Spruch:
Art. 10 EMRK - Journalistische Freiheit und Verdachtsberichterstattung.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 41.338,25 für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung
Sachverhalt:
Die Bf. ist Herausgeberin der Tageszeitung Bild. Am 18.9.2005 fanden in Deutschland vorgezogene Bundestagswahlen statt, bei denen der damalige Kanzler Gerhard Schröder nicht mehr die erforderliche Mehrheit für die Bildung einer Koalition mit den Grünen erzielen konnte. Am 22.11.2005 trat er von seinem Amt zurück.
Am 9.12.2005 begann man in Deutschland mit dem Bau einer Gastransitleitung, mit der russisches Gas nach Westeuropa geliefert werden sollte. Am selben Tag wurde bekannt gegeben, dass Herr Schröder zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats des mit der Errichtung der Pipeline beauftragten »Konsortiums Nordeuropäische Gaspipeline« (es wird vom russischen Energieunternehmen Gazprom kontrolliert) bestellt worden war. In der Folge versuchte ein Bild-Reporter mehrere Male erfolglos, das Pressebüro der deutschen Regierung zu erreichen, um mehr über die Sache zu erfahren. Bei der dritten Anfrage wurde ihm mitgeteilt, dass Herr Schröder der Ankündigung vom 9.12.2005 nichts hinzuzufügen habe und lediglich wissen lassen wolle, dass er dem Wunsch seiner Partner, die Führung im Aufsichtsrat zu übernehmen, nachgekommen sei.
Am Sonntag, den 11.12.2005, führte ein Journalist der Bild mit dem Vizepräsidenten des Parlamentsklubs der FDP, Carl-Ludwig Thiele, in dieser Angelegenheit ein Telefongespräch. In der Ausgabe vom 12.12.2005 veröffentlichte die Bild auf der Titelseite folgende Schlagzeile: »Was verdient er wirklich beim Gas-Pipeline-Projekt? Schröder soll Russen-Gehalt offenlegen«. Auf Seite zwei war Folgendes zu lesen (Auszug): »Der Ex-Kanzler und das Russen-Gas: Entrüstung macht sich in allen politischen Parteien breit. Wurde doch Schröder Chef des Aufsichtsrats eines Unternehmens, das für vier Milliarden Euro eine Gasleitung von Russland über das baltische Meer nach Deutschland bauen will. Während seiner Kanzlerschaft hatte er das Projekt ungeachtet heftiger Widerstände vorangetrieben. [...] Die Tatsache, dass Schröder kurz nach Verlassen der Regierung in ein deutsch-russisches Unternehmen wechselt, sorgt für Unverständnis innerhalb der Parteien. Besonders delikat an der Sache ist, dass am 11. April der russische Energieriese Gazprom und die Firma BASF in Hannover eine Vereinbarung über die gemeinsame Ausbeutung eines Gasfeldes im Beisein von Schröder und dem russischen Staatschef Wladimir Putin unterzeichneten. War das Engagement für den multinationalen Konzern zu diesem Zeitpunkt – sechs Wochen vor der Ankündigung Schröders, vorgezogene Wahlen abhalten zu wollen – bereits Gegenstand von Verhandlungen? Der Vizepräsident des Parlamentsklubs der FDP, Carl-Ludwig Thiele: ›Diese Frage muss man stellen!‹ Thiele hat einen ungeheuerlichen Verdacht: ›Wollte Schröder sein Amt loswerden, weil ihm lukrative Jobs zugesagt wurden? Hatte er persönliche Motive, als er in politisch aussichtsloser Lage Neuwahlen herbeiführte? Der Neuwahl-Coup muss heute in einem neuen Licht gesehen werden.‹ [...]«.
In der Folge begehrte Herr Schröder vom Landgericht Hamburg die Untersagung der Weiterverbreitung der von Herrn Thiele im genannten Artikel aufgeworfenen Fragen. Mit Urteil vom 19.1.2007 gab dieses dem Begehren mit der Begründung statt, die strittige Passage habe den von der Judikatur zu der Verdachtsberichterstattung entworfenen Kriterien insofern nicht entsprochen, als keine ausreichende Tatsachengrundlage für ihre Verbreitung bestanden und die Bf. nicht versucht habe, vorher die Meinung von Herrn Schröder einzuholen.
Das OLG Hamburg bestätigte das Urteil des Erstgerichts: Zwar bestünden ausreichende Anhaltspunkte, die einen gewissen Verdacht, was das Verhalten von Herrn Schröder angehe, rechtfertigen würden, jedoch mangle es dem umstrittenen Artikel an Objektivität und Ausgewogenheit. Von einer Vorverurteilung sei bereits dann die Rede, wenn die einer Publikation zugrunde liegenden Tatsachen absichtlich partiell und verfälscht dargestellt würden, um eine Sensation zu erheischen, ohne gleichzeitig die zugunsten einer Person sprechenden Umstände zu erwähnen. Dies sei vorliegend der Fall, da die Reportage ausschließlich verdachtserhärtende und keine entlastenden Umstände – wie etwa die schwere Niederlage der SPD bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen als Grund für vorgezogene Neuwahlen – wiedergegeben habe. Dazu komme, dass die Bf. vor der Publikation des strittigen Artikels keine ausreichenden Recherchen durchgeführt und es verabsäumt habe, eine Stellungnahme von Herrn Schröder selbst einzuholen.
Beim BGH und beim BVerfG eingebrachte Beschwerden wurden nicht zur Behandlung angenommen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK
Die vorliegende Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist folglich für zulässig zu erklären (einstimmig).
(50-51) Es liegt unzweifelhaft ein Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. vor. Dieser war in den §§ 823 Abs. 1 (Schadenersatzpflicht) und 1004 Abs. 1 BGB (Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch), gelesen im Lichte des Persönlichkeitsrechts, gesetzlich vorgesehen und verfolgte ein legitimes Ziel, namentlich den Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer.
(52) Zu prüfen ist, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.
(57) In seinen Urteilen Axel Springer AG/D und Von Hannover/D (Nr. 2) hat der GH die Kriterien dargelegt, die bei der Abwägung des Rechts auf freie Meinungsäußerung mit jenem auf Achtung des Privatlebens relevant sein können. Demnach sind a) die Frage des Beitrags des Artikels zu einer Debatte von allgemeinem Interesse, b) der Bekanntheitsgrad der betreffenden Person, c) der Gegenstand der Reportage, d) Inhalt, Form und Konsequenzen der Publikation und e) die Schwere der verhängten Sanktion in Betracht zu ziehen.
Zum Kriterium (a)
(58) Die strittige Passage war Teil eines Artikels, der über die Bestellung von Gerhard Schröder zum Aufsichtsratsvorsitzenden eines deutsch-russischen Gaskonsortiums kurz nach Zurücklegung seiner Funktion als deutscher Kanzler berichtete. Die Reportage betraf insbesondere die Frage, ob und in welchem Ausmaß Herr Schröder von den politischen Entscheidungen, die er in seiner Kanzlerschaft getroffen hatte, profitierte, um diesen beruflichen Wechsel vorzubereiten. Das Thema der Reportage war daher von großem öffentlichen Interesse. Dies hat umso mehr für die strittige Passage zu gelten.
Zum Kriterium (b)
(59) Als deutscher Kanzler war Herr Schröder eine politische Persönlichkeit von hohem Bekanntheitsgrad.
Zum Kriterium (c)
(60) Besagter Artikel befasste sich nicht mit Details von Herrn Schröders Privatleben mit dem Ziel, die öffentliche Neugier zu erwecken, sondern bezog sich auf dessen Verhalten während der Ausübung seines Kanzlermandats und seiner umstrittenen Bestellung zum Aufsichtsratsvorsitzenden. Unter diesen Umständen war die Meinungsäußerungsfreiheit großzügig auszulegen.
(63) Der GH hält fest, dass die Bf. Aussagen von Herrn Thiele wiedergab, die dieser unzweifelhaft so getätigt hatte. [...] Im Gegensatz zum Fall Pedersen und Baadsgaard/DK, in dem er die von den Bf. formulierte Anschuldigung als Tatsachenbehauptung einstufte, deren Wahrheitsgehalt bewiesen werden könne, tendiert er im vorliegenden Fall dazu, die von Herrn Thiele aufgeworfene Frage zu den wahren Beweggründen bzw. Absichten von Herrn Schröder, vorzeitige Neuwahlen abzuhalten, als Ausdruck eines Werturteils anzusehen.
(64) Ausgehend davon, dass ein Werturteil auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage basieren muss, ist zu vermerken, dass das OLG Hamburg der Ansicht war, dass es ausreichende Fakten gäbe, die das Verhalten von Herrn Schröder als verdächtig erscheinen lassen könnten. Allerdings warf es der Bf. vor, nur verdachtserhärtende – und keine mildernden bzw. entlastenden – Fakten vorgebracht und zudem zuvor keine klärenden Recherchen einschließlich der Einholung einer Stellungnahme von Herrn Schröder selbst durchgeführt zu haben.
(65) Wie bereits erwähnt, erging gegen Herrn Schröder kein Vorwurf, eine Straftat begangen zu haben. [...] Die von Herrn Thiele aufgeworfenen Fragen vermochten sich auf eine Reihe von Fakten zu stützen, während die Ankündigung, Gerhard Schröder sei zum Aufsichtsratsvorsitzenden des obigen Konsortiums bestellt worden, Gegenstand zahlreicher Presseberichte und von parlamentarischen Debatten war. Außerdem war er nicht der einzige, der im strittigen Artikel Fragen stellte, sondern wurden darin weitere Vertreter unterschiedlicher politischer Parteien mit kritischen Anmerkungen zitiert.
(66) [...] Der GH teilt auch die Ansicht der Bf., wonach ein Regierungschef über vielfache Möglichkeiten verfügt, politische Entscheidungen bekannt zu geben und darüber die Öffentlichkeit zu informieren. Er zitiert in dieser Hinsicht einen Artikel des Magazins Fokus vom 12.12.2005, wonach ein bei diesem tätiger Journalist im August bei der Regierung angefragt habe, ob es zutreffe, dass Gazprom einen Posten für Herrn Schröder einrichten werde, was vom Pressebüro verneint worden war.
(67) Angesichts dieser Umstände vermag sich der GH der Meinung der nationalen Instanzen nicht anzuschließen, wonach der fragliche Artikel auch Elemente enthalten hätte müssen, die zugunsten des Altkanzlers sprachen, musste dieser doch als Inhaber eines der höchsten politischen Ämter in Deutschland einen um ein Vielfaches höheren Grad an Toleranz wie eine »Normalbürgerin« bzw. ein »Normalbürger« zeigen.
(68) Nicht vergessen werden darf schließlich, dass der Fragesteller – Herr Thiele – Politiker und Parlamentsabgeordneter war. Der GH erinnert in diesem Zusammenhang an die Aufgabe der Presse, Informationen und Ideen über alle Angelegenheiten von öffentlichem Interesse weiterzugeben. Dies hat umso mehr für Fragen zu gelten, die in der politischen Arena diskutiert werden.
(69) [...] Die Verhängung von Sanktionen über einen Journalisten wegen Hilfeleistung bei der Weiterverbreitung von von einer dritten Person getätigten Äußerungen würde den Beitrag der Presse zu Diskussionen von öffentlichem Interesse ernsthaft schmälern. [...]
(70) Es wurde nicht bestritten, dass Herr Thiele die im Bild-Artikel wiedergebenen Äußerungen getätigt hat. Man kann nun aber von einer Zeitung nicht verlangen, die Stichhaltigkeit jeglicher Äußerungen eines Politikers über einen anderen, die im Kontext von politischen Debatten getätigt wurden, in systematischer Art und Weise zu überprüfen. Im Übrigen wäre es Herrn Schröder unbenommen gewesen, rechtliche Schritte gegen den Urheber der umstrittenen Äußerungen – Herrn Thiele – zu ergreifen. Mit Rücksicht auf die Art und Weise, wie die Bild zu diesen Äußerungen gelangte und angesichts deren Aktualität und kurzlebigen Charakters deutet nichts darauf hin, dass die Bf. daran gehindert war, diese ohne vorherige weitere Überprüfung zu veröffentlichen. Im Übrigen scheint dem OLG Hamburg entgangen zu sein, dass der von ihr verwendete Ausdruck »ungeheuerlicher Verdacht«, welcher die Schwere des gegenüber Herrn Schröder gemachten Vorwurfs und den tendenziösen und einseitigen Charakter des Artikels belegt hätte, auch dahingehend gedeutet werden konnte, dass die Bf. sich von den von Herrn Thiele gestellten Fragen distanzieren wollte.
(72) Was schließlich die Frage angeht, ob die Bf. zuvor die Meinung von Herrn Schröder oder eines Angehörigen eingeholt hatte, ist den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte zu entnehmen, dass dies nicht der Fall war. Die Bf. bringt vor, einer ihrer Reporter habe drei Mal versucht, das Pressebüro der Regierung zu kontaktieren, dies habe sie auch den Gerichten mitgeteilt. [...]
(73) Die Regierung hat keine Erklärung abgegeben, aus welchen Gründen die deutschen Gerichte vom Vorbringen der Bf. weder Notiz nahmen noch es erwähnten. Der GH bezweifelt jedenfalls nicht, dass die Bf. den Pressesprecher des Altkanzlers mit den von Herrn Thiele aufgeworfenen Fragen konfrontieren und dass sie Letzterem Gelegenheit zur Stellungnahme geben wollte.
Zum Kriterium (d)
(74) [...] Weder die Aufmachung des Artikels noch die darin verwendeten Ausdrucksweisen mit Rücksicht auf Herrn Schröder stellen ein Problem im Sinne der einschlägigen Rechtsprechung des GH dar. Dies gilt auch für das Begleitfoto, auf dem der Genannte mit einer Militärmütze (Chapka) auf seinem Kopf abgebildet ist.
(75) Zu den Auswirkungen der gegenständlichen Publikation ist zu sagen, dass Bild eine der auflagenstärksten Tageszeitungen in ganz Europa ist.
Zum Kriterium (e)
(76) Der Bf. wurde zwar lediglich die Weiterbreitung der strittigen Passage untersagt, jedoch musste dies unweigerlich eine abschreckende Wirkung auf ihre Meinungsäußerungsfreiheit haben.
Schlussfolgerung
(77) Die Bf. hat mit der Veröffentlichung der strittigen Passage nicht die Grenzen der journalistischen Freiheit überschritten. Den deutschen Gerichten bzw. der Regierung ist es nicht gelungen, in überzeugender Weise darzulegen, dass ein dringendes soziales Bedürfnis bestand, den Schutz des guten Rufs von Ex-Kanzler Schröder über die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. und das allgemeine Interesse am Schutz dieser Freiheit in wichtigen Angelegenheiten zu stellen. Der Eingriff war daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig.
(78) Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Pedersen und Baadsgaard/DK v. 17.12.2004 (GK) = NL 2005, 10
Axel Springer AG/D v. 7.2.2012 (GK) = NL 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294
Von Hannover/D (Nr. 2) v. 7.2.2012 (GK) = NL 2012, 45 = EuGRZ 2012, 278
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.7.2014, Bsw. 48311/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 318) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/14_4/Axel Springer.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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