Spruch:
Art. 8 EMRK - Keine Möglichkeit für Transsexuellen, den Vornamen vor Geschlechtsumwandlung zu ändern.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den von der Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar. € 2.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf. wurde nach ihrer Geburt im Personenstandsregister als Person männlichen Geschlechts eingetragen und erhielt einen männlichen Vornamen. Nach ihren eigenen Angaben empfand sie ihre sexuelle Identität jedoch von Anfang an als weiblich und pflegte gesellschaftliche Beziehungen als Frau mit dem weiblichen Vornamen S. Ebenso trat sie im Arbeitsleben als Frau auf und wurde von ihren Kolleginnen und Kollegen entsprechend behandelt. Auch das Foto ihres im August 2000 ausgestellten Personalausweises weist sie vom Erscheinungsbild her als Frau aus.
1999 begann die Bf. mit einer Hormontherapie zur Vorbereitung einer chirurgischen Geschlechtsumwandlung. Im November 2000 wandte sie sich mit einem auf Art. 3 des Gesetzes Nr. 164/1982 gestützten Antrag an das Zivilgericht von Rom und ersuchte um Erlaubnis, sich einem chirurgischen Eingriff zwecks endgültiger Umwandlung ihrer äußeren Geschlechtsmerkmale unterziehen zu dürfen. Das Gericht gab dem Antrag mit Urteil vom 10.5.2001 statt.
Am 30.5.2001 beantragte die Bf. beim Präfekten von Rom unter Berufung auf Art. 89 des präsidentiellen Dekrets Nr. 396/2000 (Anm: Diese Bestimmung sieht – unbeschadet anderer anwendbarer Bestimmungen auf dem Gebiet der Berichtigung des Personenstandsregisters – die Möglichkeit für eine Person vor, die Änderung ihres Vor- bzw. Familiennamens unter anderem aus dem Grund, dass dieser für sie schmachvoll ist, zu begehren.) die Änderung ihres männlichen Vornamens. Begründend führte sie aus, angesichts ihres vor mehreren Jahren begonnenen Geschlechtsumwandlungsprozesses und ihres äußeren Erscheinungsbildes sei die Angabe eines männlichen Vornamens auf ihren Identitätspapieren erniedrigend und demütigend.
Mit Entscheidung vom 4.7.2001 wies der Präfekt den Antrag der Bf. mit der Begründung ab, Art. 35 des präsidentiellen Dekrets Nr. 396/2000 zufolge müsse der Vorname einer Person ihrem Geschlecht entsprechen. Da keine rechtskräftige Gerichtsentscheidung iSd. Gesetzes Nr. 164/1982 vorliege, mit welcher einem Antrag auf Berichtigung des Geschlechts stattgegeben worden sei, könne der Vorname der Bf. nicht geändert werden.
Die Bf. erhob dagegen Beschwerde beim regionalen Verwaltungsgericht (im Folgenden: RVG). Mit Urteil vom 6.3.2008 wies dieses das Rechtsmittel mit dem Hinweis ab, im vorliegenden Fall habe Art. 89 des präsidentiellen Dekrets Nr. 396/2000 betreffend die Änderung des Vornamens nicht Anwendung finden können, vielmehr sei das Gesetz Nr. 164/1982 bezüglich der Berichtigung der Geschlechtsbezeichnung heranzuziehen gewesen. Letzteres sehe vor, dass die Berichtigung des Zivilstandes einer transsexuellen Person von jenem Gericht zu genehmigen sei, welches auch über die Vornahme einer Geschlechtsumwandlung entscheide. Der Präfekt habe somit den Antrag der Bf. zu Recht abgelehnt.
Die Bf. verzichtete auf die Einlegung eines Rechtsmittels gegen diese Entscheidung.
Noch während des anhängigen Verfahrens vor dem RVG unterzog sich die Bf. einer geschlechtsumwandelnden Operation. Sie rief daraufhin das Zivilgericht von Rom an und begehrte gemäß Art. 3 des Gesetzes Nr. 164/1982 die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsumwandlung. Am 10.10.2003 gab dieses dem Antrag statt und wies die regionale Personenstandsbehörde an, die Bf. im Geburtenregister mit weiblichem Geschlecht bzw. Vornamen einzutragen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens). Sie bringt vor, die Weigerung des Präfekten, ihrem Antrag auf Änderung ihres Vornamens nachzukommen, weil sie sich zu diesem Zeitpunkt noch keiner geschlechtsumwandelnden Operation unterzogen hatte, habe ihr Recht auf Achtung des Privatlebens verletzt.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK
Zur Zulässigkeit
Opfereigenschaft
(32) Die Bf. erachtet sich ungeachtet der Tatsache, dass ihr mit Urteil des Zivilgerichts von Rom vom 10.10.2003 die Namensänderung gestattet wurde, nach wie vor als Opfer einer Konventionsverletzung [...].
(33) Obwohl die Regierung keine Einrede hinsichtlich der Opfereigenschaft der Bf. vorgebracht hat, hindert dies den GH nicht daran, diese Frage [...] aus eigenem Antrieb zu prüfen.
(35) Im vorliegenden Fall ist zwar einzuräumen, dass die nationalen Behörden eine für die Bf. günstige Entscheidung [...] getroffen haben. Dennoch kann der GH nicht die dem Ausgangsstreit zugrunde liegende Situation ignorieren, nämlich dass die Bf. aufgrund der Weigerung der Gerichte für mehr als zweieinhalb Jahre keine Änderung ihres Vornamens erwirken konnte. Er ist daher der Ansicht, dass diese Weigerung während dieses Zeitraums direkte Auswirkungen auf das Privatleben der Bf. hatte. Im Übrigen enthalten weder das Urteil vom 10.10.2003 noch die anderen innerstaatlichen Entscheidungen [...] eine ausdrückliche Anerkennung einer Konventionsverletzung. Ebenso kann auch die der Bf. erteilte Genehmigung [der Namensänderung] nicht als sinngemäße Anerkennung einer Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens interpretiert werden.
(36) Daraus folgt, dass die Bf. sich unverändert als »Opfer« iSv. Art. 34 EMRK erachten kann.
Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs
(37) Die Regierung wendet ein, die Bf. habe den innerstaatlichen Instanzenzug nicht ausgeschöpft, da sie das Urteil des RVG nicht angefochten habe. [...]
(43) Die Regierung beschränkte sich auf den Hinweis, dass eine Beschwerde an den Staatsrat es der Bf. ermöglicht hätte, Wiedergutmachung für die behauptete Konventionsverletzung zu erlangen, ohne jedoch ihr Vorbringen mit Beispielen aus der Gerichtsbarkeit bzw. der gefestigten Praxis zu belegen.
(44) Der GH kommt daher angesichts der ihm vorliegenden Elemente zu dem Schluss, dass – sofern die Bf. darauf vertrauen durfte, dass ihrem Antrag [...] angesichts der vor dem Inkrafttreten des präsidentiellen Dekrets Nr. 396/2000 existierenden Praxis entsprochen worden wäre – sie aus dem rechtlichen Zusammenhang, wie er 2008 gegeben war, berechtigterweise erwarten durfte, dass einer Beschwerde an den Staatsrat kein Erfolg beschieden sein würde. Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen.
(45) Da dieser Beschwerdepunkt nicht offensichtlich unbegründet [...] und nicht aus anderen Gründen unzulässig ist, muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK
(57) Der vorliegende Fall betrifft die fehlende Möglichkeit für eine transsexuelle Person, ihren Vornamen vor Vollendung des endgültigen geschlechtlichen Übergangsprozesses im Wege einer geschlechtsumwandelnden Operation ändern zu können. Es handelt sich dabei um eine unterschiedliche Problematik im Vergleich zu bereits vom GH entschiedenen Beschwerden von transsexuellen Personen [...].
(58) Die angesprochene Problematik fällt nichtsdestotrotz unstrittig in den Anwendungsbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens [...], hat doch der GH oftmals in Angelegenheiten betreffend die Wahl oder die Änderung des (Vor-)Namens von natürlichen Personen die Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK bejaht.
(59) Diese Konventionsbestimmung ist daher in ihrem Aspekt »Privatleben« anwendbar [...].
?
Befolgung von Art. 8 EMRK
(63) Die Kernfrage, die sich im vorliegenden Fall stellt, ist die, ob Italien im Rahmen seines ihm zustehenden Ermessensspielraums ein gerechtes Gleichgewicht zwischen dem allgemeinen und dem privaten Interesse der Bf. daran hergestellt hat, dass ihr Vorname ihrem geschlechtlichen Erscheinungsbild entspricht.
(64) Der GH hält zuerst fest, dass das italienische Recht die rechtliche Anerkennung des geschlechtlichen Erscheinungsbildes von transsexuellen Personen im Wege der Berichtigung ihres Personenstandes in Übereinstimmung mit dem Gesetz Nr. 164/1982 gestattet.
(67) Er merkt weiters an, dass die Bf. nach dem Urteil des Zivilgerichts von Rom vom 10.5.2001, mit dem ihrem Antrag auf Vornahme eines chirurgischen Eingriffs stattgegeben worden war, eine Änderung ihres Vornamens im Verwaltungsweg mit der Begründung verweigert wurde, dass jegliche Berichtigung im Personenstandsregister einer transsexuellen Person von einem Gericht im Rahmen eines Geschlechtsberichtigungsverfahrens angeordnet werden müsse. Folglich musste die Bf. aufgrund des zum damaligen Zeitpunkt in Kraft stehenden Art. 3 des Gesetzes Nr. 164/1982 darauf warten, dass ein Gericht zuerst die Durchführung der [geschlechtsumwandelnden] Operation förmlich feststellte und dann endgültig über ihr geschlechtliches Erscheinungsbild entschied – wozu es aber erst am 10.10.2003 gekommen ist.
(68) Es ist nicht Aufgabe des GH, anstelle der zuständigen nationalen Behörden die im Bereich der Regelung der Änderung von Vornamen von transsexuellen Personen angezeigte zweckmäßigste Politik zu definieren. Vielmehr wird er deren in Ausübung ihres Ermessensspielraums ergangenen Entscheidungen auf ihre Konventionskonformität prüfen.
(69) Infolgedessen möchte der GH die Wahl des italienischen Gesetzgebers als solche nicht in Frage stellen, Entscheidungen über die Änderung des Personenstandes von transsexuellen Personen nicht den Verwaltungsbehörden, sondern den Gerichten zu übertragen. Er will auch gerne zugestehen, dass die Bewahrung des Prinzips der Unverfügbarkeit des Status von Personen, der Garantien der Verlässlichkeit und der Kohärenz des Zivilstandes und – noch weitgehender – der Anforderungen an die Rechtssicherheit im allgemeinen Interesse stehen und die Einführung eines rigorosen Verfahrens rechtfertigen – und zwar insbesondere zum Zweck der Überprüfung der aufrichtigen Motivation eines Begehrens auf [...] Änderung der Personenidentität.
(70) Im vorliegenden Fall muss der GH allerdings feststellen, dass die Zurückweisung des Antrags der Bf. auf rein formale Argumente gestützt wurde, ohne ihre konkrete Situation zu berücksichtigen. Die Behörden erwogen auch nicht, dass sie sich seit Jahren einer Geschlechsumwandlungsprozedur unterzogen hatte und dass ihr physisches Erscheinungsbild wie auch ihre soziale Identität seit langer Zeit weiblicher Natur waren.
(71) Unter diesen Umständen kann der GH nicht sehen, welche im öffentlichen Interesse liegenden Gründe eine Angleichung des auf den amtlichen Dokumenten der Bf. aufscheinenden Namens an deren soziale Wirklichkeit – was mehr als zweieinhalb Jahre dauerte – verhindern konnten, noch dazu, wo das Zivilgericht von Rom dies auch in seinem Urteil vom 10.5.2001 anerkannt hatte. Er erinnert in diesem Zusammenhang an den Grundsatz, wonach die Konvention nicht theoretische oder illusorische Rechte schützen soll, sondern konkrete und effektive.
(72) Im vorliegenden Fall erblickt der GH eine Rigidität des gerichtlichen Verfahrens betreffend die Anerkennung des geschlechtlichen Erscheinungsbildes von transsexuellen Personen wie sie zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt praktiziert wurde, wodurch die Bf. für eine unangemessen lange Zeit in einer anormalen Situation leben musste, die geeignet war, bei ihr Gefühle von Verwundbarkeit, Erniedrigung und Beklommenheit aufkommen zu lassen.
(73) Der GH weist [in diesem Zusammenhang] auf die Empfehlung CM/Rec(2010)5 des Ministerkomitees des Europarats über Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität hin, wonach den Mitgliedstaaten nahegelegt wird, den Namen und das Geschlecht [von transsexuellen Personen] in offiziellen Dokumenten rasch und in transparenter sowie zugänglicher Weise zu ändern [vgl. den Anhang zur genannten Empfehlung, Rn. 21].
(74) Im Übrigen vermerkt der GH mit Interesse, dass Art. 3 des Gesetzes Nr. 164/1982 mit Gesetzesdekret Nr. 150/2011 dahingehend geändert wurde, dass eine zweite gerichtliche Entscheidung im Geschlechtsumwandlungsprozess, sobald sich eine transsexuelle Person operieren ließ, nicht mehr notwendig ist und nunmehr eine Berichtigung des Personenstandes vom Richter im Zuge der Entscheidung über die Genehmigung der Operation angeordnet werden kann.
(75) Mit Blick auf die vorhergehenden Erwägungen kommt der GH zu dem Schluss, dass die zweieinhalb Jahre andauernde Unmöglichkeit für die Bf., die Erlaubnis zur Änderung ihres Vornamens zu erhalten [...] unter den Umständen des vorliegenden Falles als Versäumnis des belangten Staates angesehen werden muss, seiner positiven Verpflichtung zur Gewährleistung des Rechts der Bf. auf Achtung ihres Privatlebens nachzukommen.
Folglich hat eine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK
(77) Dieser Beschwerdepunkt ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und nicht aus anderen Gründen unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden. Mit Blick auf seine unter Art. 8 EMRK getroffenen Feststellungen sieht der GH jedoch im vorliegenden Fall von der Prüfung einer Verletzung dieser Konventionsbestimmung ab (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den von der Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar. € 2.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Christine Goodwin/GB v. 11.7.2002 (GK) = NL 2002, 145 = ÖJZ 2003, 766
Hämäläinen/FIN v. 16.7.2014 (GK) = NLMR 2014, 302
A. P., Garçon und Nicot/F v. 6.4.2017 = NLMR 2017, 150
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.10.2018, Bsw. 55216/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 452) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/18_5/S.V..pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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