OGH 10ObS148/98g

OGH10ObS148/98g28.4.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Steinbauer sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr.Karlheinz Kux (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag.Maria Pree (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Rudolf S*****, Pensionist, ***** vertreten durch Dr.Jörg Hobmeier, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11.Februar 1998, GZ 23 Rs 49/97n-17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 5.September 1997, GZ 42 Cgs 290/96f-12, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß die Entscheidung des Gerichtes erster Instanz mit folgender Maßgabe wiederhergestellt wird:

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger anstelle des bisher gewährten Pflegegeldes der Stufe 3 von S 5.690 monatlich ab 1.4.1996 Pflegegeld der Stufe 5 in Höhe von S 11.591 monatlich zu zahlen.

Die beklagte Partei ist weiters schuldig, dem Kläger die mit S 4.058,88 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 676,48 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger bezieht seit 1.4.1995 von der beklagten Partei ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 3. Mit Bescheid vom 2.10.1996 wurde sein Antrag vom 12.4.1996 auf Erhöhung des Pflegegeldes abgelehnt. Seine Fähigkeit zur Besorgung lebenswichtiger Verrichtungen des Alltags sei nicht soweit herabgesunken, daß der Pflegebedarf mehr als 180 Stunden im Monat betrage.

Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen Klagebegehren statt und erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger ab 1.4.1996 das Pflegegeld der Stufe 5 im gesetzlichen Ausmaß zu leisten. Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

Der Kläger ist unter Berücksichtigung seiner Leidenszustände, nämlich eines Morbus Parkinson mit ausgeprägtem Rigor und Tremor sowie depressiver Stimmungslage, weiters einer coronaren Herzerkrankung mit ventrikulärer Rhythmusstörung nicht mehr in der Lage, sich selbst an- und auszukleiden, die tägliche Körperpflege, die Zubereitung von Mahlzeiten und die Verrichtung der Notdurft vorzunehmen, Nahrungsmittel und Medikamente herbeizuschaffen, die Wohnung und persönlichen Gebrauchsgegenstände zu reinigen oder die Bett- und Leibwäsche zu waschen. Ferner benötigt der Kläger Mobilitätshilfe im engeren Sinn, und zwar wegen der notwendigen nächtlichen Umlagerung im Ausmaß von 30 Stunden monatlich, sowie auch solche im weiteren Sinn. Der Kläger ist nicht mehr in der Lage, flüssige Nahrung zu sich zu nehmen. Aus medizinischen Gründen (Probleme mit dem Stuhlgang) ist eine tägliche Ganzkörperreinigung in der Dusche oder in der Wanne erforderlich, für die der Kläger ebenso fremde Hilfe benötigt. Die ständige Bereitschaft einer Pflegeperson ist erforderlich, nicht hingegen die ständige Beaufsichtigung.

In rechtlicher Hinsicht folgerte das Erstgericht, daß der Kläger einen Pflegebedarf von 175 Stunden im Monat habe. Dazu komme, daß er täglich fremde Hilfe bei der notwendigen Ganzkörperreinigung in der Dusche oder Wanne benötige. Es liege auf der Hand, daß der aus dieser Notwendigkeit zu bewertende zeitliche Pflegeaufwand jedenfalls fünf Stunden im Monat bei weitem überschreite, so daß insgesamt ein Pflegeaufwand von jedenfalls mehr als 180 Stunden monatlich anzunehmen sei, ohne daß auf die Frage von krankengymnastischen Übungen und Einläufen bzw die Unmöglichkeit zur Aufnahme von flüssiger Nahrung näher eingegangen werden müsse. Da überdies die ständige Bereitschaft einer Pflegeperson erforderlich sei, stehe dem Kläger das Pflegegeld der Stufe 5 zu.

Das Berufungsgericht gab der von der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung Folge und änderte das Urteil des Erstgerichtes im Sinne einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens ab. Die Notwendigkeit der Hilfe bei einem Wannenvollbad falle für sich allein grundsätzlich unter den Begriff der täglichen Körperpflege, der auch die Ganzkörperreinigung umfasse. Eine gründliche vollständige Ganzkörperreinigung, unter der nicht nur das Duschen oder Baden, sondern auch das normale gründliche Waschen des ganzen Körpers zu verstehen sei, begründe einen regelmäßigen Bedarf im Sinne des § 4 Abs 1 BPGG und § 5 EinstV. Diesen Pflegebedarf, der wie ein Wannenvollbad nichts anderes als Körperpflege sei, komme grundsätzlich keine selbständige Bedeutung bei der Feststellung des zeitlichen Betreuungsaufwandes zu, wenn Hilfe bei der täglichen Körperpflege erforderlich sei. Dies bedeute, daß die Fremdhilfe bei der Ganzkörperreinigung zusätzlich zur erforderlichen Hilfe bei der täglichen Körperpflege nur dann zu einer Abweichung von der in den §§ 1 Abs 4 EinstV angeführten Mindestwerten für tägliche Körperpflege führe, wenn der dabei tatsächlich auftretende Betreuungsaufwand den Mindestwert aus besonderen Gründen um annähernd die Hälfte überschreite (10 ObS 6/97y). Im vorliegenden Fall betrage der zusätzliche Betreuungsaufwand für die tägliche Ganzkörperreinigung in der Dusche oder Wanne etwa 8,5 bis 9 Stunden, wodurch der angeführte Mindestwert für die tägliche Körperpflege nicht beträchtlich überschritten werde; deshalb sei er nicht gesondert zu berücksichtigen. Der Betreuungsbedarf des Klägers überschreite nicht 180 Stunden im Monat, weshalb ihm ungeachtet des außergewöhnlichen Pflegeaufwandes (Erfordernis der dauernden Bereitschaft einer Pflegeperson) nur ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 zustehe. Das auf Erhöhung dieses Pflegegeldes gerichtete Begehren sei daher abzuweisen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Er beantragt die Abänderung im Sinne einer Stattgebung seines Klagebegehrens und stellt hilfsweise einen Aufhebungsantrag.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Die Revision ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Unbestritten ist, daß der Kläger zumindest einen monatlichen Pflegebedarf von 175 Stunden hat, der sich wie folgt zusammensetzt:

20 Stunden für An- und Auskleiden, 25 Stunden für die tägliche Körperpflege, 30 Stunden für die Zubereitung von Mahlzeiten, 30 Stunden für die Verrichtung der Notdurft, 30 Stunden für Mobilitätshilfe im engeren Sinn, 10 Stunden für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, 10 Stunden für die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, 10 Stunden für die Pflege der Leib- und Bettwäsche sowie 10 Stunden für Mobilitätshilfe im weiteren Sinn.

Die von den Vorinstanzen verschieden beantwortete Frage, ob der für die tägliche Körperpflege nach § 1 Abs 4 EinstV vorgesehene Mindestwert von 2 x 25 Minuten täglich oder 25 Stunden monatlich durch das Erfordernis der täglichen Ganzkörperreinigung in einer Dusche oder Badewanne erheblich überschritten werde, kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, weil sich ein 180 Stunden monatlich übersteigender Pflegeaufwand bereits aus einem anderen von den Tatsacheninstanzen festgestellten, jedoch rechtlich nicht gewürdigten Umstand ergibt: Das Erstgericht hat unbekämpft festgestellt, daß der Kläger auch nicht mehr in der Lage ist, flüssige Nahrung zu sich zu nehmen. Er braucht also regelmäßig Hilfe beim Einnehmen von Mahlzeiten, die er aufgrund seiner ausgeprägten Schüttellähmung nicht mehr zum Mund führen kann, wie etwa alle Getränke, Suppen, Saucen, Breie und Kompotte. Daß er die mit dem Einnahmen flüssiger Mahlzeiten verbundenen Verrichtungen durch die Verwendung einfacher Hilfsmittel ungeachtet seiner ganz erheblichen Einschränkungen dennoch selbständig vornehmen könne (§ 3 Abs 1 EinstV), wurde weder behauptet noch festgestellt (vgl SSV-NF 10/99; 10 ObS 111/97i). Benötigt aber der Kläger bei der Einnahme von Mahlzeiten Betreuung, dann ergibt sich hiefür ein Pflegebedarf, der in § 1 Abs 4 EinstV mit einem zeitlichen Mindestwert von täglich einer Stunde festgesetzt ist (SSV-NF 10/103). Bei den in § 1 Abs 4 EinstV genannten Mindestwerten ("verbindlichen Mindestwerten" im Sinne des § 4 Abs 3 Z 2 BPGG) ist eine Unterschreitung ausgeschlossen. Der jeweilige Mindestwert wird freilich nur dann zu berücksichtigen sein, wenn sich der tatsächliche Bedarf nicht bloß auf einen kleinen Teil der dort angeführten Betreuungsmaßnahmen bezieht: Bei erheblicher Unterschreitung des betreffenden Wertes könnte die Anerkennung eines pauschalierten Mindestbedarfes nicht mehr in Betracht kommen, etwa dann, wenn die einzelnen Verrrichtungen lediglich einen Aufwand verursachen, der deutlich unter der Hälfte des normierten Mindestwertes liegt (vgl Pfeil, Pflegevorsorge 187; derselbe BPGG 86; SSV-NF 8/74). Eine solche erhebliche Unterschreitung des in § 1 Abs 4 EinstV für das Einnehmen von Mahlzeiten festgesetzten Mindestausmaßes von einer Stunde täglich kann nicht deshalb angenommen werden, weil der Kläger nach den Feststellungen einer Betreuung nur beim Einnehmen flüssiger Mahlzeiten bedarf. Auch wenn der tatsächliche Zeitaufwand im Sinne des Gutachtens des ärztlichen Sachverständigen hiefür nur 30 Minuten täglich betragen würde, wäre im Sinne der obigen Ausführungen von einem zeitlichen Mindestwert von 30 Stunden monatlich auszugehen.

Daraus folgt aber, daß der Betreuungsbedarf des Klägers monatlich 205 Stunden beträgt. Anspruch auf Pflegegeld besteht in Höhe der Stufe 5 für Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand erforderlich ist (§ 4 Abs 2 BPGG). Ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand liegt nach § 6 EinstV dann vor, wenn die dauernde Bereitschaft, nicht jedoch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich ist. Nach den Feststellungen der Tatsacheninstanzen erfordert der Zustand des Klägers die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson in dem Sinn, daß der Kläger jederzeit Kontakt mit dieser Pflegeperson aufnehmen und diese in angemessener Zeit die erforderliche Betreuung und Hilfe leisten können muß (vgl SSV-NF 10/129). Der Kläger erfüllt also die Voraussetzungen für die Gewährung eines Pflegegeldes der Stufe 5, weshalb in Stattgebung seiner Revision die Entscheidung des Erstgerichtes mit der Maßgabe der ziffernmäßigen Festsetzung des erhöhten Pflegegeldanspruches wiederherzustellen war.

Ob der Kläger auch deshalb die Voraussetzungen für ein Pflegegeld der Stufe 5 erfülle, weil er überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sei und an einem deutlichen Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten leide (§ 8 Z 3 EinstV), brauchte nicht mehr geprüft zu werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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