EGMR Bsw26275/12

EGMRBsw26275/1217.11.2015

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Iris Spycher gg. die Schweiz, Zulässigkeitsentscheidung vom 17.11.2015, Bsw. 26275/12.

 

Spruch:

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK, Art. 14 EMRK iVm. Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK - Ablehnung eines Antrags auf Gewährung einer Invalidenpension war nicht diskriminierend.

Unzulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).

Begründung

Sachverhalt:

Die Bf. erlitt im April 2004 beim Mutter-Kind-Turnen Verletzungen, als ihr dreijähriger Sohn auf einer Sprossenwand ausrutschte und ihr auf die rechte Schulter fiel. Nach dem Unfall klagte sie über anhaltende Beschwerden, die auch nach verschiedenen Rehabilitationsaufenthalten keine Linderung erfuhren. Im November 2006 legte die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt den Fall zu den Akten.

In der Zwischenzeit hatte die Bf. bei der Invalidenversicherungsstelle des Kantons Bern einen Antrag auf Zuerkennung einer Invalidenrente eingebracht. Darin verwies sie auf ein Privatgutachten der »Unabhängigen medizinischen Gutachtenstelle« (UMEG) vom 23.11.2006, wonach sie an Schmerzen in der Halswirbelsäule mit Ausstrahlung auf die Schulter, die Arme und das Gesäß (sog. Panvertebralsyndrom), Fibromyalgie und an neurovegetativen, neuropsychologischen und psychischen Störungen leide, was bei ihr zu einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit geführt hätte. Am 27.9.2007 wies die Invalidenversicherungsstelle den Antrag unter Berufung auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichts zur grundsätzlichen Bewältigbarkeit von Schmerzen ohne organischen Hintergrund (»somatoforme Störung«) ab.

Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die dagegen erhobene Beschwerde am 14.8.2008 ab. Die Bf. wandte sich daraufhin an das Bundesgericht, welches ihrer Beschwerde mit Urteil vom 13.3.2009 mit dem Hinweis Folge gab, das Verwaltungsgericht hätte angesichts der Ergebnisse des UMEG-Privatgutachtens von sich aus ein Gutachten zur Klärung der Frage einholen müssen, inwieweit die bei der Bf. diagnostizierten organischen Beschwerden die Ausübung einer »leidensangepassten Tätigkeit« unmöglich machten und ob die nichtorganischen, psychischen Störungen im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung überwindbar wären.

In der Folge beauftragte die Invalidenversicherungsstelle eine ihrer medizinischen Abklärungsstellen, in diesem Fall die »Swiss Medical Assessment and Business-Center AG« (SMAB), mit der Begutachtung der Bf. Letztere stellte zwar die Wahl der SMAB als medizinische Abklärungsstelle in Frage, erhob jedoch nicht formell Protest.

In ihrem polydisziplinären Gutachten vom 17.9.2009 diagnostizierte die SMAB bei der Bf. ein schmerzhaftes Halswirbelsäulensyndrom ohne degenerative oder posttraumatische Auswirkungen und das Vorhandensein einer Migräne. Für die von ihr zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit und für andere angepasste Aktivitäten bescheinigte sie ihr volle Arbeitsfähigkeit. Die SMAB nahm auch Bezug zum Privatgutachten der UMEG und befand, dass diese ihre Diagnose ausschließlich auf subjektive Äußerungen der Bf. gestützt habe.

Infolgedessen wies die Invalidenversicherungsstelle den Antrag der Bf. auf Zuspruch einer Invalidenrente am 26.2.2010 erneut ab. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern bestätigte diese Entscheidung am 7.4.2011 in einer öffentlichen Verhandlung, in der es auch den Antrag der Bf. auf Einvernahme zweier von ihr benannter Ärzte als Zeugen abwies.

Die Bf. erhob dagegen Beschwerde an das Bundesgericht und rügte eine Verletzung von Art. 6 EMRK, da sie mit der Untersuchung durch die SMAB, einer externen Einrichtung, nicht einverstanden gewesen sei und das Verwaltungsgericht die von ihr benannten Zeugen hören und ein Gerichtsgutachten einholen hätte müssen. Sie behauptete auch eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK, da von ihr als an einem Schmerzsyndrom ohne organische Ursache leidende Person anders als bei Personen, die an einem Schmerzsyndrom mit organischer Ursache leiden würden, gemäß der bundesgerichtlichen Rechtsprechung angenommen werde, dass sie ihre Schmerzen überwinden und ihre Arbeit wiederaufnehmen könne.

Das Bundesgericht wies die Beschwerde am 29.9.2011 mit der Begründung ab, die Bf. habe zwar gegen die Begutachtung durch die SMAB protestiert, jedoch keine Ablehnungsgründe gegen die Experten geltend gemacht und diesen weder schriftliche Fragen gestellt noch zu ihrer Expertise Stellung genommen. Sie habe daher von ihren Mitwirkungsrechten bei der Beweisaufnahme keinen Gebrauch gemacht. Es bestehe kein Anlass, die Schlüssigkeit der Feststellungen der SMAB in Zweifel zu ziehen, die als gesetzlich vorgesehenes Hilfsorgan der Invalidenversicherung agieren würde. Auch von einer Diskriminierung könne keine Rede sein.

Am 2.9.2015 brachte die Bf. beim Bundesgericht einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens (Anm: Mit Urteil vom 3.6.2016, 9 C 492/2014, wich das Bundesgericht von seiner bisherigen Judikatur zur »somatoformen Störung« ab. In Hinkunft sei die Frage der Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer solchen Störung nicht mehr pauschal, sondern im Wege einer »Beobachtung auf Probe« zu beurteilen.) ein. Das Verfahren ist noch anhängig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf ein faires Verfahren), Art. 14 (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) bzw. Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Die Bf. bringt vor, bei der SMAB handle es sich im Verhältnis zur Invalidenversicherungsstelle um keine unparteiische und unabhängige Einrichtung, da Letztere für deren Kosten und Auslagen aufkomme. Aber auch den Gerichten habe die Unparteilichkeit bzw. Unabhängigkeit gefehlt, da sie ihre Entscheidungen auf eine Expertise der SMAB gegründet hätten, ohne selbst ein gerichtliches Gutachten in Auftrag zu geben.

Zu den Vorwürfen gegen die SMAB

(21) Der GH erinnert daran, dass Art. 6 EMRK auf Leistungen der Sozialversicherung Anwendung findet.

(22) Er hält gleichfalls fest, dass die bloße Tatsache, dass von einer Behörde beschäftigte und bezahlte externe Experten Fragen erörtern, nicht von vornherein auf deren fehlende Objektivität schließen läßt.

(23) Im vorliegenden Fall [...] wurde die SMAB von der Invalidenversicherungsstelle beauftragt (und dafür bezahlt), eine polydisziplinäre Expertise über den Gesundheitszustand der Bf. zu erstellen. Nichtsdestoweniger ist die SMAB keine bundesbehördliche Einrichtung wie die regionalen ärztlichen Dienste [...]. In der Tat handelt es sich hierbei um eine im Handelsregister eingetragene Aktiengesellschaft, deren prinzipielle Aufgabe es ist, medizinische polydisziplinäre Gutachten für Kunden zu erstellen, die Derartiges [...] wünschen. Die vom GH im Fall T. B./CH gezogenen Schlussfolgerungen zu von den Verwaltungsbehörden beschäftigten Experten gelten mutatis mutandis und a fortiori auch für die unabhängigen Experten von medizinischen Beobachtungszentren wie der SMAB [...].

(24) Schließlich ist hervorzuheben, dass die Bf., die keine formellen Ablehnungsgründe gegen die Experten der SMAB vorbrachte, ihre Behauptung, diesen habe in ihrem Fall die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit gemangelt, in keiner Weise substantiiert hat, sondern lediglich Bedenken hinsichtlich der vertraglichen Beziehung der medizinischen Beobachtungszentren mit der Invalidenversicherung äußerte.

(25) Der GH hält dazu noch fest, dass das Bundesgericht, welches sich des Risikos von Verzerrungen bei den Evaluationen der medizinischen Beobachtungszentren angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung des von der Invalidenversicherung eingeräumten Mandats durchaus bewusst war, in seinem Urteil vom 28.6.2011, BGE 137 V 210, die Bedeutung von Mitwirkungsrechten von versicherten Personen bei der Umsetzung von medizinischen Instruktionen durch die Verwaltung betont hat [...].

(26) Mit Rücksicht darauf ist festzuhalten, dass dieser Beschwerdepunkt offensichtlich unbegründet und somit [als unzulässig] zurückzuweisen ist (einstimmig).

Zur mangelnden Fairness vor den Gerichten

(27) Laut der Bf. seien die medizinischen Beobachtungszentren aufgrund ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Invalidenversicherung nicht als unabhängig anzusehen. Den nationalen Gerichten würde generell und in ihrem konkreten Fall die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit fehlen, indem sie sich bei der Entscheidung über ihre Angelegenheit auf die Expertise eines medizinischen Beobachtungszentrums stützen würden, anstatt ein gerichtliches Gutachten in Auftrag zu geben [...].

(30) Im vorliegenden Fall wurde die Angelegenheit der Bf. zweimal von der Invalidenversicherungsstelle, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesgericht geprüft. Im Verlauf des zweiten Verfahrens beauftragte die Invalidenversicherungsstelle die SMAB mit der Erstellung einer Expertise, um das medizinische Dossier angesichts des Vorliegens des Privatgutachtens der UMEG zu komplettieren. Die Bf. hat gegen die medizinischen Experten der SMAB keine formellen Bedenken geäußert. Sie hatte nachfolgend die Möglichkeit, sich zur Expertise zu äußern, machte davon aber, wie ihre Akte zeigt, nicht wirklich Gebrauch.

(31) Die Bf. und ihr Rechtsvertreter nahmen im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens auch an einer öffentlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht teil. Die Tatsache, dass Letzteres dem Antrag der Bf. auf Befragung zweier Mediziner als Zeugen nicht Folge gab und sich weigerte, ein »Obergutachten« in Auftrag zu geben, fällt in den Anwendungsbereich der freien Beweiswürdigung bzw. der Verfahrensökonomie. Wie auch vom Bundesgericht bestätigt, scheint das Verwaltungsgericht die medizinische Dokumentation und insbesondere die Expertisen der UMEG und der SMAB auch nicht in willkürlicher Weise bewertet zu haben. Es deutet somit nichts darauf hin, dass das Verfahren insgesamt unfair abgelaufen wäre.

(32) Dieser Beschwerdepunkt ist daher offensichtlich unbegründet und [als unzulässig] zurückzuweisen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

Die Bf. behauptet, als an einem Schmerzsyndrom ohne organischen Hintergrund leidende Person Opfer einer diskrimierenden Behandlung in Bezug auf ihr Privat- und Familienleben [...] im Vergleich zu Personen mit organischen Störungen zu sein. Sie beharrt darauf, dass diese Diskriminierung aus der – widerlegbaren – Annahme resultiert, wonach eine Person mit gesundheitlichen Störungen ohne erkennbare organische Ursache im Prinzip den erforderlichen Willen aufbringen könne, ihr Leiden zu überwinden und ihre frühere berufliche Tätigkeit wiederaufzunehmen.

(36) Gemäß der ständigen Rechtsprechung des GH muss – damit Art. 14 EMRK ins Spiel kommt – eine unterschiedliche Behandlung von Personen in vergleichbaren Situationen vorliegen. Eine derartige Unterscheidung ist diskriminierend, sofern sie nicht auf einer objektiven und vernünftigen Rechtfertigung beruht, mit anderen Worten kein legitimes Ziel verfolgt oder kein angemessenes Verhältnis zwischen den verwendeten Mitteln und dem anvisierten Ziel besteht. Die Staaten genießen bei der Beurteilung, ob und in welchem Ausmaß Unterschiede bei Personen, die sich in einer vergleichbaren Position befinden, eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen, einen gewissen Ermessensspielraum. [...]

(37) Was den gegenständlichen Fall betrifft, ist die Unterscheidung zwischen Syndromen mit organischem Hintergrund und Syndromen ohne einen solchen Sache der medizinischen Diagnose, sodass man nicht sagen kann, dass sich beide Personengruppen in einer analogen oder vergleichbaren Situation befinden. In der Tat verhält es sich so, dass sich beide Arten von Syndromen durch die Anwesenheit oder Abwesenheit einer organischen Komponente unterscheiden, die von den Instrumenten der medizinischen Wissenschaft objektiv erfasst werden. Die Tatsache, dass die Bf. auf der Basis dieser Entscheidung keine Invalidenpension gewährt bekam, stellt keine Diskriminierung ihrer Person im Vergleich zu Personen dar, welche eine Invalidenpension aufgrund eines diagnostizierten organischen Syndroms erhielten, und dies aus dem zwar simplen aber guten Grund, dass beide Situationen nicht analog bzw. vergleichbar waren.

(38) Aber auch gesetzt den Fall, beide Sachlagen würden als analog bzw. vergleichbar angesehen werden, liegt eine objektive und angemessene Rechtfertigung für die [oben beschriebene] Ungleichbehandlung vor, da eine Invalidenpension aus Gründen der Gleichheit, der Wirtschaftlichkeit und der Sozialpolitik nicht anhand einer rein subjektiven Diagnose gewährt werden kann, also einer Diagnose, die mit den Instrumenten der medizinischen Wissenschaft nicht objektiv verifizierbar ist. In diesem Sinn ist die Kritik der Bf. an der von der nationalen Rechtsprechung etablierten widerlegbaren Vermutung, was die Arbeitswilligkeit [...] angeht, nicht überzeugend, zumal – wäre diese Vermutung im ersten Verfahren angewendet worden – dies im zweiten Verfahren nicht der Fall gewesen wäre, bei dem die Arbeitsfähigkeit der Bf. von den medizinischen Experten der SMAB beurteilt worden war.

(39) Dieser Beschwerdepunkt ist daher offensichtlich unbegründet und [...] muss [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 2 und 3 EMRK

(40) Die Bf. hat diesen Beschwerdepunkt nicht ausreichend vor dem Bundesgericht dargelegt und damit den innerstaatlichen Instanzenzug nicht ausgeschöpft. Sie hat die von ihr behaupteten Verletzungen aber auch vor dem GH nicht näher dargelegt. Er selbst hat diese Frage bereits unter dem Beschwerdepunkt unter Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK erörtert, der nachfolgend für unzulässig erklärt wurde.

(41) Dieser Beschwerdepunkt ist daher offensichtlich unbegründet und [...] [als unzulässig] zurückzuweisen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Schuler-Zgraggen/CH v. 24.6.1993 = NL 1993/4, 30 = EuGRZ 1996, 604 = ÖJZ 1994, 138

Mantovanelli/F v. 18.3.1997

T. B./CH v. 22.6.1999 (ZE)

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 17.11.2015, Bsw. 26275/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2015, 550) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Zulässigkeitsentscheidung im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_6/Spycher.pdf

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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