Spruch:
Art. 10 EMRK - Berichte über ärztliche Kunstfehler und Freiheit der Meinungsäußerung.
Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: NOK 4.848.859,- an die ErstBf., je NOK 44.383,- an ZweitBf. und DrittBf. für materiellen Schaden; NOK 878.945,-- an alle Bf. gemeinsam für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung
Sachverhalt:
Die ErstBf. ist eine der größten regionalen Tageszeitungen Norwegens, der ZweitBf. ihr ehemaliger Herausgeber und die DrittBf. eine bei der ErstBf. beschäftigte Journalistin. Mitte der 80er Jahre berichtete die ErstBf. über Dr. R., einen Schönheitschirurgen. In mehreren Artikeln kamen ehemalige Patientinnen zu Wort, die sich über irreparable ärztliche Kunstfehler beklagten. In diesem Zusammenhang wurden auch Vermutungen über ein eventuelles Berufsausübungsverbot und Schadenersatzklagen geäußert. Aufgrund dieser Berichte brachte Dr. R. Verleumdungsklagen gegen die Bf. ein. (Anm.: In der norweg. Rechtsordnung gibt es drei Sanktionen für eine rechtswidrige Verleumdung, nämlich die Verhängung einer Strafe nach den Vorschriften des norweg. StGB, eine Verfügung nach § 253 norweg. StGB, mit der die verleumderische Behauptung für null und nichtig erklärt wird („mortifikasjon") und die Zuerkennung von Schadenersatz nach dem Schadenersatzgesetz 1969. Nur die letztere Form war Gegenstand des vorliegenden Falles.) Das Erstgericht gab der Klage statt, wohingegen die zweite Instanz das Urteil des Erstgerichts nach einem Rechtsmittel der Bf. aufhob. Dagegen wandte sich Dr. R. schließlich an den Obersten Gerichtshof, der die Bf. am 23.3.1994 zu einer Zahlung von NOK 4.709.861,-- an Dr. R. verurteilte.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung).
Der Eingriff in das Recht des Bf. auf Freiheit der Meinungsäußerung war gesetzlich vorgesehen und verfolgte legitime Ziele iSv. Art. 10
(2) EMRK, nämlich den Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer. Zu prüfen bleibt, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Nach st. Rspr. des GH erfordert diese Prüfung, dass der umstrittene Eingriff einem zwingenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprach. Darüber hinaus muss er in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen und die von den innerstaatlichen Behörden zu seiner Rechtfertigung vorgebrachte Begründung muss erheblich und ausreichend sein. Bei der Einschätzung, ob ein solches Bedürfnis besteht und welche Maßnahmen zu dessen Befriedigung getroffen werden sollen, kommt den nationalen Behörden ein gewisser Ermessensspielraum zu. Dieser ist jedoch nicht unbeschränkt, sondern geht einher mit einer europäischen Kontrolle durch den GH.
Ein Faktor von besonderer Bedeutung für die Entscheidung des GH im vorliegenden Fall ist die wesentliche Funktion, welche die Presse in einer demokratischen Gesellschaft erfüllt. Einerseits darf die Presse gewisse Grenzen insb. in Bezug auf den Ruf und die Rechte anderer nicht überschreiten und hat die Notwendigkeit zu beachten, vertrauliche Informationen zu vermeiden. Andererseits entspricht es trotzdem ihrer Pflicht, Informationen und Gedanken über alle Angelegenheiten von öffentlichem Interesse in einer Weise zu verbreiten, die mit ihren Pflichten und Verantwortlichkeiten vereinbar ist. Zusätzlich berücksichtigt der GH die Tatsache, dass die journalistische Freiheit auch einen möglichen Rückgriff auf einen gewissen Grad an Übertreibung oder sogar Provokation umfasst. In Fällen wie dem vorliegenden wird der nationale Ermessensspielraum von dem Interesse einer demokratischen Gesellschaft begrenzt, die Presse in ihrer Rolle als "öffentlicher Wachhund" in die Lage zu versetzen, dass sie Informationen von ernsthafter öffentlicher Bedeutung verbreitet.
Die bekämpften Artikel gaben hauptsächlich die Darstellung betroffener Patientinnen wieder. Die darin geäußerte Kritik wurde von den innerstaatlichen Gerichten zu einem großen Teil als gerechtfertigt angesehen, auch wenn sie die berufliche Reputation von Dr. R. in einem hohem Maß negativ beeinträchtigt hatte. Das Gericht zweiter Instanz stellte fest, dass die ErstBf. eine im wesentlichen korrekte Darstellung der Aussagen der betroffenen Frauen abgedruckt hatte. Dr. R. werde aber durch die Artikel nicht ein Mangel fachlicher Fähigkeiten unterstellt. Das Oberste Gericht teilte in diesem Punkt nicht die Ansicht der Unterinstanz: Äußerungen betroffener Patientinnen wie "entstellt" oder "ruiniert für den Rest meines Lebens" könnten nur schwer anders interpretiert werden, als das Dr. R. seine ärztliche Tätigkeit in geradezu rücksichtsloser Weise durchführe.
Für den GH ist entscheidend, dass die Darstellungen der Patientinnen nicht nur weitestgehend den Tatsachen entsprachen, sondern diese auch von der ErstBf. korrekt wiedergegeben wurden. Die Frauen bedienten sich dabei zwar einer sehr kräftigen und bildhaften Sprache (diese Ausdrücke wurden dann auch von der ErstBf. besonders hervorgehoben), diese Ausdrücke geben jedoch das nachvollziehbare Empfinden der Betroffenen wieder. Darüber hinaus wird in den Zeitungsartikeln die (den Tatsachen entsprechende) Anschuldigung erhoben, Dr. R. hätte seine Pflichten als plastischer Chirurg insofern vernachlässigt, als er keine angemessenen Nachbehandlungen für misslungene Operationen vorsah. Unter Berücksichtigung all dieser Fakten konnte der GH die wiedergegebenen Äußerungen der betroffenen Patientinnen nicht als irreführend oder übertrieben ansehen. Der bekämpfte Eingriff war daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig. Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
NOK 4.848.859,-- an die ErstBf., je NOK 44.383,-- an ZweitBf. und DrittBf. für materiellen Schaden. NOK 878.945,-- an alle Bf. gemeinsam für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Anm.: Vgl. den vom GH zitierten Fall Bladet Troms & Stensaas/N, Urteil v. 20.5.1999 (= NL 1999, 96 = EuGRZ 1999, 453 = ÖJZ 2000, 232).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.5.2000, Bsw. 26132/95, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2000, 93) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/00_3/Bergens_Tidende.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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