OGH 10ObS144/12t

OGH10ObS144/12t23.10.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Hermann Furtner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Stefan Jöchtl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*****, Südafrika, vertreten durch Kraft & Winternitz Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 30. Juli 2012, GZ 8 Rs 99/12f‑23, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2012:010OBS00144.12T.1023.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung

1. Die Klägerin macht in ihren Ausführungen zur Zulässigkeit ihrer außerordentlichen Revision geltend, das für den Anspruch auf Pflegegeld in § 3 Abs 1 BPGG vorgesehene Erfordernis des Vorliegens eines gewöhnlichen Aufenthalts des Pflegebedürftigen im Inland sei verfassungswidrig, weil eine sachwidrige Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes und eine Verletzung der Freizügigkeit und des ungehinderten Auswanderungsrechts vorliege. Sie verweist im Wesentlichen darauf, dass diese Anspruchsvoraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts des Pflegegeldbeziehers im Inland durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 8. 3. 2001, Rs C‑215/99, Jauch, bereits eine wesentliche europarechtliche Einschränkung erfahren habe. Es sei kein sachlicher Grund vorhanden, den Bezug des Pflegegeldes denjenigen zu verweigern, die im sonstigen Ausland (hier: Südafrika) ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Der Entzug des Pflegegeldes durch die beklagte Partei im Hinblick auf den seit Mai 2010 unbestritten bestehenden ausschließlichen gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin in Südafrika sei daher nicht gerechtfertigt.

Rechtliche Beurteilung

2. Gemäß § 3 Abs 1 BPGG hat der Anspruch auf Pflegegeld nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zur Voraussetzung, dass der Pflegebedürftige seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Diese Voraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland hat durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 8. 3. 2001, Rs C‑215/99, Jauch, eine wesentliche unionsrechtliche Einschränkung im räumlichen Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 bzw nunmehr VO (EG) 883/2004 gefunden, indem das österreichische Bundespflegegeld als Leistung bei Krankheit iSd Art 4 Abs 1 lit a VO (EWG) 1408/71 qualifiziert wurde und daher in das EU‑Ausland zu exportieren ist (vgl 10 ObS 103/01x, SSV‑NF 15/56 ua). Die Klägerin kann sich aber nicht mit Erfolg auf diese Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs stützen, weil sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Südafrika und somit außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs der VO (EWG) 1408/71 bzw nunmehr der VO (EG) 883/2004 hat. Ein Export des Pflegegeldes an die in Südafrika wohnhafte Klägerin ist daher nach § 3 Abs 1 BPGG weiterhin ausgeschlossen. Die Möglichkeit einer Inanspruchnahme dieser Leistung ergibt sich auch nicht aus zwischenstaatlichen Übereinkommen zwischen der Republik Österreich und der Republik Südafrika.

2.1 Gegen diese Rechtslage bestehen entgegen der Ansicht der Revisionswerberin keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Gesetzgeber ist ‑ soweit nicht durch völkerrechtliche Verträge oder durch das Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union anderes geboten ist ‑ berechtigt, Maßnahmen der sozialen Sicherheit jedenfalls in jenen Fällen an einen Aufenthalt im Inland zu binden, in denen die Art der Leistung geradezu typischerweise auf die wirtschaftliche und soziale Situation im Inland Bezug nimmt und in keinem Zusammenhang mit möglicherweise ganz anders gearteten Verhältnissen in anderen Ländern steht (vgl VfGH 24. 9. 2009, G 165/08 ua, zur Ausgleichszulage). Auch die Gewährung des Pflegegeldes stellt grundsätzlich auf die Verhältnisse im Inland ab. Das Pflegegeld ist eine zweckgebundene Leistung, die den Pflegebedürftigen in die Lage versetzen soll, Pflegeleistungen „einkaufen“ zu können. Die Entscheidungsträger sind berechtigt, die zweckmäßige Verwendung des Pflegegeldes zu überprüfen (§ 33b Abs 2 BPGG). Auch die in § 20 BPGG vorgesehene Umwandlung von Geld‑ in Sachleistungen setzt eine genaue Kenntnis der Lebenssituation und der Bedürfnisse des Pflegebedürftigen voraus, welche grundsätzlich eine Einschränkung des Pflegegeldbezugs auf Pflegefälle mit Wohnsitz im Inland rechtfertigt. Der Gleichheitsgrundsatz verpflichtet den Gesetzgeber, an gleiche Tatbestände gleiche Rechtsfolgen zu knüpfen; sachlich gerechtfertigte Differenzierungen stehen mit dem Gleichheitsgrundsatz jedoch nicht in Widerspruch. Der nicht bloß vorübergehende Auslandsaufenthalt ist ein Tatbestandsunterschied, der eine unterschiedliche Regelung zulässig macht (vgl 10 ObS 229/97t, SSV‑NF 11/88).

2.2 Auch der Hinweis der Klägerin auf Art 4 StGG und Art 2 Abs 2 des 4. ZP MRK vermag nicht zu überzeugen. Nach Art 4 StGG unterliegt die Freizügigkeit der Person und des Vermögens innerhalb des Staatsgebiets keiner Beschränkung. Die Freiheit der Auswanderung ist von Staats wegen nur durch die Wehrpflicht beschränkt. Abfahrtsgelder dürfen nur in Anwendung der Reziprozität erhoben werden. Nach Art 2 Abs 2 des 4. ZP MRK steht es jedermann frei, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen. Bei dem mit einem freiwilligen längerfristigen Auslandsaufenthalt des Pflegebedürftigen verbundenen Verlust des Pflegegeldes handelt es sich um keinen unmittelbaren Eingriff in die Freiheit der Auswanderung, sondern um eine bloß mittelbare Folge einer Regelung, die, wie erwähnt, grundsätzlich einen anderen Zweck verfolgt. Das Grundrecht auf Freiheit der Auswanderung wird dadurch nicht berührt (vgl Mayer, B‑VG‑Kurzkommentar4 588). Der Entzug des Pflegegeldes stellt entgegen der Ansicht der Klägerin auch kein „Abfahrtsgeld“ iSd Art 4 StGG dar. Bei „Abfahrtsgeldern“ handelt es sich vielmehr um Steuern, die bei der Auswanderung vom mitgeführten Vermögen erhoben werden. Diesen gleichzuhalten ist wohl auch ein weitreichendes Verbot, bei der Auswanderung Wertgegenstände, Geldmittel usw mitzunehmen (vgl Walter/Mayer/Kucsko‑Stadlmayer, Grundriss des Österreichischen Bundesverfassungsrechts10 Rz 1402 mwN). Beides liegt hier nicht vor.

2.3 Für eine Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof im Sinne der Anregung der Klägerin besteht daher kein Anlass.

3. Soweit die Klägerin in ihren Ausführungen zur Zulässigkeit der außerordentlichen Revision noch allgemein geltend macht, ein Rückforderungsanspruch der beklagten Partei bestehe nicht zu Recht, ist ihr entgegenzuhalten, dass in der Rechtsansicht der Vorinstanzen, die Klägerin habe durch ihr Verhalten einen Rückforderungstatbestand iSd § 11 BPGG (Verletzung der Anzeigepflicht nach § 10 BPGG) verwirklicht, keine vom Obersten Gerichtshof im Einzelfall aufzugreifende Fehlbeurteilung erblickt werden kann. Auch die weitere Rechtsansicht des Berufungsgerichts, die Grundsätze des Judikats 33 neu über den gutgläubigen Verbrauch könnten im Zusammenhang mit der hier in § 11 BPGG ausdrücklich geregelten Verpflichtung zum Ersatz zu Unrecht empfangener Pflegegelder keine Anwendung finden, weshalb sich ein Leistungsempfänger, der einen der in dieser Regelung über die Ersatzpflicht genannten Tatbestände verwirklicht habe, nicht mehr mit Erfolg auf Gutgläubigkeit berufen könne, steht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (vgl RIS‑Justiz RS0114485 ua).

Die außerordentliche Revision war daher mangels Geltendmachung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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