EGMR Bsw25579/05

EGMRBsw25579/0516.12.2010

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache A., B., C. gegen Irland, Urteil vom 16.12.2010, Bsw. 25579/05.

 

Spruch:

Art. 2, 3, 8, 13, 14 EMRK - Regelung der Abtreibung in Irland konventionskonform?

Zurückweisung der Einrede der Regierung betreffend die Nichterschöpfung des Instanzenzugs in Hinblick auf Art. 8 EMRK, soweit sie die Erst- und die ZweitBf. betrifft, und Verbindung dieser Einrede mit der Prüfung in der Sache, soweit sie sich auf die Beschwerde der DrittBf. bezieht (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8, 13, 14 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der übrigen Beschwerden (mehrheitlich).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK oder Art. 13 iVm. Art. 8 EMRK bezüglich der Erst- und der ZweitBf. (11:6 Stimmen).

Verletzung von Art. 8 EMRK bezüglich der DrittBf. (einstimmig).

Keine gesonderte Untersuchung der Vorbringen unter Art. 14 EMRK erforderlich (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 15.000,– für die DrittBf. für immateriellen Schaden (einstimmig).

Begründung

Sachverhalt:

Bei den Bf. A., B. und C. handelt es sich um drei in Irland lebende Frauen. Alle drei reisten 2005 nach England, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen.

Als A. ungewollt schwanger wurde, war sie unverheiratet, arbeitslos und lebte in Armut. Sie hatte vier Kinder, die sich allerdings wegen der früheren Alkoholprobleme ihrer Mutter in Pflege befanden. Die ErstBf. befürchtete, dass ein weiteres Kind ihre Gesundheit – es bestand die Gefahr postnataler Depressionen – und die Zusammenführung ihrer Familie gefährden würde. Um die Abtreibung in England vornehmen zu lassen, musste sie sich Geld leihen.

Auch B. wurde ungewollt schwanger. Zwei Ärzte warnten sie vor einer ektopischen Schwangerschaft, die jedoch zum Zeitpunkt ihrer Reise nach England bereits ausgeschlossen werden konnte. Grund für die Abtreibung war, dass sie sich nicht in der Lage sah, allein ein Kind groß zu ziehen.

Die Erst- und die ZweitBf. gingen davon aus, in Irland nicht zu einer Abtreibung berechtigt zu sein.

C. litt an einer seltenen Form von Krebs und war deshalb drei Jahre lang mit Chemotherapie behandelt worden. Sie hatte danach keine Krebssymptome mehr, unternahm jedoch mehrere Tests, ohne zu wissen, dass sie schwanger war. Als sie davon erfuhr, konsultierte sie mehrere Ärzte. Sie erhielt jedoch nur unzureichende Informationen darüber, wie sich die Schwangerschaft auf ihre Gesundheit und ihr Leben und die medizinischen Tests auf das ungeborene Kind auswirken würden. Wegen der Ungewissheit der Risiken beschloss sie, in England eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Sie nahm an, ihr Recht auf eine Abtreibung in Irland nicht nachweisen zu können.

Abtreibungen sind in Irland durch § 58 Offences Against the Person Act 1861 (im Folgenden: 1861 Act) strafrechtlich verboten und mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe bedroht. Einem Urteil des Supreme Court aus 1992 zufolge ist eine Abtreibung in Fällen erlaubt, in denen das Leben der Mutter durch die Schwangerschaft tatsächlich und erheblich gefährdet ist. Diese Rechtsprechung bezieht sich auf Art. 40.3.3 der irischen Verfassung (wie er 1983 nach einem Referendum geändert wurde). Dieser Bestimmung zufolge erkennt der Staat das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes an und garantiert, mit Rücksicht auf dasselbe Recht der Mutter, dieses zu respektieren und, sofern praktizierbar, zu verteidigen. Die heute geltende Fassung erlaubt es, in andere Staaten zu reisen, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Wegen des in Irland bestehenden Verbots von Abtreibungen aus gesundheitlichen Gründen oder aus Gründen des eigenen Wohlergehens rügen die Bf. A. und B. Verletzungen von Art. 3 (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), Art. 13 (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) und Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot). Die Bf. C. beschwert sich über eine Verletzung der Art. 2 (Recht auf Leben), Art. 3, 8, 13 und 14 EMRK. Sie macht die fehlende Umsetzung von Art. 40.3.3 der irischen Verfassung geltend, wodurch ihr keine geeigneten Mittel zur Feststellung ihres Rechts auf eine legale Abtreibung bei Bestehen von Lebensgefahr zur Verfügung gestanden seien.

I. Zur Zulässigkeit

1. Relevante Tatsachen und Umfang des Falls

Die Tatsachen des vorliegenden Falls werden von der Regierung bestritten, die von subjektiven und allgemeinen Behauptungen spricht.

Der GH hat die angefochtene Rechtslage betreffend Abtreibungen in Irland zu untersuchen, soweit sie die Bf. direkt betroffen hat, soweit die Bf. zu einer Personenkategorie gehören, für die das Risiko einer direkten Betroffenheit besteht, oder soweit die Bf. gezwungen waren, entweder ihr Verhalten zu ändern oder Verfolgung zu riskieren.

Die Regierung hat zwar die vorgebrachten Tatsachen angezweifelt, jedoch nicht ernsthaft bestritten, dass die Bf. zur Durchführung der Abtreibungen nach England reisten. Auch die Angaben zu den persönlichen Umständen der Bf. wurden von der Regierung nicht spezifisch angefochten. Der GH erkennt daher an, dass A. aus Gründen ihrer Gesundheit und ihres Wohlergehens, B. zwecks ihres Wohlergehens und C. deshalb für eine Abtreibung ins Ausland reiste, weil sie fürchtete, die Schwangerschaft würde ihr Leben gefährden.

Was die psychischen Auswirkungen auf die Bf. anlangt, so sind diese von Natur aus subjektiv. Es ist evident, dass den Bf. eine erhebliche psychische Last auferlegt wurde, indem sie für eine Abtreibung ins Ausland reisen mussten. Dass sie in Irland vor und nach dem Schwangerschaftsabbruch unzureichenden Zugang zu notwendiger medizinischer Behandlung gehabt hätten, hält der GH jedoch nicht für belegt. Die finanzielle Belastung beteffend kann angenommen werden, dass diese für die ErstBf. signifikant und auch für die Zweit- und DrittBf. erheblich war.

Das Vorbringen, es seien keine ausreichenden Informationen über mögliche Optionen Abtreibungen betreffend zur Verfügung gestanden, hält der GH in Bezug auf A. und B. für unsubstantiiert. In Hinblick auf C. wird der GH diesen Punkt bei der Untersuchung der Sache klären.

Was schließlich die Gefahr einer strafrechtlichen Sanktionierung betrifft, so hatte diese, abgesehen vom psychologischen Effekt, keine direkte Bedeutung für die Beschwerden der Erst- und der ZweitBf. Der GH wird sie aber in Zusammenhang mit den Beschwerden der DrittBf., bei deren Behandlung in der Sache, prüfen.

2. Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs

Nach Ansicht der Regierung haben die Bf. den innerstaatlichen Instanzenzug nicht erschöpft. Einerseits hätten sie die Möglichkeit gehabt, die Verfassungsmäßigkeit des 1861 Act durch eine Verfassungsklage anzufechten. Andererseits hätten sie die Feststellung der Unvereinbarkeit dieses Gesetzes mit der Konvention unter dem European Convention on Human Rights Act 2003 (im Folgenden: 2003 Act) beantragen können.

In Bezug auf A. und B. wäre es bei Erhebung einer Verfassungsklage erforderlich, zu zeigen, das die einschlägigen Bestimmungen des 1861 Act, soweit sie Abtreibungen aus Gesundheits- oder Wohlergehensgründen verbieten, unvereinbar mit den Rechten der Mutter nach Art. 40.3 der Verfassung wären. Es wurde jedoch nicht gezeigt, dass eine solche Klage Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Der Rechtsprechung zu Art. 40.3.3 zufolge ist eine Abtreibung nur bei einer tatsächlichen und erheblichen Gefahr für das Leben – im Unterschied zur Gesundheit – der Mutter bzw. bei Selbstmordgefahr erlaubt. Die Regierung gibt selbst zu, dass Art. 40.3.3 der Verfassung nicht dahingehend betrachtet werden könne, dass er Abtreibungen in Irland aus »sozialen Gründen« erlaube.

Auch eine Beschwerde nach dem 2003 Act hält der GH für kein effektives Rechtsmittel, das ergriffen hätte werden müssen. Die im 2003 Act garantierten Rechte stehen in ihrem Rang nicht über der Verfassung. Eine Unvereinbarkeitserklärung würde zudem keine rechtliche Verpflichtung begründen, die Gesetzeslage zu ändern.

Die Regierung hat somit nicht gezeigt, dass für die ersten beiden Bf. ein effektives Rechtsmittel verfügbar war.

Die DrittBf. fürchtete, ihre Schwangerschaft würde ihr Leben gefährden, und beschwert sich unter Art. 8 EMRK über das Fehlen von Regelungen zur Umsetzung des verfassungsmäßigen Rechts auf Abtreibung in einem solchen Fall. Da sie rügt, es habe kein effektives Verfahren zur Feststellung ihrer Qualifiziertheit für eine legale Abtreibung bestanden und sie diesbezüglich nicht zu einer Prozessführung gezwungen sein sollte, befindet der GH, dass die Frage der Ausschöpfung des Instanzenzugs zusammen mit der Entscheidung in der Sache geprüft werden sollte.

Der GH weist folglich die Einrede der Regierung zurück, soweit sie die Erst- und die ZweitBf. betrifft, und verbindet sie mit der Prüfung in der Sache, soweit sie sich auf die Beschwerde der DrittBf. unter Art. 8 EMRK bezieht (einstimmig).

3. Art. 2 EMRK

Die DrittBf. bringt vor, Abtreibungen seien in Irland mangels Umsetzung von Art. 40.3.3 der Verfassung auch in lebensbedrohenden Situationen nicht verfügbar.

Weder für die Dritt-, noch für die Erst- und die ZweitBf. bestand ein rechtliches Hindernis, eine Abtreibung im Ausland vornehmen zu lassen. Die DrittBf. verweist auch auf keine anderen Hindernisse oder auf lebensbedrohliche Komplikationen infolge des Schwangerschaftsabbruchs. Es gibt somit keine Beweise für das Bestehen einer entsprechenden Lebensgefahr. Die Beschwerde der DrittBf. darüber, dass sie gezwungen war, zur Durchführung der Abtreibung ins Ausland zu reisen, ist unter Art. 8 EMRK zu untersuchen.

Die Beschwerde unter Art. 2 EMRK ist wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art. 35 Abs. 3 und 4 EMRK zurückzuweisen. Ebenso ist die damit verbundene Beschwerde unter Art. 13 EMRK als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.

4. Art. 3 EMRK

Alle drei Bf. rügen, die für Abtreibungen in Irland geltenden Beschränkungen würden Art. 3 EMRK verletzen.

Für den GH ist es zwar evident, dass die Auslandsreise zur Durchführung der Abtreibung eine psychische und physische Belastung für alle Bf., für die ErstBf. auch eine finanzielle Belastung darstellte.

Um unter Art. 3 EMRK zu fallen, muss eine Behandlung jedoch ein Mindestmaß an Schwere aufweisen. In Anbetracht der vorliegenden Umstände ist dies nach Ansicht des GH jedoch nicht der Fall. Die Beschwerden unter Art. 3 EMRK sind daher als offensichtlich unbegründet gemäß Art. 35 Abs. 3 und 4 EMRK zurückzuweisen. Dies gilt wiederum auch für die damit verbundenen Beschwerden unter Art. 13 EMRK.

5. Ergebnis

Da es keinen Grund für die Unzulässigkeit der Beschwerden unter Art. 8 EMRK oder die damit verbundenen Beschwerden unter Art. 13 und 14 EMRK gibt, erklärt der GH diese für zulässig (einstimmig), die übrigen Beschwerden hingegen für unzulässig (mehrheitlich).

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Die Erst- und die ZweitBf. beschweren sich über die bestehende Beschränkung legaler Schwangerschaftsabbrüche, die dazu führte, dass sie in Irland keine Abtreibung aus gesundheitlichen Gründen oder Gründen des Wohlergehens durchführen lassen konnten. Die DrittBf. bemängelt das Fehlen einer legislativen Umsetzung von Art. 40.3.3 der Verfassung.

1. Zur Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK

»Privatleben« iSv. Art. 8 EMRK ist ein weites Konzept, das unter anderem auch das Recht auf persönliche Autonomie und Entwicklung beinhaltet. Wie der GH bereits früher befunden hat, berühren Regelungen über die Unterbrechung einer Schwangerschaft die Sphäre des Privatlebens der Frau. Ihr Recht auf Achtung des Privatlebens muss gegen andere konkurrierende Rechte und Freiheiten, jene des ungeborenen Kindes mit eingeschlossen, abgewogen werden. Auch wenn aus Art. 8 EMRK somit kein Recht auf Abtreibung abgeleitet werden kann, fallen die Beschwerden der Bf. in den Anwendungsbereich ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens.

2. Zur Erst- und zur ZweitBf.

Der GH wird die Beschwerden der Erst. und ZweitBf. in Hinblick auf die negativen Verpflichtungen des Staates unter Art. 8 EMRK untersuchen. Nicht jede Regelung betreffend Schwangerschaftsabbrüche stellt einen Eingriff in das Privatleben der Mutter dar, doch geht der GH hinsichtlich des Verbots, die Schwangerschaften der Bf. aus Gesundheits- bzw. Wohlergehensgründen abzubrechen, von einem solchen aus. Der Eingriff basierte auf dem 1861 Act, qualifiziert durch Art. 40.3.3 der Verfassung und interpretiert durch die Rechtsprechung des Supreme Court. Der GH hat zu prüfen, ob der Eingriff eine Konventionsverletzung darstellt oder iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt war.

Der GH befindet, dass die den Eingriff begründenden gesetzlichen Bestimmungen klar zugänglich waren und es auch vorhersehbar war, dass die Erst- und ZweitBf. in Irland nicht zu einer Abtreibung aus gesundheitlichen Gründen oder aus Gründen des Wohlergehens berechtigt waren.

In Fall Open Door und Dublin Well Woman/IRL hat der GH festgestellt, dass der im irischen Recht gewährte Schutz des Rechts auf Leben des Ungeborenen auf moralischen Werten basierte, die in einem 1983 abgehaltenen Referendum betreffend Abtreibungen von der Mehrheit der irischen Bevölkerung vertreten wurden. Die Wahrung dieser Werte wurde damals als legitimes Ziel gewertet. Die Bf. behaupten nun, die Meinung der Iren habe sich seit 1983 geändert. Seit damals wurde allerdings kein Referendum über eine Ausweitung des Rechts auf Abtreibung abgehalten. Reflexionsprozesse, in denen diverse verfassungs- und einfachgesetzliche Optionen überlegt wurden, haben das Bestehen konkurrierender Meinungen zum Thema und dessen Sensibilität und Komplexität verdeutlicht. Zum Vertrag von Lissabon wurde ein Protokoll zugelassen, dem zufolge dieser Vertrag unter anderem den verfassungsrechtlichen Schutz des Lebens des Ungeborenen nicht berühren werde. Erst danach wurde in einem Referendum die Ratifizierung des Vertrags genehmigt.

Der GH hält die Vorbringen der Bf. nicht für ausreichend, um eine Änderung der öffentlichen Meinung in Irland erkennen zu lassen. Die angefochtenen Beschränkungen basierten auf fundierten moralischen Werten über die Natur des Lebens. Sie verfolgten somit das legitime Ziel, die Moral zu schützen, zu der auch der in Irland gewährte Schutz des Lebens des Ungeborenen gehört.

Der GH muss nun untersuchen, ob zwischen dem Recht auf Achtung des Privatlebens der Erst- und ZweitBf. und den moralischen Werten der irischen Gesellschaft ein gerechter Ausgleich geschaffen wurde. Der dem Staat in Rahmen von Art. 8 EMRK zustehende Ermessensspielraum wird beschränkt, wenn ein besonders wichtiger Aspekt der Existenz oder der Identität eines Einzelnen auf dem Spiel steht. Besteht innerhalb der Mitgliedstaaten des Europarats jedoch kein Konsens hinsichtlich der Bedeutung der betroffenen Interessen oder der Möglichkeiten zu deren Schutz, wird der Spielraum größer sein, insbesondere wenn ein Fall sensible moralische und ethische Fragen aufwirft. Hinsichtlich der Sensibilität der vorliegend betroffenen ethischen und moralischen Themen besteht kein Zweifel. Grundsätzlich ist daher von einem weiten Ermessensspielraum Irlands auszugehen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dieser durch das Bestehen eines entsprechenden Konsenses eingeschränkt wird.

Nach Ansicht des GH besteht unter der Mehrheit der Europaratsstaaten tatsächlich ein Konsens dahingehend, Abtreibungen umfassender zuzulassen, als dies nach irischem Recht der Fall ist. In etwa 30 Staaten hätten die Bf. per Antrag eine Abtreibung vornehmen lassen können. Aus Gesundheits- und Wohlergehensgründen wäre ein Schwangerschaftsabbruch in ungefähr 40, aus reinen Wohlergehensgründen in circa 35 Staaten möglich gewesen. Nur drei Staaten sehen strengere als die irischen Bestimmungen vor. Einige Staaten haben in den vergangenen Jahren die Gründe für eine legale Abtreibung ausgeweitet.

Der GH geht allerdings nicht davon aus, dass dieser Konsens den weiten staatlichen Ermessensspielraum entscheidend einengt. Wie der GH im Fall Vo/F feststellte, fällt die Frage, wann ein Leben beginnt, in den staatlichen Ermessensspielraum, da es hier keinen europäischen Konsens bezüglich der wissenschaftlichen oder rechtlichen Definition gibt und die Frage, ob das Ungeborene eine Person iSv. Art. 2 EMRK ist, deshalb nicht beantwortet werden kann. Da die Rechte des Fötus und die der Mutter untrennbar miteinander verbunden sind, wird der Ermessensspielraum in Hinblick auf den Schutz des Ungeborenen notwendigerweise auf einen Ermessensspielraum dahingehend umgelegt, auf welche Weise ein Ausgleich mit den konkurrierenden Rechten der Mutter geschaffen wird. Der festgestellte Konsens kann daher nicht entscheidend für die Beurteilung sein, ob mit dem bestrittenen Abtreibungsverbot aus Gesundheits- und Wohlergehensgründen ein fairer Ausgleich erzielt wurde. Ein unbegrenzter staatlicher Ermessensspielraum besteht jedoch nicht.

Aus einer langen und sensiblen Debatte über die irischen Abtreibungsregelungen hat sich eine Wahlmöglichkeit entwickelt. Abtreibungen aus Gesundheits- und Wohlergehensgründen sind in Irland zwar verboten, doch haben Frauen in der Lage der Erst- und der ZweitBf. heute die Wahl, legal ins Ausland zu reisen, um den Eingriff dort vornehmen zu lassen. Diesbezügliche rechtliche Hindernisse wurden durch Verfassungsänderungen beseitigt und später auch legislative Maßnahmen beschlossen, um Informationen und Beratung über Abtreibungen im Ausland zu ermöglichen und die nötige medizinische Versorgung vor, während und nach einem Schwangerschaftsabbruch zu garantieren.

Andererseits bedeutete die Auslandsreise zur Durchführung der Abtreibung eine psychische und physische Belastung für die Erst- und ZweitBf. Der GH unterschätzt nicht, welche ernsthaften Auswirkungen die angefochtenen Beschränkungen auf die beiden hatten.

Es ist die angesprochene Wahlmöglichkeit, mit der die Bf. nicht einverstanden sind. Jedoch ist es auch gerade diese Wahlmöglichkeit, hinsichtlich der der weite staatliche Ermessensspielraum gilt. In Anbetracht des Rechts, legal ins Ausland reisen zu können, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen, und aufgrund des Zugangs zu angemessenen Informationen und medizinischer Versorgung in Irland ist der GH nicht der Ansicht, dass das in Irland geltende Verbot von Abtreibungen aus Gesundheits- und Wohlergehensgründen, welches auf fundierten moralischen Werten der irischen Bevölkerung und dem als Konsequenz gewährten Schutz des Rechts auf Leben des Ungeborenen gründet, den staatlichen Ermessensspielraum überschreitet. Es wurde ein gerechter Ausgleich zwischen den Rechten der Erst- und ZweitBf. und jenen ungeborener Kinder erzielt.

In Bezug auf die ersten beiden Bf. liegt somit keine Verletzung von Art. 8 EMRK vor (11:6 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richterinnen und Richter Rozakis, Tulkens, Fura, Hirvelä, Malinverni und Poalelungi; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter López Guerra, gefolgt von Richter Casadevall; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Finlay Geoghegan).

3. Zur DrittBf.

Die Beschwerde der DrittBf. betrifft die Untätigkeit Irlands, Art. 40.3.3 der Verfassung gesetzlich umzusetzen und ein Verfahren einzurichten, mit dem festgestellt hätte werden können, ob sie für eine in Irland legale Abtreibung wegen einer durch die Schwangerschaft bewirkten Lebensgefahr qualifiziert war.

Der GH ist der Ansicht, dass diese Beschwerde unter dem positiven Aspekt von Art. 8 EMRK untersucht werden sollte. Es ist die Frage zu klären, ob eine positive Verpflichtung des Staates besteht, ein effektives und zugängliches Verfahren zur Verfügung zu stellen, das der DrittBf. erlaubt, ihren Anspruch auf eine legale Abtreibung in Irland feststellen zu lassen.

Die DrittBf. litt an einer seltenen Form von Krebs. Als sie von der Schwangerschaft erfuhr, befürchtete sie, diese könne die Gefahr einer neuerlichen Krebserkrankung erhöhen und sie würde während der Schwangerschaft keine Krebsbehandlung in Irland erhalten. Die Feststellung einer solchen Gefahr für ihr Leben betraf klarerweise essentielle Aspekte ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens. Es ist nicht nötig, das medizinische Risiko näher zu substantiieren, da die Beschwerde das Fehlen jeglichen Verfahrens zu dessen Feststellung betrifft.

Der GH untersucht zunächst die von der Regierung ins Treffen geführte nicht-gerichtliche Möglichkeit zur Feststellung des Anspruchs auf eine legale Abtreibung, nämlich den Konsultationsprozess zwischen der betroffenen Frau und ihrem Arzt. Die Gründe für eine legale Abtreibung sind durch Art. 40.3.3 der Verfassung und die diesbezügliche Rechtsprechung nur grob definiert. Danach ist eine Abtreibung zulässig, wenn die Wahrscheinlichkeit einer realen und substantiellen Gefahr für das Leben der Mutter, inklusive der Gefahr der Selbstschädigung, besteht, die nur durch einen Schwangerschaftsabbruch vermieden werden kann. Im irischen Recht wurden keine Kriterien oder Verfahren eingeführt, mit denen diese Gefahr bestimmt werden könnte, was zu Unsicherheiten führt. Auch wenn Art. 40.3.3 der Verfassung die Bestimmungen des 1861 Act relativiert, die Abtreibungen absolut verbieten, sind diese immer noch in Kraft und tragen zur Unsicherheit betroffener Frauen bei. Zudem besteht kein System, innerhalb dessen unterschiedliche Ansichten zwischen dem Arzt und der Betroffenen oder zwischen mehreren Ärzten oder Unschlüssigkeiten untersucht würden und rechtlich entschieden werden könnten. Vor diesem Hintergrund ist es evident, dass die strafrechtlichen Bestimmungen des 1861 Act einen signifikanten Abschreckungsfaktor (chilling factor) für Frauen und Ärzte haben. Für die DrittBf. und jeden Arzt bestand die Gefahr einer schwerwiegenden strafrechtlichen Verurteilung und der Verhängung einer Freiheitsstrafe für den Fall, dass die im medizinischen Konsultationsprozess getroffene Entscheidung zugunsten eines Anspruchs auf eine legale Abtreibung wegen Lebensbedrohung später als unvereinbar mit Art. 40.3.3 der Verfassung qualifiziert würde. Ärzte riskieren zudem Disziplinarverfahren. Der GH hält den ärztlichen Konsultationsprozess daher für kein effektives Mittel zur die Feststellung, ob eine Abtreibung in Irland legal wegen Bestehens einer Lebensgefahr durchgeführt werden kann.

Die Regierung argumentiert weiters – bereits im Rahmen der Ausführungen zur Nichtausschöpfung des Instanzenzugs – damit, dass der DrittBf. gerichtliche Verfahren zum Schutz ihrer Interessen zur Verfügung gestanden wären. Sie hätte zunächst Verfassungsklage erheben können, mit der sie eine verpflichtende Anordnung an Ärzte zur Durchführung einer Abtreibung erwirken und die Verfassungsmäßigkeit des 1861 Act anfechten hätte können.

Der GH ist von der Effektivität dieser Klage nicht überzeugt. Erstens hält er Verfassungsgerichte nicht für geeignet, primär festzustellen, ob eine Frau die Voraussetzungen für eine innerhalb des Staates legale Abtreibung erfüllt. Dies würde bedeuten, rechtliche Kriterien für das Vorhandensein einer Gefahr für das Leben der Frau anhand einer fallspezifischen Rechtsprechung zu etablieren. Die Verfassungsgerichte haben selbst unterstrichen, dass dies nicht ihre Rolle sein sollte. Zweitens wäre es unangemessen, Frauen zur Bestreitung solch komplexer verfassungsgerichtlicher Verfahren zu verpflichten, wenn ihr Recht auf Durchführung einer Abtreibung im Falle einer qualifizierten Lebensgefahr unbestritten ist. Es ist zudem nicht klar, wie die Gerichte eine verpflichtende Anordnung an Ärzte zur Durchführung einer Abtreibung hätten vollstrecken können.

Die von der Regierung weiters vorgeschlagene Beschwerde nach dem 2003 Act betreffend verweist der GH auf seine Feststellungen bezüglich der anderen beiden Bf., die vorliegend ebenso anwendbar sind.

Der GH hält daher weder den medizinischen Konsultationsprozess noch die vorgeschlagenen Rechtswege für effektive und zugängliche Verfahren zur Feststellung, ob die DrittBf. über ein Recht auf eine legale Abtreibung in Irland verfügte.

Die durch diesen Mangel und das Fehlen einer legislativen Umsetzung von Art. 40.3.3 der Verfassung erzeugte Unsicherheit bewirkt ein auffallendes Missverhältnis zwischen dem theoretischen Recht auf eine in Irland legitime Abtreibung bei Bestehen einer entsprechenden Lebensgefahr und seiner praktischen Durchsetzung. Die Regierung konnte die fehlende Umsetzung von Art. 40.3.3 der Verfassung nicht erklären und auch Berichten, die auf die in Irland durchgeführten Reflexionsprozesse zur geltenden Rechtslage folgten, können keine überzeugenden Gründe entnommen werden. Auch wenn darin rechtliche Klarheit betreffend legale Abtreibungen gefordert wurde, konnte keine Einigkeit über Reformvorschläge erzielt werden und ist eine Gesetzesreform nicht angestrebt.

Die Umsetzung von Art. 40.3.3 der Verfassung würde eine sensible und komplexe Aufgabe darstellen. Es ist nicht Sache des GH, dem Staat zur Erfüllung seiner positiven Verpflichtungen geeignete Mittel aufzuzeigen, doch ist anzumerken, dass in vielen Konventionsstaaten spezifische Bedingungen für den Zugang zu legalen Abtreibungen und entsprechende Verfahren bestehen. Die Umsetzung der Verfassungsbestimmung kann zudem nicht als erhebliche Beeinträchtigung für den Staat verstanden werden, da dies lediglich bedeuten würde, einem bereits bestehenden Recht Effektivität zu verleihen.

Unter diesen Umständen weist der GH die Einrede der Regierung betreffend die Nichtausschöpfung des Instanzenzugs zurück (einstimmig). Er stellt fest, dass Irland seiner positiven Verpflichtung, das Recht der DrittBf. auf Achtung ihres Privatlebens effektiv zu schützen, nicht nachgekommen ist, und erkennt somit auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

III. Zur behaupteten Verletzung von Art 14 iVm. Art. 8 EMRK

Die Bf. behaupten, die angefochtenen Beschränkungen legaler Abtreibungen würde ihnen als Frauen eine übermäßige Last auferlegen. Der GH hält es in Anbetracht seiner vorangehenden Feststellungen zu Art. 8 EMRK nicht für erforderlich, diese Vorbringen gesondert unter Art. 14 EMRK zu untersuchen (einstimmig).

IV. Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 8 und Art. 14 EMRK

Die Bf. rügen, es sei ihnen kein effektives Rechtsmittel zur Geltendmachung ihrer Beschwerden unter Art. 8 und Art. 14 EMRK zur Verfügung gestanden.

Die Erst- und ZweitBf. haben Beschränkungen angefochten, die in den relevanten Bestimmungen des 1861 Act, qualifiziert durch Art. 40.3.3 der Verfassung, enthalten waren. Art. 13 EMRK garantiert jedoch kein Rechtsmittel zur Anfechtung von einfachen oder Verfassungsgesetzen (11:6 Stimmen). In Bezug auf die DrittBf. werden in Anbetracht der Feststellungen unter Art. 8 EMRK keine eigenständigen Fragen aufgeworfen (einstimmig).

V. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 15.000,– für die DrittBf. für immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Handyside/GB v. 7.12.1976; EuGRZ 1977, 38.

Open Door und Dublin Well Woman/IRL v. 29.10.1992, NL 1992/6, 33; EuGRZ 1992, 484; ÖJZ 1993, 280.

Christine Goodwin/GB v. 11.7.2002 (GK), NL 2002, 145; ÖJZ 2003, 766.

Vo/F v. 8.7.2004 (GK), NL 2004, 180; EuGRZ 2005, 568.

D./IRL v. 28.6.2006 (ZE), NL 2006, 182.

Tysiac/PL v. 20.3.2007, NL 2007, 82.

Evans/GB v. 10.4.2007 (GK), NL 2007, 90.

S. H. u.a./A v. 1.4.2010, NL 2010, 112; ÖJZ 2010, 684.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.12.2010, Bsw. 25579/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 368) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_6/A . B. C..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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