Spruch:
Art. 6 Abs. 1 EMRK - Unabhängigkeit des Gerichts bei Beteiligung des französischen Präsidenten als Nebenkläger im Strafverfahren.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Hinblick auf die Waffengleichheit (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Hinblick auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Am 24.9.2008 erhob die Bank Société Générale Anzeige gegen unbekannt wegen Fälschung und Betrug, nachdem der damalige Präsident Nicolas Sarkozy sich über mehrere fragwürdige Abbuchungen von seinem Bankkonto im Zusammenhang mit Telefonrechnungen beschwert hatte. Am 23.10.2008 eröffnete der Staatsanwalt von Nanterre eine strafrechtliche Untersuchung. Herr Sarkozy trat dem Verfahren als Nebenkläger bei.
Schließlich wurden der Bf. und sechs weitere Individuen vor dem Strafgericht Nanterre wegen bandenmäßigem Betrug angeklagt. Ihnen wurde vorgeworfen, über die Bankinformationen von Dritten zahlreiche Telefonkonten, Mobiltelefone und kostenpflichtige Abonnements erlangt zu haben. Mit Urteil vom 7.7.2009 wurde der Bf. für schuldig befunden und zu einem Jahr Haft verurteilt. Das Berufungsgericht Versailles änderte das Urteil dahingehend ab, dass es den Bf. zu acht Monaten Haft verurteilte. Zudem sprach es Herrn Sarkozy einen symbolischen immateriellen Schadenersatz in der Höhe von € 1,– zu. Der Cour de cassation hob dieses Urteil am 15.6.2012 auf, soweit die Begründung der Haftstrafe betroffen war. Er befasste sich auch mit den Rügen des Bf., einerseits würde durch die Intervention von Nicolas Sarkozy als Nebenkläger die Waffengleichheit verletzt, da gegen diesen während seiner Amtszeit keine Klage angestrengt oder verlangt werden konnte, dass er als Zeuge aussagte, und andererseits würde die verfassungsmäßige Befugnis des Präsidenten zur Ernennung von Richtern und Staatsanwälten Zweifel an der Unabhängigkeit bzw. Unparteilichkeit von gerichtlichen Verfahren schüren, an denen dieser beteiligt war. In diesem Zusammenhang erkannte der Cour de cassation jedoch keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Das Berufungsgericht verurteilte den Bf. am 24.1.2014 schließlich zu zehn Monaten Haft auf Bewährung.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) durch die Beteiligung des Präsidenten als Nebenkläger, da dadurch das Recht auf Waffengleichheit und das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Tribunal beeinträchtigt worden seien.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK
(42) Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).
Zur Waffengleichheit
(63) Soweit sich der Bf. über die Ungleichheit im Verhältnis zum Präsidenten beschwert, weil dieser durch Art. 67 der Verfassung vor [...] Klagen geschützt wurde, um den Missbrauch seines Auftretens als Nebenkläger zu sanktionieren, (Anm: Laut der StPO kann jemand, wenn das Strafverfahren gegen ihn eingestellt wird oder er von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen freigesprochen wird, gegen eine Person, die missbräuchlich eine Nebenklage eingebracht hat, Schadenersatz verlangen.) betont der GH, dass der Cour de cassation befand, dass die Bedingungen für eine solche Klage tatsächlich nicht erfüllt waren, da der Bf. nicht in den Genuss einer Einstellung oder eines Freispruchs kam und Herr Sarkozy die Anklage nicht selbst in Gang gebracht hatte. Unter diesen Umständen sieht der GH keinen Grund um zu befinden, dass die Intervention des Präsidenten im Verfahren den Bf. einer Gleichbehandlung im Hinblick auf die Möglichkeit zur Wahrnehmung der vorgenannten Klage beraubte. Wenn im Übrigen seine Schuld nicht festgestellt worden wäre und Herr Sarkozy die Anklage in Gang gebracht hätte, hätte der Bf. sie gemäß Art. 67 Abs. 3 der Verfassung binnen einer Frist von einem Monat nach der Beendigung der Funktion als Präsident anstrengen können. Das Gleiche gilt für die anderen vom Bf. angeführten Strafverfahren [...].
(64) Der Bf. behauptet sodann, dass die Fairness des Verfahrens seine Konfrontation mit dem Präsidenten vor dem Ermittlungsrichter oder in den Verhandlungen vor dem Gericht verlangt hätte. Der GH betont, dass der Präsident gemäß [...] Art. 67 Abs. 2 der Verfassung nicht dazu verpflichtet werden kann auszusagen. Seine Abwesenheit im Verfahren beruht somit auf einem ernstzunehmenden rechtlichen Grund, der verfassungsmäßig verankert ist, sowie auf objektiven Schutzerwägungen, die mit der Funktion der Machthaber verknüpft sind. Das verletzt für sich nicht Art. 6 EMRK.
(65) Wie dem auch sei hält der GH fest, dass die nationalen Gerichte für die Verurteilung des Bf. auf keine entscheidenden belastenden Beweise Bezug nahmen, die der Nebenkläger [...] beigebracht hätte und deren Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit im Zuge einer Vernehmung oder einer Verhandlung überprüft werden hätten müssen. Der Cour de cassation hielt fest, das Berufungsgericht hätte zurecht befunden, dass »sich die Schuld des [Bf.] sowohl aus seinem Geständnis als auch aus den Erklärungen anderer Beschuldigter und Elementen ergibt, die im Zuge der Hausdurchsuchung entdeckt wurden«. Deshalb verlangten die Natur des Falles, die verfügbaren Beweise und die sich nicht widersprechenden Versionen des Beschuldigten (des Bf.) und des Nebenklägers nicht unbedingt die Einvernahme des Letzteren.
(66) Soweit der Bf. sich auch über eine Missachtung der Waffengleichheit wegen der Unterstützung des Nebenklägers durch die Staatsanwaltschaft beschwert, stellt der GH fest, dass kein Element der Akte darauf hinweist, dass die Intervention von Herrn Sarkozy im Verfahren die Staatsanwaltschaft zu Handlungen mit dem Ziel oder der Wirkung ermutigt hätte, das Strafgericht ungebührlich zu beeinflussen oder zu verhindern, dass er sich wirksam verteidigen konnte. Ebenso hat der GH an der Schlussfolgerung des Berufungsgerichts nichts auszusetzen, wonach »die Anklage der Staatsanwaltschaft weder den legitimen Interessen noch den Grundrechten der fraglichen Personen geschadet hatte«. [...]
(67) Schließlich betont der GH, dass aus der Akte nicht hervorgeht, dass der Bf. nicht in den Genuss eines kontradiktorischen Verfahrens gekommen wäre.
(68) Angesichts des Vorgesagten befindet der GH, dass die Intervention von Herrn Sarkozy als Nebenkläger im Verfahren konkret nicht bewirkte, dass eine Ungleichheit im Hinblick auf die Rechte der Parteien und den Ablauf des Verfahrens geschaffen wurde. Daher erfolgte keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Hinblick auf die Waffengleichheit (einstimmig).
Zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts
Die Staatsanwaltschaft
(71) [...] Der Staatsanwalt war im vorliegenden Fall als strafverfolgende Partei nicht dazu aufgerufen, iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK »über die Begründetheit einer strafrechtlichen Anklage zu entscheiden«. Der GH erinnert diesbezüglich daran, dass die Staatsanwaltschaft nicht den Verpflichtungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit unterworfen werden kann, die Art. 6 EMRK einem »Tribunal«, also einem gerichtlichen Organ, auferlegt [...].
Das zur Entscheidung des Falles des Bf. aufgerufene Gericht
(72) Was die vom Bf. behauptete Parteilichkeit der Richter angeht, wiederholt der GH, dass des Ersteren Schuld durch Beweise nachgewiesen wurde, die von der Nebenklage des Präsidenten unabhängig sind. Außerdem hat der Bf. nicht behauptet, die Richter, die meritorisch entschieden haben, oder jene des Cour de cassation hätten auf Anweisung des Präsidenten gehandelt oder auf andere Weise Parteilichkeit an den Tag gelegt. Der GH befindet deshalb, dass der Ablauf des Verfahrens nichts offenbart, was die Unparteilichkeit verletzte.
(73) Was die vom Bf. behauptete fehlende Unabhängigkeit des Gerichts betrifft, betont der GH, dass der Cour de cassation nicht der Ansicht war, die Ernennung der Richter durch den Präsidenten hätte ein Abhängigkeitsverhältnis zu diesem geschaffen. Er unterstrich insbesondere, dass diese Richter durch ihre Unabsetzbarkeit geschützt und unabhängig waren und nicht Druck oder Anweisungen von Seiten der ernennenden Autorität ausgesetzt sein konnten. Somit beurteilte er die Unabhängigkeit des Gerichts allein auf objektive Weise, also mit Blick auf die gesetzliche Situation der Richter, ohne dessen Anschein von Unabhängigkeit zu berücksichtigen.
(75) Der GH hält fest, dass der Bf. seine Argumentation auf die Befugnis des Präsidenten zur Ernennung der Richter fokussiert. Laut ihm war die Ausübung dieser Befugnis in Verbindung mit der Eigenschaft des Präsidenten als Nebenkläger zumindest dem Anschein nach geeignet, Zweifel an der Unabhängigkeit des Gerichts zu schüren, das dazu aufgerufen war, in seinem Fall zu entscheiden. Der GH wird daher vor allem die Art der Ernennung der Richter analysieren um festzustellen, ob dieses Gericht als unabhängig gelten konnte. [...]
(76) Diesbezüglich befindet der GH [...], dass die gesetzliche Situation der Richter sie gegen eine mögliche Beeinträchtigung ihrer Unabhängigkeit schützt.
(77) Der GH hält fest, dass ihre Unabsetzbarkeit verfassungsmäßig garantiert ist. Er erinnert daran, dass die Unabsetzbarkeit von Richtern eine grundlegende Unabhängigkeitsgarantie der Mitglieder eines Gerichts gegen Willkür der Exekutive darstellt.
(78) Zudem [...] sind die Richter nicht dem Justizministerium untergeordnet und bei der Ausübung ihrer gerichtlichen Funktion keinem Druck und keinen Anweisungen ausgesetzt.
(79) Schließlich wird die Unabsetzbarkeit [...] im französischen Recht von genauen Regeln betreffend das Fortkommen und die Disziplin der Richter begleitet. Die Entscheidungen im Hinblick auf die Ernennung der Richter, den Verlauf ihrer Karriere, ihre Versetzung und Beförderung werden nach der Beteiligung des Conseil supérieur de la magistrature (im Folgenden: »CSM«) (Anm: Dieser bestand neben dem Staatspräsidenten als Vorsitzenden und dem Justizminister als stellvertretendem Vorsitzenden aus fünf Richtern, einem Staatsanwalt, einem Mitglied des Conseil d’État, das von diesem selbst bestimmt wird, sowie aus drei Persönlichkeiten, die weder dem Parlament noch der Justiz angehören und vom Staatspräsidenten, dem Präsidenten der Assemblée nationale bzw. dem Präsidenten des Senats bestimmt werden.) und einem kontradiktorischen Verfahren getroffen, ja sogar nach alleinigem Vorschlag des CSM für die wichtigsten Funktionen. Im Disziplinarbereich entscheidet der CSM als Disziplinarausschuss und verhängt direkt die Sanktion, sodass seine Entscheidungen in dieser Sache einen gerichtlichen Charakter aufweisen.
(80) Es bleibt die Frage der Unabhängigkeit des Gerichts angesichts der Ernennungsbefugnis des Präsidenten. Der GH wiederholt, dass allein die Ernennung von Richtern durch ein Mitglied der Exekutive keine Abhängigkeit schafft, da die Richter, wenn sie einmal ernannt sind, weder Druck ausgesetzt sind noch Anweisungen zur Ausübung ihrer gerichtlichen Funktionen erhalten.
(81) In Frankreich manifestiert sich die vom Präsidenten ausgeübte Befugnis zur Ernennung von Richtern in Form eines von ihm unterschriebenen Dekrets nach einem Vorschlag des Justizministers und nachdem eine Zustimmung durch den CSM gemäß Art. 65 der Verfassung erfolgt ist. Letzteres bedeutet, dass die Exekutive einen Richter nicht ohne diese Zustimmung ernennen kann. Zudem unterbreitet die zuständige Formation des CSM Vorschläge für die Ernennung der Richter des Cour de cassation sowie der Präsidenten der Berufungsgerichte und Landesgerichte und nimmt somit alleine die Prüfung der Kandidaturen und die Auswahl jener Kandidatur vor, die ihrer Ansicht nach berücksichtigt werden muss. Die Beschwerde des Bf. wurde daher vom Cour de cassation geprüft, [...] dessen Ratsmitglieder auf Vorschlag des CSM selbst ernannt werden. Schließlich handelt es sich beim Dekret zur Ernennung eines Richters nicht um einen Akt des Ermessens, da er Gegenstand einer Nichtigkeitsbeschwerde vor dem Conseil d’État sein kann.
(82) [...] Die Unterschrift des Präsidenten unter die Dekrete zur Ernennung neuer Richter oder zur Beförderung oder Versetzung besiegelt formal das Ende des Entscheidungsverfahrens und impliziert als solches keine Beeinträchtigung der Unabhängigkeit der davon Betroffenen. Außerdem begründet die kollegiale Ausübung des Vorschlagsrechts und der Zustimmung durch den CSM nach Meinung des GH eine wesentliche Garantie gegen die Gefahr von Druck auf die Richter von Seiten der Exekutive.
(83) Dennoch – und auch wenn die Befugnisse des CSM den geäußerten Befürchtungen im Hinblick auf die funktionelle Unabhängigkeit der Richter Rechnung tragen – war Herr Sarkozy [...] unter den Umständen des Falles noch Präsident des CSM, als die Richter des Strafgerichts von Nanterre und des Berufungsgerichts Versailles über den Fall des Bf. entschieden. Daher war er damals zugleich Präsident des CSM und Nebenkläger im betreffenden Streitfall. Die Intervention des Präsidenten im Verfahren konnte den Bf. deshalb dazu bringen, sich hinsichtlich des Einflusses desselben auf die berufliche Zukunft der Richter Gedanken zu machen, an deren Ernennung der Präsident mitwirkte und die mit einer Klage über dessen private Interessen befasst waren. Der GH befindet, dass ein solcher Eindruck dennoch nicht ausreicht, um eine mangelnde Unabhängigkeit festzustellen.
(84) Tatsächlich hat der Bf., der lediglich dazu verurteilt wurde, Herrn Sarkozy einen Euro für immateriellen Schaden zu bezahlen, kein konkretes Element aufgezeigt um nachzuweisen, dass er die objektiv gerechtfertigte Befürchtung haben konnte, dass sich die Richter des Landesgerichts Nanterre und des Berufungsgerichts Versailles unter dem Einfluss des Präsidenten befanden. Der GH beobachtet diesbezüglich, dass der den Richtern vorgelegte Fall keine Verbindung mit den politischen Funktionen von Herrn Sarkozy aufwies und dieser die Anklage weder in Gang gesetzt noch Elemente geliefert hatte, um die Schuld des Bf. festzustellen. Zudem hält der GH fest, dass der Cour de cassation sein Urteil, in welchem er die Rügen der Bf. betreffend die Waffengleichheit und die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts prüfte, am 15.6.2012 erließ – einem Zeitpunkt, als Herr Sarkozy dem CSM nicht mehr vorsaß. Tatsächlich stellt der GH fest, dass nach dem Urteil des Berufungsgerichts von Versailles vom 8.1.2010 die Reform der französischen Verfassung gemäß dem Gesetz vom 23.7.2008 in Kraft getreten ist. Damit wurde der Vorsitz in diesem Organ vom Staatspräsidenten auf den ersten Präsidenten des Verfassungsgerichts übertragen, um die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken.
(85) [...] Im vorliegenden Fall erkennt der GH angesichts des Vorgesagten und des Streitgegenstands keinen Grund dafür festzustellen, dass die Richter, die aufgerufen waren, im Fall des Bf. meritorisch zu entscheiden, nicht unabhängig iSd. Art. 6 Abs. 1 EMRK gewesen wären. [Diese Bestimmung wurde daher nicht verletzt] (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Sramek/A v. 22.10.1984 = EuGRZ 1985, 336
Sacilor Lormines/F v. 9.11.2006
Henryk Urban und Ryszard Urban/PL v. 30.11.2010
Morice/F v. 23.4.2015 (GK) = NLMR 2015, 153
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.10.2018, Bsw. 80018/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 425) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/18_5/Thiam.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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