OGH 10Ob22/12a

OGH10Ob22/12a26.6.2012

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj A*****, geboren am 30. Juni 1997, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie Rechtsvertretung Bezirke 1, 4‑9, Amerlingstraße 11, 1060 Wien), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 23. Februar 2012, GZ 42 R 588/11y‑109, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom 7. November 2007, GZ 27 PU 158/09m‑99, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Die am 30. 6. 1997 geborene Minderjährige ist die eheliche Tochter von Mag. B***** und F*****. Sie befindet sich in Pflege und Erziehung bei der Mutter. Der Vater ist aufgrund des Beschlusses des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 22. 11. 2005, GZ 42 R 528/05s, zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 400 EUR für die Minderjährige verpflichtet.

Mit Antrag vom 7. 9. 2011 begehrte die Minderjährige, vertreten durch den Jugendwohlfahrtsträger, die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in Titelhöhe. Sie brachte im Wesentlichen vor, der Vater habe nach Eintritt der Vollstreckbarkeit den laufenden Unterhalt nicht zur Gänze geleistet. Die Führung einer Exekution sei aussichtslos, weil der Vater bisher regelmäßig Teilunterhaltsbeträge von 259 EUR monatlich leiste und kein entsprechendes pfändbares Einkommen oder Vermögen des Vaters bekannt sei.

Das Erstgericht gewährte der Minderjährigen für den Zeitraum vom 1. 9. 2011 bis 30. 6. 2015 Vorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in einer monatlichen Höhe von 141 EUR und wies das Mehrbegehren von 259 EUR monatlich ab. Es begründete die Abweisung dieses Mehrbegehrens damit, dass der Vater regelmäßig Teilunterhaltszahlungen in Höhe von monatlich 259 EUR leiste.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Minderjährigen Folge und änderte den Beschluss des Erstgerichts dahin ab, dass die Vorschüsse in der monatlichen Höhe von insgesamt 400 EUR gewährt werden. Nach seinen wesentlichen Ausführungen habe schon nach der alten Rechtslage vor dem Inkrafttreten des FamRÄG 2009, BGBl I 2009/75, der Wortlaut des § 18 Abs 2 UVG aF gegen die Judikatur gesprochen, nach der eine stabile Teilleistung des Unterhaltsschuldners auf die laufenden Unterhaltsbeiträge ein Grund für eine entsprechend geringere Unterhaltsbevorschussung sei und der Versagungsgrund des § 18 Abs 2 UVG aF auch teilweise vorliegen könne. Diese Rechtsprechung sei auch aus anderen Gründen kritisiert worden. Nach der nunmehrigen Formulierung des § 3 Z 2 Satz 1 UVG (idF des FamRÄG 2009) komme es für den Vorschussanspruch lediglich darauf an, dass der Unterhaltsschuldner den Unterhaltsbeitrag „nicht zur Gänze“ leiste, weshalb die frühere Judikatur zur „stabilen Teilleistung“ nicht mehr aufrecht erhalten werden könne. Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 Ob 71/10d bei einem Weitergewährungsantrag die Frage, ob eine stabile Teilleistung zu einer Reduktion der Vorschusshöhe führe, ausdrücklich unbeantwortet gelassen habe und eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage der Anrechnung von stabilen Teilleistungen im Fall einer Erstgewährung von Unterhaltsvorschüssen aufgrund der Rechtslage nach dem Inkrafttreten des FamRÄG 2009 nicht vorliege.

Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Wiederherstellung des erstinstanzlichen Beschlusses.

Die Minderjährige, vertreten durch den Jugendwohlfahrtsträger, beantragt in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.

In seinem Revisionsrekurs macht der Bund geltend, es lasse sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der Neuformulierung des § 3 Z 2 UVG idF FamRÄG 2009 die bisherige Rechtsprechung zur „stabilen Teilleistung“ ändern habe wollen. Bei einer „stabilen Teilleistung“ bestehe daher weiterhin keine Veranlassung für die Bevorschussung von Unterhalt durch den Staat, weil dem Kind in diesem Fall nur Vorschüsse auf den Fehlbetrag zustünden. Bestehe ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ eine ausreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der laufende Unterhalt des Kindes zum Teil ‑ im Umfang der Teilleistung ‑ gesichert sei, bestehe kein Bedarf an einer Bevorschussung durch den Bund.

Dazu wurde Folgendes erwogen:

1. Nach der ständigen Rechtsprechung zur Rechtslage vor dem im Wesentlichen mit 1. 1. 2010 erfolgten Inkrafttreten des FamRÄG 2009 (BGBl I 2009/75), die auf die Gesetzesmaterialien zurückgeht, ist bei zuverlässiger regelmäßiger Zahlung eines bestimmten Betrags, der unter dem auferlegten Unterhaltsbeitrag liegt, lediglich der offene Rest einer Titelbevorschussung zugänglich, weil die Vorschussleistung aus öffentlichen Mitteln nur im Rahmen der „notleidend gewordenen Unterhaltsleistung“ einzugreifen hat (vgl 1 Ob 615/90; 4 Ob 386/97m ua; RIS‑Justiz RS0076309).

1.1 Diese Rechtsprechung wurde von Neumayr in Schwimann, ABGB3 § 5 UVG Rz 7 im Wesentlichen mit dem Argument kritisiert, dass sie mit den Regelungen des UVG in Widerspruch stehe, die für die Vorschussgewährung auf die nicht vollständige Deckung der laufenden Unterhaltsbeiträge durch Exekutionsführung abstellen (vgl § 3 Z 2 UVG idF vor dem Inkrafttreten des FamRÄG 2009). Das Argument, es solle vermieden werden, dass ein Kind eine teilweise Doppelalimentation in Form der stabilen Teilleistung einerseits und der vollen Titelvorschüsse andererseits erhält, schlage insofern fehl, als mit der Zustellung des Beschlusses an den Unterhaltsschuldner die Unterhaltsbeiträge an den Jugendwohlfahrtsträger zu zahlen sind (§ 26 Abs 2); schon allein praktische (verrechnungstechnische) Gründe sprächen dagegen, dass sich diese „Unterhaltsbeiträge“ nur auf die bevorschusste Teilleistung beziehen. Weiters käme es zu einer Ungleichbehandlung von freiwillig geleisteten Zahlungen und exekutiv immer in der gleichen Höhe hereingebrachten Teilbeträgen, da Letztere nach der Rechtsprechung nicht den Vorschussbetrag schmälern, sondern gemäß § 27 Abs 1 und 2 an den Bund abzuführen seien. Auch die Begründung über § 18 Abs 2 sei nicht plausibel, da diese Bestimmung ausdrücklich auf die Wahrscheinlichkeit der künftigen vollen Zahlung abstelle. Beim Größenschluss aus § 3 Z 2 werde übersehen, dass diese Bestimmung als Voraussetzung für Titelvorschüsse statuiere, dass zumindest ein in den letzten sechs Monaten vor dem Vorschussantrag fällig gewordener Unterhaltsbeitrag nicht voll gedeckt worden sei. Letztlich überzeugten auch der Vergleich mit einem Eigeneinkommen des Kindes ‑ das die materielle Unterhaltsverpflichtung ändere ‑ sowie die Bezugnahme auf die Textierung des § 5 Abs 1 Satz 1 („bis zu dem im Exekutionstitel festgesetzten Unterhaltsbeitrag“) nicht; mit der letztgenannten Bestimmung solle (nur) ein Überschreiten des Titels bei Titelvorschüssen verhindert werden. Entsprechend den §§ 6 und 7 könne vom Kind ‑ etwa bei Eigeneinkommen ‑ durchaus ein niedrigerer Vorschuss beantragt werden als der titelmäßig zu leistende Unterhaltsbeitrag ausmache. Es habe daher grundsätzlich dabei zu bleiben, dass bei Bestehen eines Unterhaltstitels jede Unterhaltspflichtverletzung ‑ etwa weil die Geldunterhaltspflicht der Höhe nach nicht gänzlich erfüllt werde ‑ zu einer vollen Titelbevorschussung führen könne (vgl Neumayr in Schwimann, ABGB3 § 5 Rz 7 f mwN).

2. Die Minderjährige hat am 12. 9. 2011 die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen beantragt, sodass auf diesen Antrag die Bestimmungen des UVG in der durch das FamRÄG 2009 (BGBl I 2009/75) novellierten Fassung anzuwenden sind.

2.1 Gemäß § 3 UVG idF FamRÄG 2009 sind Vorschüsse zu gewähren, wenn

1. für den gesetzlichen Unterhaltsanspruch ein im Inland vollstreckbarer Exekutionstitel besteht und

2. der Unterhaltsschuldner nach Eintritt der Vollstreckbarkeit den laufenden Unterhaltsbeitrag nicht zur Gänze leistet sowie das Kind glaubhaft macht (§ 11 Abs 2), einen Exekutionsantrag nach § 294a EO oder, sofern der Unterhaltsschuldner offenbar keine Gehaltsforderung oder keine andere in fortlaufenden Bezügen bestehende Forderung hat, einen Exekutionsantrag auf bewegliche körperliche Sachen unter Berücksichtigung von § 372 EO eingebracht zu haben. ...

Gemäß § 4 Z 1 UVG idF FamRÄG 2009 sind Vorschüsse auch zu gewähren, wenn zwar die Voraussetzungen des § 3 Z 1 gegeben sind, aber die Führung einer Exekution nach § 3 Z 2 aussichtslos erscheint, besonders weil im Inland ein Drittschuldner oder ein Vermögen, dessen Verwertung einen die laufenden Unterhaltsbeiträge deckenden Ertrag erwarten lässt, nicht bekannt ist.

2.2 Wichtigste Ziele der Novellierung des UVG durch das FamRÄG 2009 waren die Beschleunigung der Gewährung von Unterhaltsvorschüssen (im Sinne einer Vorverlegung des Geldflusses) unter anderem durch die Beseitigung des Erfordernisses einer erfolglosen Exekutionsführung und die Erhöhung der Kontinuität der Vorschussleistungen durch Vermeidung von Auszahlungslücken (vgl Neumayr, Unterhaltsvorschuss neu ‑ Änderungen des UVG mit dem FamRÄG 2009, ÖJZ 2010/20, 164 ff).

2.3 Der Vorschussanspruch nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG idF FamRÄG 2009 setzt somit neben dem Bestehen eines für den gesetzlichen Unterhaltsanspruch im Inland vollstreckbaren Exekutionstitels nur noch voraus, dass der Unterhaltsschuldner nach Eintritt der Vollstreckbarkeit den laufenden Unterhaltsbeitrag nicht zur Gänze leistet und eine Exekutionsführung aussichtslos scheint. Voraussetzung für einen Vorschussanspruch nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG idF FamRÄG 2009 ist somit unter anderem nur noch der Umstand, dass der nach Schaffung eines vollstreckbaren Titels fällig gewordene Geldunterhaltsbeitrag vom Unterhaltsschuldner nicht vollständig geleistet wurde. Einer Fortschreibung der bisherigen Rechtsprechung, wonach eine „stabile Teilleistung“ zu einer Reduktion der Vorschusshöhe führe, steht daher nach der Änderung des UVG durch das FamRÄG 2009 nach zutreffender Rechtsansicht des Rekursgerichts die Tatsache entgegen, dass in § 3 Z 2 UVG nunmehr ausdrücklich darauf abgestellt wird, dass der Unterhaltspflichtige den laufenden Unterhalt seit Eintritt der Vollstreckbarkeit nicht zur Gänze leistet. Es wird somit in diesem Zusammenhang die Vorschussgewährung ausschließlich auf die Nichterbringung der vollen Unterhaltsleistung durch den Unterhaltsschuldner abgestellt, weshalb die Erbringung einer bloßen Teilleistung durch den Unterhaltsschuldner ohne Auswirkung auf Grund und Höhe des Vorschussanspruchs des Kindes nach § 3 Z 2 UVG idF FamRÄG 2009 bleibt (vgl Neumayr in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 5 UVG Rz 7; Gitschthaler/Höllwerth in ihrer Anmerkung in EFSlg 124.237). Dieses Auslegungsergebnis steht auch im Einklang mit der vom Gesetzgeber mit der Novellierung des UVG durch das FamRÄG 2009 verfolgten Zielsetzung, der schnellen und damit effektiveren Auszahlung von Vorschüssen ein stärkeres Gewicht einzuräumen und Unterhaltsvorschüsse (im Umfang der titelmäßigen Verpflichtung) künftig zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu gewähren.

Aufgrund der dargelegten Erwägungen war dem Revisionsrekurs des Bundes ein Erfolg zu versagen.

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