Spruch:
Art. 10 EMRK - Vergleich von Abtreibungen mit dem Holocaust.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. führt eine Kampagne gegen Abtreibungen und betreibt dazu auch eine Website (www.babycaust.de ). Darauf waren unter anderem folgende Äußerungen zu lesen: »Den Babycaust mit dem Holocaust gleichzusetzen würde bedeuten, die heutigen Abtreibungsmorde zu relativieren.«, »KZ-Kommandanten oder Mörder von Ungeborenen sind zwei Erscheinungsformen von kriminellen Menschen!« sowie »Abtreibung ist ›MORD‹, es gibt kein anderes WORT!«. Auf der Website fand sich auch ein Link zu einem Urteil des OLG Karlsruhe, das dem Bf. untersagt hatte, von Ärzten durchgeführte Abtreibungen als Mord zu bezeichnen. Dieser Link war mit den folgenden Worten kommentiert: »Abtreibungsärzte sind von uns nicht als Mörder bezeichnet worden und werden von uns nicht als Mörder bezeichnet. ABER: Wir werden zu unserer Meinung stehen: Das vorsätzliche ›zu Tode bringen‹ eines unschuldigen Menschen ist MORD. Und wer kann ernstlich behaupten, dass bei einer ›ABTREIBUNG‹ kein unschuldiger, ungeborener Mensch vorsätzlich getötet wird?« Am Ende dieser Seite war zu lesen: »Pervertierte Ärzte ermordeten im Auftrag der Mütter die ungeborenen Kinder«. Von hier führte ein Link zu einer Liste mit den Namen und Anschriften deutscher Ärzte, die Abtreibungen durchführen. Die Liste enthielt auch eine Aufforderung, für diese Ärzte zu beten.
Auf Antrag von Dr. F., der in dieser Liste genannt wurde, untersagte das Landgericht Karlsruhe dem Bf. am 9.2.2010 die Verwendung des Begriffs »Mord« zur Beschreibung von Abtreibungen, wie sie vom Kläger durchgeführt wurden. Zudem verurteilte es ihn zur Zahlung einer Entschädigung in der Höhe von € 10.000,– wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Klägers. Auch wenn die Äußerungen im Kontext einer öffentlichen Debatte getätigt worden seien, hätte der Bf. die Persönlichkeitsrechte des Arztes gezielt angegriffen, indem er von diesem vorgenommene Schwangerschaftsabbrüche als Mord bezeichnet und sie mit den Verbrechen des Holocaust gleichgesetzt hatte. Durch die Nennung des Namens und der Anschrift der Praxis des Klägers hätte er zudem eine Prangerwirkung geschaffen.
Das OLG Karlsruhe wies die vom Bf. gegen dieses Urteil erhobene Berufung am 2.2.2011 ab. Das BVerfG erklärte seine Beschwerde am 18.4.2011 ohne Angabe von Gründen für unzulässig.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) durch das Urteil, mit dem er zur Unterlassung und zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet wurde.
Zur Zulässigkeit
(23) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(30) Zunächst stellt der GH fest [...], dass die Unterlassungsanordnung und die Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung Eingriffe in das Recht des Bf. auf Freiheit der Meinungsäußerung begründeten, dass diese Eingriffe gesetzlich vorgesehen waren – nämlich in § 823 und § 1004 BGB – und dass sie das legitime Ziel des Schutzes der Rechte anderer verfolgten. Zu entscheiden bleibt daher, ob die Eingriffe »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« waren.
(34) [...] Das Landgericht klassifizierte die Äußerungen nicht als Tatsachenbehauptungen, sondern als Äußerungen einer Meinung. Der GH geht daher von der Annahme aus, dass die Äußerungen als Werturteile anzusehen sind. In diesem Kontext erinnert er daran, dass die Wahrheit von Werturteilen im Gegensatz zu Tatsachen keinem Beweis zugänglich ist [...]. Allerdings muss auch ein Werturteil auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhen, da es andernfalls exzessiv ist.
(35) [...] Die innerstaatlichen Gerichte gingen davon aus, dass die Website die allgemeine Aussage enthielt, Schwangerschaftsabbrüche, wie sie von Dr. F. durchgeführt wurden, wären als Mord anzusehen. Angesichts der Äußerungen des Bf. [...] stimmt der GH dieser Ansicht zu. Der GH nimmt das Argument des Bf. zur Kenntnis, wonach Abtreibungen als Mord iSv. § 211 StGB angesehen werden könnten. Er bemerkt jedoch auch, dass § 218 StGB die Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen, die nicht nach § 218a StGB straffrei sind, klar darlegt und dass es keine innerstaatliche Judikatur oder sonstige Hinweise im innerstaatlichen Recht gibt, von denen die Ansicht des Bf. gestützt würde. Insgesamt findet der GH daher, dass es keine ausreichende Tatsachengrundlage dafür gab, die von Dr. F. durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche als »Mord« zu bezeichnen. Wie in diesem Zusammenhang festzustellen ist, waren diese Anschuldigungen nicht nur sehr schwerwiegend, was sich in der für Mord angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe widerspiegelt, sondern sie waren auch geeignet, zu Hass und Aggression aufzustacheln.
(36) [...] Die innerstaatlichen Gerichte rechtfertigten die Unterlassungsanordnung und die Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung zudem mit dem vom Bf. angestellten Vergleich zwischen Abtreibung und dem Holocaust und den Gräueltaten des NS-Regimes. Der GH erinnert daran, dass die Wirkung einer Meinungsäußerung auf die Persönlichkeitsrechte einer anderen Person nicht vom historischen und gesellschaftlichen Kontext losgelöst werden kann, in dem die Äußerung gefallen ist, und dass Bezüge zum Holocaust im spezifischen Kontext der deutschen Geschichte gesehen werden müssen.
(37) Im Fall Annen/D gelangte der GH zur Ansicht, der in dem umstrittenen Flugblatt enthaltene Bezug zum Holocaust könne für sich alleine eine zivilrechtliche Unterlassunganordnung nicht rechtfertigen, da der Bf. die Abtreibung nicht ausdrücklich mit dem Holocaust verglichen hätte und sein Hinweis auf die Tötung von Menschen in Auschwitz auch als Weg verstanden werden könnte, um ein stärkeres Bewusstsein für die allgemeine Tatsache zu schaffen, dass das Recht von der Moral abweichen kann. Allerdings gingen die Äußerungen des Bf. im vorliegenden Fall über jene hinaus, die in Annen/D geprüft wurden. Der Bf. verglich Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, mit KZ-Kommandeuren und behauptete sogar, »den Babycaust mit dem Holocaust gleichzusetzen würde bedeuten, die heutigen Abtreibungsmorde zu relativieren«. Angesichts dieser Äußerungen stimmt der GH den Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte zu, wonach der Bf. die ärztlichen Tätigkeiten von Dr. F. mit den absolut nicht zu rechtfertigenden Gräueltaten gleichsetzte, die den Juden unter der NS-Herrschaft zugefügt wurden.
(38) Insgesamt findet der GH, dass die Behauptung des Bf. keine ausreichende Tatsachengrundlage hatte und den guten Ruf von Dr. F. schwerwiegend beeinträchtigte. Folglich waren die von den innerstaatlichen Gerichten vorgebrachten Gründe nicht nur relevant, sondern auch ausreichend, um den Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. zu rechtfertigen.
(39) Wie der GH abschließend feststellt, wurde der Bf. nicht wegen Verleumdung strafrechtlich verurteilt. Was die zivilrechtliche Unterlassungsanordnung betrifft, [...] wurde der Bf. nicht daran gehindert, sich generell gegen Abtreibungen einzusetzen, sondern es wurde ihm nur verboten, Schwangerschaftsabbrüche, wie sie von Dr. F. durchgeführt wurden, als Mord zu bezeichnen. Was den Schadenersatz betrifft, [...] legten die innerstaatlichen Gerichte detailliert dar, warum die Verletzungen der Persönlichkeitsrechte von Dr. F. besonders schwerwiegend waren und warum sie eine Entschädigung im vorliegenden Fall für angemessen hielten. Zwar akzeptiert der GH, dass dieser Eingriff in das Recht des Bf. auf freie Meinungsäußerung stärker war als in Fällen, in denen ihm nur die Unterlassung einer bestimmten Äußerung aufgetragen wurde, doch ist er angesichts der Begründung der innerstaatlichen Gerichte der Ansicht, dass der Dr. F. zugesprochene Betrag nicht außerhalb ihres Ermessensspielraums lag.
(40) Unter diesen Umständen gelangt der GH zu dem Ergebnis, dass [...] der Eingriff in das Recht des Bf. auf freie Meinungsäußerung von den innerstaatlichen Gerichten als in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz des guten Rufs und der Rechte von Dr. F. notwendig angesehen werden konnte. Folglich hat keine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Hachette Filipacchi Associés/F v. 14.6.2007 = NL 2007, 140
Hoffer und Annen/D v. 13.11.2011 = NLMR 2011, 18
Axel Springer AG/D v. 7.2.2012 (GK) = NLMR 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294
Delfi AS/EST v. 16.6.2015 (GK) = NLMR 2015, 232
Annen/D v. 16.11.2015 = NLMR 2015, 528
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.9.2018, Bsw. 70693/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 455) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/18_5/Annen5.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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