EGMR Bsw29617/07

EGMRBsw29617/0712.2.2013

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Vojnity gg. Ungarn, Urteil vom 12.2.2013, Bsw. 29617/07.

 

Spruch:

Art. 8 EMRK, Art. 14 EMRK - Versagung der Besuchsrechte für fanatisch religiösen Vater.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Frage unter Art. 8 EMRK allein oder Art. 9 EMRK allein oder iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung der Beschwerde unter Art. 6 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 12.500,- für immateriellen Schaden, € 3.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf. ist Anhänger der Glaubensgemeinschaft Hit Gyülekezete (»Gemeinde des Glaubens«).

Nach seiner Ehescheidung am 8.6.2000 wurde der 1994 geborene Sohn bei der Mutter untergebracht und dem Bf. ein Besuchsrecht zugesprochen. Daraufhin beantragte dieser beim Bezirksgericht die Obsorge bzw. eine andere Regelung seines Besuchsrechts. Zwei im Laufe des Verfahrens erstellte psychiatrische Gutachten ergaben, dass die Besuche des Vaters keine Belastung für das Kind darstellten und befürworteten einen regelmäßigen Kontakt zwischen Vater und Sohn. Das Gericht wies dennoch am 13.10.2003 den Antrag zurück. Ein ähnlicher Antrag des Bf. wurde am 20.6.2004 durch dasselbe Gericht mit der Begründung abgewiesen, dass es nicht im Interesse des Kindes sei, es aus seinem gewohnten sozialen Umfeld zu entfernen, und dass die Lebensumstände des Bf. für die Unterbringung eines Kindes ungeeignet seien.

Am 11.1.2006 reichte die für Pflegschaftssachen zuständige Behörde Klage ein, um das Kind bei seinem älteren Bruder unterzubringen, nachdem die Mutter hierfür als ungeeignet eingestuft worden war. Ein durch das Bezirksgericht beantragtes Gutachten ergab, dass das Kind eine starke emotionale Bindung zu seinen Geschwistern und seiner Mutter, nicht aber zu seinem Vater habe. Der Bf. vertrete unrealistische Erziehungsmethoden, die von religiösem Fanatismus gekennzeichnet seien und ihn für die Erziehung des Kindes ungeeignet machten; außerdem dränge er seinen Glauben seinem Sohn derartig auf, dass dies zu einer Entfremdung von ihm führe. Am 12.9.2006 beschloss das Bezirksgericht die Unterbringung des Kindes bei seinem älteren Bruder, hielt aber die Besuchsrechte des Vaters aufrecht. Diese Entscheidung wurde durch das Landesgericht als zweite Instanz am 2.10.2006 bestätigt.

Daraufhin erhob der Bruder Klage gegen den Bf., um diesem sein Besuchsrecht zu entziehen. Das Bezirksgericht zog einen psychologischen Sachverständigen hinzu, der den Kontakt des Bf. zu seinem Sohn als schädlich bezeichnete, insbesondere aufgrund seines ständigen Proselytismus (Anm: Proselytismus ist die negative Bezeichnung für das Abwerben von Gläubigen aus anderen Konfessionen, Kirchen oder Glaubensgemeinschaften.); er sei unfähig, zu einer normalen Entwicklung des Kindes beizutragen. Darüber hinaus regte der Sachverständige eine psychiatrische Untersuchung des Bf. und den Entzug seiner Besuchsrechte an. Mit Urteil des Bezirksgerichts wurden dem Bf. sämtliche Besuchsrechte entzogen.

Im Berufungsverfahren bestätigte das Landesgericht das erstinstanzliche Urteil und bezog sich auf das Sachverständigengutachten, wonach der Bf. aufgrund seiner irrationalen Weltanschauungen nicht für die Erziehung eines Kindes geeignet sei und das Aufdrängen seiner religiösen Überzeugungen dem Zweck des Besuchsrechts zuwiderlaufe.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) alleine und in Verbindung mit Art. 14 (Diskriminierungsverbot), da der Entzug seiner Besuchsrechte auf seiner Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft Hit Gyülekezete beruhe und einer unterschiedlichen Behandlung im Hinblick auf sein Recht auf Privat- und Familienleben gleichkomme. Weiters rügt er eine Verletzung von Art. 9 EMRK (Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit), da die angefochtene Maßnahme direkt auf die Manifestation seines religiösen Glaubens gerichtet sei.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Im vorliegenden Fall hatte der Bf. bis zur Entscheidung des Landesgerichts am 4.2.2008, die ihm sämtliche Besuchsrechte entzog, regelmäßigen Kontakt mit seinem Sohn. In diesem Zusammenhang weist der GH darauf hin, dass der wechselseitige Kontakt zwischen Eltern und Kindern ein fundamentales Element des Familienlebens darstellt. Der Entzug dieses Elements durch das Landesgericht stellt einen Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung des Privat- und Familienlebens dar. Daher liegt der vorliegende Fall im Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK.

Der GH wiederholt, dass Art. 14 EMRK Schutz gegen eine unterschiedliche Behandlung von Personen in vergleichbaren Situationen ohne sachlichen und nachvollziehbaren Grund bietet. Es ist somit zunächst festzustellen, ob der Bf. von einer derartigen unterschiedlichen Behandlung im Hinblick auf sein Familienleben betroffen war und ob dem Bf. seine Besuchsrechte aufgrund seiner religiösen Überzeugung entzogen wurden. Es trifft zu, dass die nationalen Gerichte vor allem das Kindeswohl berücksichtigten, als sie dem Antrag auf Entzug der Besuchsrechte stattgaben. Die nationalen Behörden zogen bei ihrer Entscheidung darüber, ob der Bf. geeignet sei, zur Entwicklung seines Sohnes beizutragen, jedoch auch die religiöse Überzeugung des Bf. und die möglichen Auswirkungen auf das Kind als entscheidende Faktoren heran. Insbesondere stützte das Landesgericht seine Entscheidung auf die Meinung des Sachverständigen, wonach die irrationale Weltanschauung den Bf. unfähig zur Erziehung eines Kindes mache. Darüber hinaus wertete es das Gericht als negativ, dass der Bf. beabsichtigte, seine religiöse Überzeugung auf seinen Sohn zu übertragen. Es besteht nicht der Anschein, dass andere rechtliche oder tatsächliche Punkte näher geprüft wurden. In diesem Zusammenhang hat der GH bereits festgestellt, dass eine Unterscheidung ausschließlich aufgrund der Religion nicht akzeptabel ist.

Nach Ansicht des GH hatte die religiöse Überzeugung des Bf. einen direkten Einfluss auf das Ergebnis der Entscheidung. Folglich lag eine unterschiedliche Behandlung des Bf. gegenüber Eltern in einer vergleichbaren Situation vor, die darin bestand, dass dem Bf. seine strenge religiöse Überzeugung vorgehalten wurde.

Der GH ist der Meinung, dass das im vorliegenden Fall verfolgte Ziel, nämlich der Schutz der Gesundheit und der Rechte des Kindes, legitim ist. Es muss nun geprüft werden, ob ein nachvollziehbares Verhältnis zwischen den angewandten Mitteln, nämlich dem Entzug der Besuchsrechte, und dem verfolgten legitimen Ziel bestand. Im vorliegenden Fall geht es um die unterschiedliche Behandlung des Bf. im Zusammenhang mit dem völligen Entzug seiner Besuchsrechte, der zu einem bedeutenden Grad auf dem religiösen Glauben des Bf. basiert. Im Hinblick auf die hohe Bedeutung der in Art. 9 EMRK garantierten Rechte kann eine solche Behandlung nur dann mit der Konvention vereinbar sein, wenn sehr gewichtige Gründe dafür vorliegen.

Im vorliegenden Fall berief sich die Regierung auf die Bedeutung des Schutzes der geistigen Gesundheit des Kindes im Hinblick auf den durch den Bf. ausgeübten Stress, der sich durch dessen intensive Bemühungen ergebe, seine Überzeugung auf seinen Sohn zu übertragen. Auch wenn die nationalen Behörden dabei ein legitimes Ziel verfolgten, bestehen nach Ansicht des GH Bedenken, ob dieses Vorbringen einen sehr gewichtigen Grund darstellt, der eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigt. Die Art. 8 und Art. 9 EMRK in Verbindung mit Art. 2 1. Prot. EMRK geben Eltern bei der Erziehung das Recht, ihren Kindern ihre religiöse Überzeugung zu vermitteln. Dieses Recht würde unbestritten im Falle verheirateter Eltern gelten, die ihrem Kind dieselben religiösen Ansichten vermitteln, auch wenn dies hartnäckig oder zu dominierend geschehen würde, außer wenn das Kind dadurch psychischen oder physischen Gefahren oder gefährlichen Praktiken ausgesetzt wäre. Der GH sieht keinen Grund, die Position eines getrennt lebenden oder geschiedenen Elternteils, der nicht die Obsorge über das Kind hat, anders zu bewerten.

Es bestehen keine Beweise dafür, dass die religiösen Überzeugungen des Bf. gefährliche Praktiken beinhalteten oder seinen Sohn psychischen oder physischen Gefahren aussetzten. Der vom Bezirksgericht hinzugezogene Sachverständige bezeichnete den Kontakt des Bf. zu seinem Sohn als schädlich, insbesondere aufgrund seines ständigen Proselytismus. Es wurde jedoch kein überzeugender Beweis dafür gegeben, um das bestehende Risiko einer akuten Schädigung - wie Unruhe, Unwohlsein oder Verwirrung - zu untermauern, der das Kind wegen der Versuche seines Vaters, ihm seine Überzeugung zu übertragen, ausgesetzt gewesen wäre. Der GH nimmt zur Kenntnis, dass der Sachverständige den Bf. nicht untersuchte, und dass auch der Empfehlung, den Bf. einer psychiatrischen Untersuchung zu unterziehen, nicht nachgekommen wurde. Während das Landesgericht, das das erstinstanzliche Urteil bestätigte, sich auf die Ängste des Kindes bezog, entzog es dem Bf. seine Besuchsrechte im Wesentlichen aufgrund seiner irrationalen Weltanschauung und seiner Versuche, seine religiöse Überzeugung seinem Sohn aufzudrängen, ohne zu erläutern, welchen wirklichen Schaden dies bei dem Kind verursachen könne.

Auch wenn die Tatsache, dass die Behörden den möglichen psychischen Schaden des Kindes in Betracht zogen, einen gewichtigen Aspekt bei der Beurteilung der fraglichen unterschiedlichen Behandlung darstellt, hält der GH die von den Behörden für dieses Problem gewählte Lösung aus folgenden Gründen für nicht akzeptabel: Im Hinblick auf Einschränkungen, die das Familienleben betreffen, wiederholt der GH, dass für Besuchsrechte eine genauere Prüfung zu erfolgen hat als im Zusammenhang mit einer Obsorgeregelung. Es ist im Interesse des Kindes, dass seine familiären Bande aufrechterhalten werden; andernfalls wird ein Kind von seinen familiären Wurzeln abgeschnitten.

Die Entscheidungen der nationalen Gerichte über den Entzug der Besuchsrechte des Bf. machten jede Form von Kontakt oder eine Entwicklung irgendeines Familienlebens unmöglich. Eine Maßnahme, die den Kontakt vollständig entzieht, kann nur unter außerordentlichen Umständen gerechtfertigt werden, die von der Regierung im vorliegenden Fall nicht aufgezeigt wurden. Dies wiegt besonders schwer, da die nationalen Gerichte - trotz der Prüfung der psychischen Belastung des Kindes durch die religiöse Praxis des Vaters - die Frage nicht berücksichtigten, ob auch ein bloßer Aufschub der Besuche des Bf. für eine gewisse Zeit oder irgendeine andere weniger strenge Maßnahme nach ungarischem Recht ausreichend dafür gewesen wären, dass das Kind sein emotionales Gleichgewicht wiederfindet. Stattdessen entzogen sie dem Bf. sämtliche Besuchsrechte. Für den GH stellt dieses Vorgehen einen eindeutigen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Sinne der Konvention dar.

Der GH stellt zusammenfassend fest, dass im Hinblick auf die fragliche Maßnahme kein nachvollziehbares verhältnismäßiges Gleichgewicht zwischen dem vollständigen Entzug der Besuchsrechte des Bf. und dem verfolgten Ziel, nämlich dem Schutz der Interessen des Kindes, bestand, da die nationalen Gerichte eine sehr restriktive Maßnahme zum Nachteil des Bf. erließen, ohne mögliche Alternativen zu berücksichtigen. Folglich wurde der Bf. aufgrund seiner religiösen Überzeugungen im Hinblick auf sein Recht auf Achtung des Familienlebens diskriminiert. Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK alleine und von Art. 9 iVm. Art. 14 EMRK

Diese Beschwerdepunkte sind zwar für zulässig zu erklären (einstimmig), jedoch ergibt sich aus ihnen nach Ansicht des GH kein gesondertes Problem, da sie auf denselben Tatsachen beruhen wie die gemäß Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK geprüfte Beschwerde, in Bezug auf die eine Verletzung festgestellt wurde (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

Dieser Beschwerdepunkt ist zwar für zulässig zu erklären (einstimmig), jedoch ergibt sich aus ihm nach Ansicht des GH kein gesondertes Problem, da er auf denselben Tatsachen beruht wie die gemäß Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK geprüfte Beschwerde, in Bezug auf die eine Verletzung festgestellt wurde (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 12.500,- für immateriellen Schaden, € 3.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

B./GB v. 8.7.1987

Eriksson/S v. 22.6.1989

Hoffmann/A v. 23.6.1993 = NL 1993/4, 27 = EuGRZ 1996, 648 = ÖJZ 1993, 853

Görgülü/D v. 26.2.2004 = NL 2004, 32 = EuGRZ 2004, 700

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.2.2013, Bsw. 29617/07 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 40) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/13_1/Vojnity.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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