EGMR Bsw42780/98

EGMRBsw42780/9820.4.2006

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache I. H. u.a. gegen Österreich, Urteil vom 20.4.2006, Bsw. 42780/98.

 

Spruch:

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK - Von Anklage abweichende Verurteilung.

Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. a und b EMRK iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für jeden von den Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar (einstimmig). €

8.000,- für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die vier Bf. sind österreichische Staatsbürger türkischer Abstammung. Der ZweitBf. ist der Vater des ErstBf., die DrittBf. seine Mutter und der ViertBf. sein Onkel.

Am 21.3.1997 erhob die Staatsanwaltschaft Feldkirch Anklage gegen die Bf. wegen Vergewaltigung nach § 201 Abs. 2 StGB, Nötigung und Freiheitsentziehung. Wie der Staatsanwalt ausführte, war der ErstBf. seit September 1995 mit Frau F. D. verlobt. Die Ehe war von den Vätern der Verlobten vereinbart worden. Nach dem Tod ihres Vaters im Mai 1996 fühlte sich F. D. nicht länger an die Verlobung gebunden, was sie dem ErstBf. und seiner Familie mitteilte. Diese weigerten sich jedoch, ihre Meinungsänderung zu akzeptieren.

Am 22.7.1996 wurde F. D. vom ZweitBf. in Begleitung des ErstBf. und der DrittBf. von ihrem Arbeitsplatz abgeholt und zum Haus des ViertBf. gebracht. Dort teilte ihr der ZweitBf. mit, dass sie Geschlechtsverkehr mit dem ErstBf. haben würde und sie, wenn sie sich weigere, mit Gewalt dazu gezwungen würde. Da sie Widerstand leistete, wurden ihr von der DrittBf. die Hände mit Klebeband gefesselt. Die DrittBf. hielt sodann ihre Hände fest, während der ErstBf. Geschlechtsverkehr mit ihr hatte.

Der ZweitBf. und die DrittBf. riefen die Mutter von F. D. an und drohten ihr, ihre Tochter umzubringen, wenn sie die Sache anzeige. Die Mutter informierte dennoch die Polizei, die kurz nach 20.00 Uhr die vier Bf. verhaftete.

Am 23.5.1997 verurteilte das LG Feldkirch die Bf. wegen Vergewaltigung nach § 201 Abs. 1 StGB und wegen Freiheitsentziehung. Der ErstBf. und der ZweitBf. wurden außerdem wegen schwerer Nötigung verurteilt. Die über den ErstBf. verhängte Freiheitsstrafe betrug ein Jahr, der ZweitBf. wurde zu zwei Jahren, die DrittBf. zu 20 Monaten und der ViertBf. zu 18 Monaten Haft verurteilt. Der Urteilssachverhalt entsprach der Anklageschrift. Das LG sah es als erwiesen an, dass F. D. mit schwerer Gewalt bzw. mit der Drohung schwerer Gewalt zur Vornahme des Beischlafs genötigt worden war, weshalb die Bf. nach § 201 Abs. 1 StGB zu verurteilen gewesen seien. Die Bf. erhoben Nichtigkeitsbeschwerde und Berufungen. Sie brachten unter anderem vor, es liege eine Anklageüberschreitung vor, da sie wegen Vergewaltigung nach § 201 Abs. 2 StGB angeklagt, aber nach § 201 Abs. 1 StGB verurteilt worden seien.

Der OGH wies die Nichtigkeitsbeschwerde am 2.12.1997 gemäß § 285d Abs. 1 StPO in nichtöffentlicher Beratung zurück und verwies die Rechtssache zur Entscheidung über die Berufungen an das OLG Innsbruck. (Anm.: OGH 2.12.1997, 11 Os 125/97.) Zur reklamierten Anklageüberschreitung stellte der OGH fest, ein Nichtigkeitsgrund wäre nur dann gegeben, wenn die Bf. einer Straftat für schuldig befunden worden wären, die nicht Gegenstand der Anklage gewesen sei. Eine Ausdehnung der Anklage sei nur dann erforderlich, wenn das Beweisverfahren ein Tatgeschehen zu Tage bringe, das von dem unter Anklage stehenden derart verschieden sei, dass es keinesfalls als von der Anklage gedeckt angesehen werden könne. Im vorliegenden Fall sei jedoch das unter Anklage gestellte, mit dem Urteilssachverhalt idente Verhalten nur rechtlich anders beurteilt worden. Eine Anklage­überschreitung liege daher nicht vor.

Das OLG Innsbruck bestätigte am 11.2.1998 die vom LG Feldkirch verhängten Strafen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) iVm. Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK (Recht auf Information über Art und Grund der Beschuldigung) und Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK (Recht auf ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK:

Die Bf. bringen vor, ihre Verurteilung wegen Vergewaltigung nach § 201 Abs. 1 StGB ohne vorhergehender Änderung der Anklage habe die Ausübung ihrer Verteidigungsrechte beeinträchtigt.

Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK gewährt einem Angeklagten nicht nur das Recht, über den Grund der Beschuldigung - also über die ihm vorgeworfenen Handlungen - informiert zu werden, sondern auch über deren rechtliche Qualifikation.

Die Reichweite dieser Bestimmung muss im Licht des allgemeinen Rechts auf ein faires Verfahren bestimmt werden. In strafrechtlichen Angelegenheiten ist die Weitergabe einer vollständigen, detaillierten Information betreffend die Anschuldigungen gegen den Angeklagten und konsequenterweise die rechtliche Qualifikation, die das Gericht in der Angelegenheit voraussichtlich vornimmt, eine wesentliche Voraussetzung für die Sicherstellung eines fairen Verfahrens. Im vorliegenden Fall scheinen die Bf. in keiner Phase des Verfahrens auf die Gefahr einer Verurteilung nach § 201 Abs. 1 StGB aufmerksam gemacht worden zu sein. Die Regierung stellt dies nicht in Abrede. Sie bringt jedoch vor, die von einem Verteidiger unterstützten Bf. hätten sich der Möglichkeit einer Änderung der rechtlichen Qualifikation der Straftat durch das Gericht auch ohne einer vorhergehenden Information über diese Möglichkeit bewusst sein müssen. Der Anwalt, der ein erfahrener Strafverteidiger sei, hätte daher diese Situation vorhersehen und seine Verteidigung entsprechend vorbereiten können.

Dieses Argument vermag den GH nicht zu überzeugen. Für eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte muss die Verteidigung über vollständige, detaillierte Informationen über die Anschuldigungen verfügen, die auch die rechtliche Qualifikation umfassen müssen, die das Gericht voraussichtlich vornehmen wird. Diese Informationen müssen entweder in der Anklageschrift mitgeteilt werden oder zumindest während der Verhandlung durch andere Mittel wie eine formelle oder implizite Ausdehnung der Anklage. Der bloße Hinweis auf die theoretische Möglichkeit, ein Gericht könnte eine Straftat rechtlich anders qualifizieren als die Anklage, ist eindeutig unzureichend.

Die Regierung brachte ferner vor, die Bf. hätten in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde Gründe geltend machen können, warum eine andere rechtliche Qualifikation geboten wäre.

Der GH ist auch von diesem Argument nicht überzeugt. Die Reichweite der Jurisdiktion des OGH in Verfahren über Nichtigkeitsbeschwerden erstreckt sich nicht auf die Prüfung von Tatsachenfragen, da der OGH nur auf der Grundlage der Feststellungen der ersten Instanz entscheidet. Auch die Beweiswürdigung durch das Gericht erster Instanz kann in der Regel nicht angefochten werden. Angesichts dieser beschränkten Kognitionsbefugnis des OGH war diese Möglichkeit nicht ausreichend, um den Bf. eine wirkliche Gelegenheit zu bieten, ihre Sache zu vertreten. Es ist nicht Sache des GH, die Verteidigung zu beurteilen, auf die sich die Bf. stützen hätten können, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätten, zu der gegenüber der Anklage geänderten rechtlichen Qualifikation der Beschuldigungen Stellung zu nehmen und ob ihre Verteidigung auch Tatsachenfragen betroffen hätte, die von der Prüfungsbefugnis des OGH ausgeklammert sind. Angesichts der Bedeutung, die dem Recht auf eine wirksame Verteidigung für das faire Verfahren zukommt, ist es jedenfalls unerlässlich, dass zumindest auf einer Ebene der Gerichtsbarkeit die volle Ausübung dieses Rechts gewährleistet wird.

Das LG Feldkirch hätte daher, als es sich des ihm unzweifelhaft zustehenden Rechts bedient hat, die Tatsachen anders zu qualifizieren, den Bf. die Gelegenheit einräumen müssen, ihre Verteidigungsrechte in Bezug auf diese Frage in einer praktischen und wirksamen Weise rechtzeitig auszuüben. Aufgrund des Fehlens einer wirklichen Möglichkeit, diesen Fehler in einem späteren Verfahrensstadium zu heilen, wurden die Bf. an der wirksamen Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gehindert.

Daher hat eine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. a und b EMRK iVm.

Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für jeden von den Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar (einstimmig). € 8.000,- für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

Kamasinski/A v. 19.12.1989, A/168, ÖJZ 1990, 412.

Plissier und Sassi/F v. 25.3.1999, NL 1999, 66; EuGRZ 1999, 323; ÖJZ

1999, 905.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.4.2006, Bsw. 42780/98, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2006, 95) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/06_2/I.H..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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