Spruch:
Art. 14 EMRK, Art. 5 EMRK - Lebenslange Freiheitsstrafe nur für erwachsene männliche Straftäter im Alter von 18 bis 65 Jahren ist EMRK-konform.
Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 5 EMRK durch die unterschiedliche Behandlung aufgrund des Alters (16:1 Stimmen).
Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 5 EMRK durch die unterschiedliche Behandlung aufgrund des Geschlechts (10:7 Stimmen).
Begründung:
Sachverhalt:
Die beiden Bf. verbüßen jeweils eine lebenslange Freiheitsstrafe nach rechtskräftiger Verurteilung unter anderem wegen versuchten und mehrfachen Mordes.
§ 57 Abs. 1 russisches StGB sieht vor, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe für besonders schwerwiegende Verbrechen gegen das Leben und die öffentliche Sicherheit verhängt werden darf. Gemäß § 57 Abs. 2 leg. cit. sind davon Frauen, Personen, welche zum Zeitpunkt der Begehung der Tat das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, und Männer, die zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung 65 Jahre alt oder älter waren, ausgenommen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Den Bf. zufolge stelle ihre Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe eine diskriminierende Behandlung aufgrund des Geschlechts bzw. Alters in Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) dar, da bestimmte Personengruppen von einer vergleichbaren Strafe ausgenommen seien.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm.
Zur Anwendbarkeit von Art. 14 iVm. Art. 5 EMRK
Fielen die Umstände des Falles in den Anwendungsbereich von Art. 5 EMRK?
(57) Erwähnenswert ist, dass [...] [von der ehemaligen EKMR] in gewissen Fällen die Strafmaßnahme selbst – also nicht deren Vollstreckung – als problematisch unter Art. 14 iVm. Art. 5 EMRK erachtet wurde, wenn gemäß innerstaatlichem Recht bei Straftätern Unterschiede nach Alter und Geschlecht gemacht wurden.
(58) Art. 5 EMRK schließt die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nicht aus, wenn eine solche Bestrafung vom nationalen Recht vorgesehen ist. [...] Art. 14 EMRK [...] findet jedoch auch auf solche zusätzlichen Rechte im allgemeinen Geltungsbereich jeder Konventionsbestimmung Anwendung, deren Gewährleistung der Staat aus freien Stücken übernommen hat. [...]
(59) Wenn die nationale Gesetzgebung daher gewisse Kategorien von verurteilten Straftätern von der lebenslangen Freiheitsstrafe ausnimmt, so fällt dies in den Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 1 iVm. Art. 14 EMRK.
(60) Insoweit sich die Bf. daher über angeblich diskriminierende Auswirkungen der in § 57 StGB enthaltenen Strafbestimmungen beschweren, findet der GH, dass die Umstände des vorliegenden Falls in den Anwendungsbereich von Art. 5 EMRK fallen.
Bezog sich die behauptete Ungleichbehandlung auf einen der in Art. 14 EMRK erwähnten Gründe?
(62) Laut den Bf. würde § 57 StGB eine Sanktionspolitik etablieren, die hinsichtlich lebenslanger Freiheitsstrafe anhand Alter und Geschlecht differenziere. Der GH merkt an, dass das »Geschlecht« von Art. 14 EMRK explizit als Diskriminierungsgrund erwähnt wird, während er bezüglich des »Alters« bereits anerkannt hat, dass dieses Konzept von dieser Bestimmung ebenfalls erfasst wird.
Ergebnis
(63) Im Lichte der obigen Erwägungen kommt der GH zu dem Schluss, dass Art. 14 iVm. Art. 5 EMRK auf den vorliegenden Fall anwendbar ist.
Zur Einhaltung von Art. 14 iVm. Art. 5 EMRK
(66) Der GH muss zuerst darüber entscheiden, ob es im vorliegenden Fall zu einer Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren oder entsprechenden ähnlichen Situationen kam.
(67) Die Rüge der Bf. richtet sich auf die Verurteilung von Straftätern, die besonders schwerer Verbrechen für schuldig befunden wurden, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet werden können. Sie erhielten eine solche Strafe, während hingegen ein weiblicher, jugendlicher oder mindestens 65 Jahre alter Straftäter, der desselben oder eines vergleichbaren Verbrechens für schuldig befunden wird, wegen des in § 57 StGB festgelegten Verbots keine lebenslange Freiheitstrafe erhalten würde.
(68) Die Bf. befanden sich daher in einer analogen Situation zu anderen Straftätern, die wegen desselben oder eines vergleichbaren Verbrechens verurteilt worden waren. [...]
(69) [Zur Frage, ob die unterschiedliche Behandlung im vorliegenden Fall gerechtfertigt war] [...], ist unbestritten, dass die genannte Ausnahme in einer unterschiedlichen Behandlung aufgrund des Geschlechts bzw. des Alters resultierte. Bleibt zu prüfen, ob diese unterschiedliche Behandlung ein legitimes Ziel verfolgte und ob eine ausreichende Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Mitteln und dem anvisierten Ziel bestand. Dabei muss auch der Ermessensspielraum berücksichtigt werden, den die Staaten in diesem Bereich genießen.
(70) Die Regierung beharrte darauf, dass die unterschiedliche Behandlung auf die Förderung der Prinzipien der Gerechtigkeit und Menschlichkeit abziele, was es aus Sicht der Strafpolitik erforderlich mache, das Alter und »physiologische Charakteristiken« verschiedener Kategorien von Straftätern miteinzubeziehen. Nach Ansicht des GH muss dieses Ziel im Kontext der Strafpolitik [...] als legitim angesehen werden.
(72) Die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe über einen Erwachsenen wegen Begehung besonders schwerer Straftaten wird von Art. 3 EMRK oder einer anderen Konventionsbestimmung als solche weder verboten noch ist sie damit unvereinbar (vgl. Murray/NL [GK], Vinter u.a./GB [GK], Kafkaris/CY [GK]). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine derartige Strafe nicht verpflichtend [bzw. automatisch], sondern von einem unabhängigen Gericht nach Einbeziehung aller strafmildernden und -erschwerenden Faktoren auferlegt wurde.
(73) Der GH hat wiederholt bekräftigt, dass die Konvention ein lebendiges Instrument ist, dass im Lichte der heutigen Bedingungen bzw. der in den demokratischen Staaten gegenwärtig vorherrschenden Ideen auszulegen ist. [...] Die Fortschritte in Richtung einer kompletten de facto und de jure-Abschaffung der Todesstrafe innerhalb der Mitgliedstaaten des Europarates können als Beispiel für diese andauernde Entwicklung [des Konzepts der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Strafe oder Behandlung] angeführt werden. Das Territorium des Europarats ist nun eine todesstrafenfreie Zone geworden und der GH hat anerkannt, dass das reale Risiko für einen Bf., zum Tode verurteilt und hingerichtet zu werden, Fragen unter Art. 3 EMRK aufwerfen kann.
(74) Die Situation hinsichtlich der lebenslangen Freiheitsstrafe ist jedoch eine andere. Wie die Dinge derzeit stehen, bleibt die lebenslange Freiheitsstrafe als Bestrafung für besonders schwere Verbrechen mit der Konvention vereinbar. Die Idee, dass die Auferlegung einer lebenslangen Freiheitsstrafe über einen erwachsenen Straftäter aufgrund ihrer Irreversibilität im Hinblick auf Art. 3 EMRK problematisch sein könnte, ist relativ neu (vgl. Kafkaris/CY). In Vinter u.a./GB zog der GH folgende Schlussfolgerungen (Rn. 119-120):
»Der GH ist der Ansicht, dass im Kontext von lebenslangen Freiheitsstrafen Art. 3 EMRK dahingehend ausgelegt werden muss, dass er die Reduzierbarkeit der Strafe erfordert – und zwar im Sinne einer Überprüfung, die es den nationalen Behörden erlaubt, zu berücksichtigen, ob Änderungen beim Häftling so bedeutend sind und während der Strafe ein solcher Fortschritt in Richtung Resozialisierung gemacht wurde, dass eine fortdauernde Haft nicht länger aus legitimen Strafvollzugsgründen gerechtfertigt werden kann.
[...] Die rechtsvergleichenden und internationalen Materialien legen die Einrichtung eines geeigneten Überprüfungsmechanismus nicht später als 25 Jahre nach der Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe mit weiteren Überprüfungen danach nahe.«
(75) Die Vertragsstaaten sind daher im Prinzip frei bei der Entscheidung, ob lebenslange Freiheitsstrafen eine geeignete Bestrafung für besonders schwere Verbrechen darstellen, jedoch ist ihr Ermessen in diesem Bereich nicht uneingeschränkt, sondern gewissen Minimalerfordernissen unterworfen. [...]
(76) Die Bf. wurden nach Durchführung eines kontradiktorischen Verfahrens jeweils zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, in dem sie Argumente zu ihrer Verteidigung vorbringen und ihre Ansichten über eine geeignete Bestrafung äußern konnten. Obwohl sie ursprünglich behauptet hatten, dass die Strafverfahren prozessuale Mängel aufgewiesen hätten, wies der GH ihre diesbezüglichen Einwände nach sorgfältiger Überprüfung als unbegründet ab (vgl. die ZE vom 27.9.2011 bzw. vom 13.5.2014). Entscheidend für den Ausgang des Prozesses gegen die Bf. waren die spezifischen Umstände ihrer Fälle, wobei die über sie verhängten Strafen das Ergebnis einer individualisierten Anwendung des Strafrechts durch das Verhandlungsgericht waren, dessen Ermessen im Hinblick auf die Wahl einer geeigneten Strafe aufgrund der in § 57 Abs. 2 StGB festgelegten Erfordernisse nicht eingeschränkt war. Unter diesen Umständen erscheinen die über die Bf. verhängten lebenslangen Freiheitsstrafen mit Blick auf die strafvollzugsrechtlichen Ziele des Schutzes der Gesellschaft und der generellen und individuellen Abschreckung weder willkürlich noch unangemessen. Darüber hinaus wird den Bf. nach 25 Jahren verbüßter Haft die Möglichkeit vorzeitiger Entlassung offenstehen, sofern von ihnen in den vorangegangenen drei Jahren die Gefängnisregeln vollständig befolgt wurden (vgl. § 79 Abs. 5 StGB). Zu vergleichbaren Problemen, wie sie in den Fällen Murray/GB und Vinter u.a./GB auftraten, wird es daher nicht kommen.
(77) Der GH erinnert daran, dass die Konventionsstaaten bei der Beurteilung, ob und in welchem Ausmaß Unterschiede in ansonsten gleichartigen Situationen eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen, einen Beurteilungsspielraum genießen. [...]
(78) Andererseits hat der GH wiederholt festgehalten, dass auf dem Geschlecht basierende Unterschiede besonders gewichtige Rechtfertigungsgründe erfordern und dass eine Bezugnahme auf Traditionen, allgemeine Annahmen oder vorherrschende soziale Gepflogenheiten in einem bestimmten Land für sich nicht als ausreichende Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung angesehen werden kann – ebenso wenig wie ähnliche Stereotypen basierend auf Rasse, Herkunft, Hautfarbe oder sexueller Orientierung. Andererseits hat er auch angemerkt, dass es nicht seine Aufgabe sei, über die angemessene Dauer der Haft für eine bestimmte Straftat zu entscheiden, darüber zu befinden, welche Haftdauer angemessen wäre oder welche andere Strafe einer Person nach Verurteilung durch das zuständige Gericht auferlegt werden sollte.
(79) Ein zusätzlicher Faktor, der für die Bestimmung des Ausmaßes des einem Staat zugestandenen Ermessensspielraums relevant sein kann, ist das Bestehen oder Fehlen eines europäischen Konsenses. [...]
(80) Zuerst einmal sieht der GH keinen Grund, die bezüglich der Gruppe der erwachsenen Straftäter (die von lebenslanger Freiheitsstrafe nicht ausgenommen sind und zu der die Bf. gehören) im Vergleich zu jugendlichen Straftätern [...] gemachte Unterscheidung anzuzweifeln. In der Tat stimmt die Ausnahmeregelung für jugendliche Straftäter mit dem Ansatz überein, der den Rechtssystemen aller Konventionsstaaten gemeinsam ist, nämlich dass die Verhängung von lebenslanger Freiheitsstrafe über Personen, die von den jeweiligen innerstaatlichen Rechtssystemen als Jugendliche eingestuft werden, ausnahmslos untersagt ist. Besagte Ausnahme steht auch im Einklang mit der [2007 gemachten] Empfehlung des UN-Kinderrechtsausschusses, alle Formen lebenslanger Freiheitsstrafe für Straftäter unter 18 Jahren abzuschaffen, und mit der Resolution A/RES/67/166 der UN-Generalversammlung vom 20.12.2012, mit der die Staaten aufgefordert werden, die Abschaffung von lebenslanger Freiheitsstrafe für diese Altersgruppe zu erwägen. Zweck ist die Erleichterung der Rehabilitation jugendlicher Delinquenten. Der GH ist der Ansicht, dass wenn jugendliche Straftäter für noch so schwerwiegende Taten zur Rechenschaft gezogen werden, gleichzeitig von ihrer Unreife – sowohl mental als auch emotional – ausgegangen werden muss, wobei auch auf die größere Formbarkeit ihrer Persönlichkeit und ihre Resozialisierungs- bzw. Erneuerungsfähigkeit abzustellen ist.
(81) Insoweit sich die Bf. zweitens über eine Ungleichbehandlung gegenüber Straftätern im Alter von 65 Jahren oder mehr beklagen [...], sieht der GH vor dem Hintergrund der Vinter-Prinzipien, wonach eine lebenslange Freiheitsstrafe nur dann mit Art. 3 EMRK vereinbar ist, wenn eine Aussicht auf Entlassung und die Möglichkeit der Überprüfung der Anhaltung besteht (und zwar beides vom Zeitpunkt der Auferlegung der Strafe an), keinen Grund für die Annahme, dass es besagter Ausnahmeregel [...] an einer objektiven und vernünftigen Rechtfertigung mangelte. Aus dem vorliegenden Material wird [...] ersichtlich, dass sich der Zweck dieser Bestimmung im Prinzip mit den Interessen überschneidet, die der Berechtigung für eine vorzeitige Entlassung von erwachsenen männlichen Straftätern unter 65 Jahren (wie die Bf.) nach 25 Jahren verbüßter Haft zugrundeliegen. Bereits in Vinter u.a./GB wurde betont, dass dies ein gemeinsamer Ansatz in lebenslange Freiheitsstrafe zulassenden nationalen Rechtssystemen ist (vgl. Rn. 74 oben). Die Reduzierbarkeit einer lebenslangen Freiheitsstrafe entfaltet für ältere Straftäter sogar mehr Gewicht, sollte sie nicht eine bloße illusorische Möglichkeit bleiben. Indem die Verhängung von lebenslangen Freiheitsstrafen durch das Vorsehen einer Altersgrenze eingeschränkt wird, nutzte der russische Gesetzgeber eine vom mehreren ihm zur Verfügung stehenden Methoden, eine Aussicht auf Entlassung einer angemessenen Zahl von Häftlingen sicherzustellen und agierte somit innerhalb seines Ermessensspielraums im Einklang mit den Konventionsstandards.
(82) Wenn sich nun die Bf. drittens wegen der unterschiedlichen Behandlung gegenüber erwachsenen weiblichen Straftätern derselben Altersgruppe wie die ihre (18 bis 65 Jahre) benachteiligt erachten [...], hat der GH Kenntnis von verschiedenen europäischen und internationalen Instrumenten genommen, die sich dem Bedürfnis von Frauen vor Schutz gegen geschlechtsbasierte Gewalt, Missbrauch und sexuelle Belästigung im Gefängnis wie auch dem Schutz von Schwangeren und Müttern widmen. Die Regierung legte Statistiken vor, wonach zwischen der Gesamtzahl der männlichen und weiblichen Häftlinge beträchtliche Schwankungen bestehen. Sie wies auch auf die relativ geringe Anzahl von zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Häftlingen hin. (Anm: Mit Stand 1.11.2011 waren in Russland 1.802 Straftäter zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. 533.024 Personen saßen in russischen Gefängnissen ein, davon waren 42.511 Häftlinge weiblichen Geschlechts.) [...] Die besonderen Umstände des Falles, die verfügbaren Daten und die oben angesprochenen Elemente reichen für den GH aus, um zu dem Schluss zu gelangen, dass ein öffentliches Interesse an der Befreiung von weiblichen Straftätern von lebenslanger Freiheitsstrafe im Wege einer generellen Regelung vorlag.
(83) Erwähnenswert ist ferner, dass jenseits des Konsenses, keine lebenslange Freiheitsstrafe für jugendliche Straftäter zu verhängen und eine nachfolgende Überprüfung in jenen Rechtssystemen vorzusehen, wo eine solche über männliche Straftäter verhängt werden kann, wenig Gemeinsamkeiten in den innerstaatlichen Rechtssystemen der Vertragsstaaten auf diesem Gebiet bestehen. Während lebenslange Freiheitsstrafen in neun Vertragsstaaten nicht existieren [...], hat sich eine Mehrheit der Vertragsstaaten die Möglichkeit vorbehalten, diese für besonders schwere Verbrechen zu verhängen. Innerhalb dieser Gruppe besteht keine Einhelligkeit, was die Altersgrenze betrifft, ab der die Ausnahmeregelung gelten soll: viele Staaten haben sie auf 18 Jahre fixiert, in anderen variiert sie zwischen 18 und 21 Jahren.
(84) Die unterschiedlichen Ansätze bei anderen Gruppen von Straftätern, die aus Sicht der Vertragsstaaten von einer lebenslangen Freiheitsstrafe ausgenommmen werden sollen, sind noch augenfälliger. Manche haben ein spezielles Strafsystem für Straftäter im Alter zwischen 60 und 65 Jahren etabliert. (Anm: In vier Vertragsstaaten (Aserbaidschan, Georgien, Rumänien, Ukraine) dürfen Straftäter, die das Pensionsalter erreicht haben, nicht zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt werden.) Andere haben sich dazu entschieden, weibliche Straftäter, die zum Zeitpunkt der Tatbegehung bzw. der Urteilsverkündung schwanger waren, von lebenslanger Freiheitsstrafe auszunehmen. Wiederum eine andere Gruppe – einschließlich Russland – dehnte diesen Ansatz auf alle weiblichen Straftäter aus.
(85) Es ist ganz natürlich, dass nationale Behörden, deren Aufgabe es ist, [...] die Interessen der Gesellschaft als Ganzes zu berücksichtigen, ein weites Ermessen bei der Regelung sensibler Angelegenheiten wie der Strafpolitik genießen sollten. [...] Da die hier aufgeworfenen delikaten Fragen ein Gebiet berühren, auf dem wenig Gemeinsamkeiten unter den Mitgliedstaaten des Europarates existieren und – allgemein gesagt – sich das Recht in einem Übergangsstadium befindet, muss den Behörden der Staaten ein weites Ermessen eingeräumt werden.
(86) Es dürfte sich daher als schwierig erweisen, den russischen Gesetzgeber dafür zu kritisieren, dass er in einer Art und Weise, welche die Entwicklung der Gesellschaft in diesem Bereich widerspiegelt, bestimmte Gruppen von Straftätern von der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafen ausgenommen hat. Eine derartige Ausnahme stellt – von allen Seiten betrachtet – einen sozialen Fortschritt in Angelegenheiten des Strafvollzugs dar. [...] Der GH sieht sich außerstande, einen internationalen Trend in Richtung Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe oder – im Gegenteil – positive Unterstützung für sie wahrzunehmen. Er nimmt aber zur Kenntnis, dass diese Strafform in Europa in dem Sinn eingeschränkt ist, dass sie einer Reduktion zugänglich sein muss (vgl. Vinter u.a./GB), wodurch sich für die Mitgliedstaaten des Europarates weitere positive Verpflichtungen ergeben können. In Ermangelung eines gemeinsamen Konsenses über die Auferlegung lebenslanger Freiheitsstrafe haben die russischen Behörden jedenfalls ihren Ermessensspielraum nicht überschritten. [...]
(87) Zusammenfassend gesagt wäre es dem belangten Staat durchaus möglich gewesen, die Ausnahmen von der lebenslangen Freiheitsstrafe in Verfolgung seines Ziels der Förderung der Prinzipien der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit auf alle Kategorien von Straftätern auszudehnen, jedoch war er dazu nach der Konvention in ihrer Auslegung durch den GH nicht verpflichtet. [...] [D]er GH ist daher überzeugt, dass ein angemessenes Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem verfolgten legitimen Ziel bestand. Die angefochtenen Ausnahmeregelungen stellen somit keine verbotene Ungleichbehandlung [...] dar. [...]
(88) Im Lichte obiger Erwägungen kommt der GH zu dem Ergebnis, dass keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 5 EMRK stattgefunden hat, ob nun hinsichtlich der unterschiedlichen Behandlung aufgrund des Alters (16:1 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Mits; abweichendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque) oder des Geschlechts (10:7 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richter Sajó, Richterin Nußberger, Richterin Turkovic und von Richter Mits; gemeinsames teilweise abweichendes Sondervotum der Richterinnen und Richter Sicilianos, Møse, Lubarda, Mourou-Vikström und Kucsko-Stadlmayer; abweichendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).
Vom GH zitierte Judikatur:
Nelson/GB v. 13.10.1986 (ZE der EKMR)
A. P./GB v. 8.1.1992 (ZE der EKMR)
Kafkaris/CY v. 10.2.2008 (GK) = NL 2008, 24
Vinter u.a./GB v. 9.7.2013 (GK) = NLMR 2013, 241
Murray/NL v. 26.4.2016 (GK) = NLMR 2016, 110
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 24.1.2017, Bsw. 60367/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2017, 54) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/17_1/Khamtokhu Aksenchik.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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