache, wenn er ansonsten (allein) aufgrund seiner Hilfsbedürftigkeit unrechtmäßig wäre. Da sich der Kläger vor der Antragstellung seit mehr als einem Jahr in Österreich aufgehalten habe (die Unterbrechung von acht Tagen im August 2019 habe außer Betracht zu bleiben) seien die Voraussetzungen des Art 8 Abs 1 des FürsorgeAbk erfüllt und der Aufenthalt des Klägers trotz seiner Hilfsbedürftigkeit rechtmäßig, weshalb sein Anspruch auf Ausgleichszulage zu bejahen sei. Darauf, ob die Ausgleichszulage vom Anwendungsbereich des FürsorgeAbk umfasst sei, komme es nicht an.
[9] Das Berufungsgericht ließ die Revision nicht zu, weil die Frage des Aufenthaltsrechts nach Art 8 FürsorgeAbk bereits in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs geklärt worden sei.
[10] Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei.
[11] Der Kläger erstattete von sich aus – noch vor der in § 508 Abs 2 Satz 1 ZPO vorgesehenen Mitteilung – eine Revisionsbeantwortung.
[12] Die Revision ist zulässig und im Sinn der Wiederherstellung des das Klagebegehren abweisende Urteils des Erstgerichts auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[13] 1. Gemäß § 292 Abs 1 ASVG hat der Pensionsberechtigte bei Erfüllung der weiteren Voraussetzungen Anspruch auf Ausgleichszulage, „solange er seinen rechtmäßigen, gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat“. Durch das Abstellen auf den „rechtmäßigen Aufenthalt“ soll ein Gleichklang der Ausgleichszulagenregelung mit dem europäischen und österreichischen Aufenthaltsrecht hergestellt werden (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 206; 10 ObS 188/13i).
[14] 2. Dem Standpunkt des Klägers, die Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts iSd § 292 Abs 1 ASVG lasse sich aus Art 8 des FürsorgeAbk ableiten, hält die Beklagtein ihrer Revision zusammengefasst entgegen, die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nach Art 8 des FürsorgeAbk lasse sich nicht auf die Frage übertragen, ob ein rechtmäßiger Aufenthalt iSd § 292 Abs 1 ASVG als Voraussetzung für den Anspruch auf Ausgleichszulage vorliege.
[15] 3. Dazu ist auszuführen:
[16] 3.1 Beim Fürsorgeabkommen BGBl 1969/258 handelt es sich um einen – unionsrechtlichen Bestimmungen vorgehenden – unmittelbar anwendbaren völkerrechtlichen Vertrag, der eine unmittelbare Grundlage für innerstaatliche Vollzugsakte darstellt (VwGH Ra 2018/10/0149).
[17] 3.2 In seinem Teil II trifft das FürsorgeAbk Regelungen über die Gewährung von Fürsorge- und Jugendwohlfahrtspflege. Art 2 Abs 1 gewährt Staatsangehörigen der einen Vertragspartei, die sich im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei aufhalten, Fürsorge- und Jugendwohlfahrtspflege in gleicher Weise, in gleichem Umfang und unter den gleichen Bedingungen wie den Staatsangehörigen des Aufenthaltsstaats. Unter dem Begriff der „Fürsorge“ sind Geld-, Sach-, Beratungs-, Betreuungs- und sonstige Hilfeleistungen aus öffentlichen Mitteln zu verstehen, die zur Deckung und Sicherung des Lebensbedarfs für Personen dienen, die keine andere Voraussetzung als die der Hilfsbedürftigkeit zu erfüllen haben (Art 1 Z 4 FürsorgeAbk).
[18] 4. In Teil IV des FürsorgeAbk, der mit „Rückkehr, Rückschaffung“ überschrieben ist, finden sich die – hier maßgeblichen – Art 8 und 9. Nach Art 8 darf der Aufenthaltsstaat einem Staatsangehörigen der anderen Vertragspartei nicht allein aus dem Grunde der Hilfsbedürftigkeit den weiteren Aufenthalt versagen, es sei denn, dass er sich noch nicht ein Jahr ununterbrochen in seinem Hoheitsgebiet aufhält. Bei einer Abwesenheit bis zur Dauer eines Monats gilt der Aufenthalt gemäß Art 9 Abs 2 FürsorgeAbK als nicht unterbrochen.
[19] 5.1 Art 8 FürsorgeAbk ist nach dem Willen der Vertragsstaaten als Einschränkung der pass‑ und fremdenrechtlichen Bestimmungen zu verstehen und soll nicht nur verhindern, dass gegen einen Hilfsbedürftigen mit fremdenpolizeilichen Zwangsmaßnahmen (Aufenthaltsverbot) vorgegangen wird, sondern auch sicherstellen, dass einer solchen Person die begehrte Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung nicht aus dem Grund der Hilfsbedürftigkeit versagt wird (ErläutRV 1024 BlgNR 11. GP 18; VwGH 86/01/0004).
[20] 5.2 Art 8 des FürsorgeAbk wird – unabhängig von einem Bezug zu den vom Fürsorgeabkommen erfassten Leistungen – als fremden- bzw aufenthaltsrechtliche Bestimmung verstanden, die den Aufenthalt des Hilfsbedürftigen rechtmäßig macht, wenn er ansonsten (allein) aufgrund seiner Hilfsbedürftigkeit unrechtmäßig wäre (VwGH 86/01/0004 zur Versagung eines befristeten Sichtvermerks nach § 25 PaßG 1969; VwGH 97/21/0546 zur Versagung eines Lichtbildausweises für Fremde nach § 28 iVm § 30 FrG 1993; VwGH 2013/21/0085 zur Ausweisung gemäß § 66 FrPolG 2005).
[21] 5.3 Das Berufungsgericht hat diese Rechtsprechung zutreffend wiedergegeben und daraus gefolgert, dass die Frage, ob sich der Aufenthalt des Klägers nach den fremden- oder aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen als rechtmäßig erweise, nicht mit dem Argument der Hilfsbedürftigkeit verneint werden dürfe.
[22] 6.1 Die weitere Schlussfolgerung, deshalb sei auch der Anspruch auf Ausgleichszulage zu bejahen, kann im Hinblick auf die bisherige Rechtsprechung zum Zusammenspiel von fremden- bzw aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen und dem Anspruch auf Ausgleichszulage aber nicht geteilt werden:
[23] 6.2 Die Entscheidung 10 ObS 31/16f (SSV‑NF 30/45) führte zu § 52 Abs 1 Z 3 NAG aus, dass diese Bestimmung das Aufenthaltsrecht bestimmter, näher genannter Angehöriger eines EWR‑Bürgers davon abhängig macht, dass diesen tatsächlich familienintern Unterhalt gewährt wird, was wiederum staatliche Versorgungsleistungen entbehrlich macht. Dass die von den Unterhaltszuwendungen abgeleitete Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nach § 52 Abs 1 Z 3 NAG zu einem Ausgleichszulagenanspruch führt, wurde unter Hinweis darauf verneint, dass es ansonsten zu dem „Unionsbürgerschaft als Münchhausen“-Effekt (Rebhahn, Der Einfluss der Unionsbürgerschaft auf den Zugang zu Sozialleistungen – insb zur Ausgleichszulage [EuGH‑Urteil Brey], wbl 2013, 605 [611]) käme: Die innerfamiliären Zuwendungen, die staatliche Unterstützung entbehrlich machen, machen den Aufenthalt rechtmäßig, woraus sich dann der Anspruch auf eben diese staatliche Unterstützungsleistung ergäbe. Um dieses Ergebnis, das § 52 Abs 1 Z 3 NAG ausschalten will, zu vermeiden, gleichzeitig aber die Rechtmäßgkeit des Aufenthalts nicht zu tangieren, sei § 292 Abs 1 ASVG im Licht des § 52 Abs 1 Z 3 NAG auszulegen. Danach führt der durch § 52 Abs 1 Z 3 rechtmäßige Aufenthalt nicht zu einem Anspruch auf Ausgleichszulage, weil die Kosten des Aufenthalts in Österreich (in den ersten fünf Jahren) nicht durch die Ausgleichszulage, sondern über den familieninternen Unterhalt finanziert werden sollen.
[24] 6.3 Diese Überlegungen treffen sinngemäß auf auf den vorliegenden Fall zu:
[25] Die von § 51 Abs 1 Z 2 NAG geforderten ausreichenden Existenzmittel sollen es möglich machen, dass der die Freizügigkeit ausübende EWR‑Bürger unter den in Österreich gegebenen Lebensverhältnissen seine wesentlichen Unterhaltsbedürfnisse bestreiten kann, ohne staatliche Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen zu müssen. Wollte man das Vorliegen eines rechtmäßigen Aufenthalts des Klägers bereits nach einjährigem Aufenthalt in Österreich unter Hinweis auf Art 8 FürsorgeAbk bejahen, auch wenn er nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt (weil nach dieser Regelung seine Hilfsbedürftigkeit unberücksichtigt zu bleiben hat und ihm Anspruch auf Mindestsicherung zukommt) und würde die derart abgeleitete Rechtmäßigkeit des Aufenthalts zu einem Ausgleichszulagenanspruch nach § 52 Abs 1 Z 2 NAG führen, träte gleichfalls der genannte „Unionsbürgerschaft als Münchhausen“‑Effekt ein. Obwohl der Kläger hilfsbedürftig ist und Mindestsicherung bezieht, wäre sein Aufenthalt als rechtmäßig anzusehen, woraus sich dann der Anspruch auf Ausgleichszulage ergäbe. Da § 52 Abs 1 Z 2 NAG dieses Ergebnis vermeiden will, weil die Kosten des Aufenthalts in Österreich (in den ersten fünf Jahren) nicht durch die Ausgleichszulage, sondern über eigene Existenzmittel finanziert werden sollen, kann auch ein iSd Art 8 des FürsorgeAbk rechtmäßiger Aufenthalt nicht zu einem Anspruch auf Ausgleichszulage führen. Hinsichtlich des Zugangs zur Ausgleichszulage steht dem Kläger demnach eine Gleichbehandlung mit Inländern nicht zu.
[26] 7. Der Revision der Beklagten ist daher Folge zu geben und das klagsabweisende Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.
[27] 8. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Da die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO abhängt, entspricht es der Billigkeit, dem unterlegenen Kläger angesichts seiner aktenkundigen Einkommensverhältnisse die Hälfte der Kosten des Revisionsverfahrens zuzusprechen (RS0085871). Im Berufungsverfahren hat der Kläger keine Kosten verzeichnet.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)