European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00012.22W.0329.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Entscheidung über die Berufung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.
Begründung:
[1] Mit Bescheid vom 17. 6. 2020 stellte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt fest, dass der am 10. 8. 1962 geborene Kläger zum Feststellungszeitpunkt 1. 6. 2020 insgesamt 509 Versicherungsmonate erworben habe, lehnte aber die Feststellung von bestimmten Monaten als Schwerarbeitszeiten ab.
[2] Mit seiner dagegen gerichteten Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass die von ihm im Zeitraum von 1. 1. 2003 bis 31. 5. 2020 erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung Schwerarbeitsmonate seien.
[3] Das Erstgericht stellte daraufhin fest, dass die vom Kläger im Jänner und Februar 2016, im Jänner 2017 sowie im Jänner, April und Dezember 2018 erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung Schwerarbeitsmonate sind, und wies das darüberhinausgehende Feststellungsbegehren ab.
[4] Das B erufungsgericht wies die gegen den klagsstattgebenden Teil des Urteils gerichtete Berufung der Beklagten zurück, weil die Feststellung von sechs Schwerarbeitsmonaten auch in Zukunft keinen Anspruch des Klägers auf Schwerarbeiterpension begründen könne und die Beklagte deshalb nicht beschwert sei.
[5] Mit ihrem dagegen erhobenen und vom Kläger beantworteten Rekursrichtet sich die Beklagte gegen die Zurückweisung ihrer Berufung und beantragt die Entscheidung in der Sache im Sinne einer gänzlichen Abweisung der Klage.
Rechtliche Beurteilung
[6] Der Rekurs der Beklagten ist nach § 519 Abs 1 ZPO zulässig. Er ist auch berechtigt.
[7] 1. Nach § 247 Abs 2 ASVG hat der leistungszuständige Pensionsversicherungsträger die Schwerarbeitszeiten im Sinn des § 607 Abs 14 ASVG und § 4 Abs 4 APG festzustellen, wenn der Versicherte dies frühestens zehn Jahre vor Vollendung des (frühestmöglichen) Anfallsalters nach § 607 Abs 12 ASVG oder § 4 Abs 3 APG beantragt und aufgrund der bisher erworbenen Versicherungsmonate anzunehmen ist, dass die Voraussetzungen einer abschlagsfreien Pension nach § 607 Abs 14 ASVG oder § 4 Abs 3 APG vor Erreichen des Regelpensionsalters (§ 253 ASVG: Vollendung des 65. Lebensjahres) erfüllt werden.
[8] 2. Um im Fall von Schwerarbeit die Vergünstigung einer abschlagsfreien Pension vor Erreichen des Regelpensionsalters in Anspruch nehmen zu können, müssen nach § 607 Abs 14 ASVG und § 4 Abs 3 APG mindestens 120 Schwerarbeitsmonate innerhalb der letzten 240 Kalendermonate vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2 ASVG) erworben werden. Diese Voraussetzung kann der Kläger bis zur Vollendung seines 65. Lebensjahres am 10. 8. 2027 nicht mehr erfüllen, auch wenn das Erstgericht sechs Schwerarbeitsmonate in den Jahren 2016 bis 2018 festgestellt hat.
[9] 3. Das Rechtsschutzbedürfnis (Beschwer) ist eine Voraussetzung der Rechtsmittelzulässigkeit (RS0043815). Eine Beschwer liegt nur vor, wenn der Rechtsmittelwerber ein Bedürfnis auf Rechtsschutz gegenüber der angefochtenen Entscheidung hat (RS0041746). Dies erfordert grundsätzlich sowohl eine formelle Beschwer, das heißt, dass die Entscheidung von dem ihr zugrunde liegenden Sachantrag des Rechtsmittelwerbers abweicht, als auch eine materielle Beschwer, die dann vorliegt, wenn die (materielle oder prozessuale) Rechtsstellung des Rechtsmittelwerbers durch die Entscheidung beeinträchtigt wird, diese also für ihn ungünstig ausfällt (RS0041868 [T3]; RS0118925). Hingegen fehlt das für die Zulässigkeit des Rechtsmittels erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Entscheidung nur mehr theoretisch-abstrakte Bedeutung zukäme, zumal es nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanzen ist, über bloß theoretisch bedeutsame Fragen abzusprechen (RS0002495).
[10] 4. Die Feststellung von Versicherungs- und Schwerarbeitszeiten nach § 247 ASVG hat zur Folge, dass die erworbenen Zeiten bindend festgestellt werden und daher einem künftigen Leistungsverfahren ohne weitere Prüfung zugrundezulegen sind, wodurch es sich bei diesem Feststellungsverfahren um einen vorgezogenen Teil des Leistungsverfahrens handelt (RS0084976). Die Feststellung des Erstgerichts, dass der Kläger sechs Schwerarbeitsmonate erworben habe, hat deshalb zur Folge, dass die Beklagte in einem künftigen Leistungsverfahren diese Schwerarbeitszeiten nicht mehr bestreiten kann, wodurch in ihre prozessuale Rechtsstellung eingegriffen wurde. Richtig ist zwar, dass die vom Erstgericht festgestellten Schwerarbeitsmonate nach derzeitiger Rechtslage keine Pensionsansprüche des Klägers begründen können, doch ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Rechtslage ändert.
[11] 5. Das Berufungsgericht hat sich auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu 10 ObS 97/21v gestützt, in der einem Versicherten, der mit seiner Berufung die Feststellung von zwölf Schwerarbeitsmonaten begehrte, die Beschwer abgesprochen wurde, weil er die Mindestzahl von 120 Schwerarbeitsmonaten bis zum Regelpensionsalter nicht mehr erreichen konnte. Diese Entscheidung betraf aber einen Fall, in dem das Erstgericht dem Versicherten diese zwölf Schwerarbeitsmonate ohnehin zugebilligt, das Feststellungsbegehren aber mangels Feststellungsinteresse abgewiesen hatte, wodurch – anders als im vorliegenden Fall – gerade keine bindende Feststellung über das Vorliegen von Schwerarbeitszeiten getroffen wurde.
[12] 6. Da die Feststellung von Schwerarbeitszeiten zu einer Bindung des Versicherungsträgers im Hinblick auf künftige Leistungsansprüche führt, ist eine Beschwer auch dann anzunehmen, wenn die festgestellten Schwerarbeitszeiten nach geltender Rechtslage keine Leistungsansprüche des Versicherten begründen können, weshalb das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten nicht mangels Beschwer zurückweisen hätte dürfen.
[13] 7. Der Vorbehalt der Entscheidung über die Kosten des Rekursverfahrens beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.
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