Spruch:
Art. 10 EMRK - Kein Zugang von Journalisten zu einer Rundfunkstation mangels Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils.
Verbindung der Einrede der Regierung hinsichtlich der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig).
Zurückweisung der Einrede der Regierung hinsichtlich der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 18.000,- pauschal an beide Bf. gemeinsam, € 5.500,– für Kosten und Auslagen an den ErstBf. (einstimmig).
Begründung
Sachverhalt:
Die Bf. sind rumänische Staatsangehörige und von Beruf Journalisten.
Der ErstBf. rief 1995 die Fernseh- und Radioproduktionsfirma Tele M ins Leben und 1999 Radio M Plus, eine weitere audiovisuelle Produktionsfirma. Die Rundfunkaktivitäten wurden zwischen den beiden Firmen dahingehend geteilt, dass Radio M Plus für die Produktion von Rundfunkprogrammen verantwortlich war, während Tele M für ihre Ausstrahlung sorgte.
Unter politischem und finanziellem Druck beschloss der ErstBf., Tele M zu verkaufen. In der Folge bildeten Radio M Plus, deren Geschäftsführer er weiterhin war, und Tele M eine Partnerschaft für die Produktion und Ausstrahlung von Rundfunkprogrammen. Es wurde festgelegt, dass die Aktivitäten der Rundfunkstation im zweiten Stock des Gebäudes, in dem sich die Studios für die Rundfunkproduktion und -ausstrahlung befanden, vorgenommen werden sollten.
Ab 2.10.2002 wurden dem ErstBf. und der ZweitBf., die als Redakteurin der Rundfunkstation angestellt war, von Vertretern von Tele M der Zugang zur Redaktion der Rundfunkstation verweigert. Am 16.10.2002 stellten die Bf. bei Gericht einen Antrag auf einstweilige Verfügung, womit sie ihr Recht auf Zugang zur Redaktion der Rundfunkstation geltend machten.
Mit Entscheidung vom 6.12.2002 ordnete das Amtsgericht Neamt an, dass Tele M den Bf. Zugang zur Redaktion von Radio M Plus zu gewähren hatte und die Verhinderung ihres Zugangs durch Vertreter von Tele M eine unrechtmäßige Handlung darstellte, die für die Aktivitäten der Rundfunkstation schädlich sein konnte, deren Geschäftsführer bzw. Redakteurin die Bf. waren.
Auf Antrag der Bf. wurde am 7.1.2003 die Vollstreckung der Entscheidung vom 6.12.2002 verfügt. Am 14.1.2003 begleitete ein Gerichtsvollzieher die beiden Bf. zur Redaktion der Rundfunkstation, doch wurde ihnen der Zugang erneut verweigert. Nach weiteren vergeblichen Vollstreckungsversuchen und einer ebenso wenig von Erfolg gekrönten strafrechtlichen Anzeige stellten die Bf. am 23.2.2004 einen Antrag auf eine einstweilige Verfügung, mit dem sie verlangten, anzuordnen, dass Tele M den Partnerschaftsvertrag einhielt. Der Antrag wurde am 12.10.2004 zurückgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügen eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit), da die zuständigen Behörden sie bei der Vollstreckung der rechtskräftigen Entscheidung des Amtsgerichts Neamt vom 6.12.2002 nicht auf effektive Weise unterstützt hätten. Dies hätte sie daran gehindert, als Journalisten tätig zu sein und daher ihr Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit beeinträchtigt.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK
Der GH beschließt, die Einrede der Regierung hinsichtlich der Nichterschöpfung des Instanzenzugs mit der Entscheidung in der Sache zu verbinden (einstimmig).
Da die Beschwerde im Übrigen nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Die wirkliche und effektive Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit hängt nicht nur von der Pflicht des Staates ab, sich etwaiger Eingriffe zu enthalten, sondern kann auch positive Schutzmaßnahmen bis in das Verhältnis zwischen Einzelnen untereinander hinein erfordern.
Um zu entscheiden, ob eine positive Verpflichtung vorliegt, muss dem zu treffenden gerechten Ausgleich zwischen dem allgemeinen Interesse und den Interessen des Einzelnen Rechnung getragen werden. Der GH hat in diesem Rahmen bislang die Natur der in Frage stehenden Meinungsäußerungsfreiheit, ihre Geeignetheit, zur öffentlichen Diskussion beizutragen, die Natur und die Reichweite der Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit, das Vorliegen von Alternativen in der Ausübung dieser Freiheit sowie das Gewicht der entgegenstehenden Rechte Dritter oder der Öffentlichkeit im Allgemeinen berücksichtigt.
Der GH wird zunächst untersuchen, ob den belangten Staat angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falls eine positive Verpflichtung gegenüber den Bf. traf, die Ausübung ihrer Rechte aus Art. 10 EMRK vor dem Eingriff Dritter – hier der Vertreter von Tele M – zu schützen.
Die Regierung bestreitet nicht, dass die Bf. durch den Zugang zur Redaktion und den Einrichtungen der Rundfunkstation Radio M Plus gedachten, ihren Beruf als Rundfunkjournalisten auszuüben.
Im vorliegenden Fall geht es nicht um die Unmöglichkeit, bestimmte Informationen oder Ansichten Dritten mitzuteilen, sondern um die Art der Ausübung eines Berufs, dem der GH in einer demokratischen Gesellschaft eine wesentliche Rolle zuerkennt, nämlich jene des »public watchdog«. Daher stand für die Bf. ein bedeutendes Element der Meinungsäußerungsfreiheit auf dem Spiel. Dass die Bf. die Möglichkeit hatten, Artikel in Zeitungen zu verfassen, schafft keinen Ausgleich hinsichtlich der freien Wahl der Art der Meinungsäußerung durch Journalisten. Art. 10 EMRK schützt nach der Rechtsprechung des GH nämlich auch die Art der Meinungsäußerung. Berücksichtigt werden muss daneben der potenzielle Einfluss des Übertragungskanals von Meinungen, da anerkannt ist, dass audiovisuelle Medien häufig eine unmittelbarere und stärkere Wirkung haben als Printmedien.
Der GH erinnert daran, dass der Staat der letzte Garant des Pluralismus ist – vor allem, was die audiovisuellen Medien betrifft, deren Programme häufig in größerem Umfang ausgestrahlt werden. Diese Rolle wird umso unerlässlicher, wenn die Unabhängigkeit der Presse durch äußeren Druck von Seiten von Politikern und Trägern wirtschaftlicher Macht leidet. Nach Berichten mehrerer nationaler und internationaler Organisationen scheint die Situation der Presse in Rumänien zwischen 2002 und 2004 nicht befriedigend gewesen zu sein. Dort wurde auch betont, dass sich die lokale Presse unter einem direkten oder indirekten Einfluss der regional Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft befand. Im gegenständlichen Fall hat der Bf. behauptet, unter politischem und wirtschaftlichem Druck gestanden zu haben, was zum Verkauf eines Teils seiner Beteiligung an der Fernsehgesellschaft geführt hatte. Unter diesen Bedingungen sind die Maßnahmen, die der Staat angesichts seiner Rolle als Garant des Pluralismus und der Unabhängigkeit der Presse treffen muss, von einer tatsächlichen Wichtigkeit.
Angesichts der vorigen Ausführungen waren die nationalen Behörden gehalten, wirksame Maßnahmen zu treffen, um die Bf. bei der Vollstreckung der gerichtlichen Entscheidung des Amtsgerichts Neamt vom 6.12.2002 zu unterstützen.
Die Bf. haben die Vollstreckung der Entscheidung vom 6.12.2002 sehr rasch verlangt. Obwohl der Gerichtsvollzieher festgestellt hatte, dass die Vollstreckungsentscheidung eindeutig war und es keiner gerichtlichen Klage bedurfte, um ihren Sinn und ihren Umfang zu klären, nahm er die Unterstützung der Polizei nicht in Anspruch, die angesichts des unkooperativen Verhaltens der Verpflichteten geboten gewesen wäre. Er hat auch keinen anderweitigen Schritt gesetzt, um zu einer Vollstreckung der Entscheidung zu gelangen. Wegen der Bedeutung des Verfahrens für die Bf., die beabsichtigten, ihren Beruf als Rundfunkjournalisten auszuüben, und angesichts der Tatsache, dass es sich bei der Maßnahme um eine einstweilige Verfügung handelte, verlangte das Verfahren der Zwangsvollstreckung nach dringenden Maßnahmen.
Zum Vorbringen der Regierung, dass die Bf. Einspruch gegen die Vollstreckung oder eine Disziplinarklage gegen den Gerichtsvollzieher erheben hätten können, um die Weigerung desselben, einen Vollstreckungsakt vorzunehmen, zu rügen, hat der GH bereits in Constantin Oprea/RO und Elena Negulescu/RO festgestellt, dass die Regierung nicht darlegen konnte, dass es sich bei den fraglichen Rechtsmitteln um solche wirksamer Natur handelt. Die Regierung hat auch nichts vorgebracht, was im vorliegenden Fall zu einer anderen Schlussfolgerung führen könnte. Insbesondere hat sie keine Beispiele nationaler Rechtsprechung beigebracht, um zu beweisen, dass die Bf. mangels Mitteilung der Weigerung des Gerichtsvollziehers, die Vollstreckung fortzusetzen und mangels offiziellen Schließens des Verfahrens, den Gerichtsvollzieher zur Verantwortung ziehen hätten können. Weiters wurde auch nicht präzisiert, inwieweit es sich bei der Disziplinarklage um ein Rechtsmittel handelte, das für die Bf. direkt zugänglich und imstande war, zu einer Vollstreckung des rechtskräftigen Urteils zu führen.
Das Vorbringen der Regierung, die Bf. hätten auch die Möglichkeit gehabt, die Vollstreckung über Art. 580² der ZPO (Anm: Art. 580² sieht vor, dass der Gläubiger gerichtlich autorisiert werden kann, selbst oder mit Hilfe von Dritten zur Vollstreckung einer Verpflichtung zu schreiten.) zu erlangen oder eine Klage auf Verurteilung des Schuldners zur Zahlung einer zivilen Geldbuße oder Entschädigungen gemäß Art. 580³ der ZPO (Anm: Art. 580³ bestimmt, dass dann, wenn eine Verpflichtung die persönliche Mitwirkung des Schuldners erfordert, dieser zur Vollstreckung durch die Verhängung einer zivilen Geldbuße gezwungen werden kann. Der Gläubiger kann vom Schuldner zusätzlich Schadenersatz für den von ihm wegen der Nichtvollstreckung erlittenen Schaden verlangen.) anzustrengen, stellt der GH zunächst fest, dass die Regierung nicht dargetan hat, auf welche Weise die Bf. die Bestimmung des Art. 580² ZPO zur Anwendung bringen, also selbst oder über einen Dritten zur Exekution schreiten hätten können.
Die Rechtsbehelfe nach Art. 580³ ZPO stellen nur indirekte Mittel dar, um die rechtskräftige Entscheidung zu vollstrecken und können daher ihrem Wesen nach nicht Abhilfe bezüglich der behaupteten Verletzung schaffen. Außerdem haben die Bf. im vorliegenden Fall bereits von anderen indirekten Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, nämlich zwei Strafanzeigen, die aber auch nicht zur Vollstreckung der Entscheidung geführt haben. Wenn ein Bf. von einem Rechtsbehelf Gebrauch gemacht hat, muss er nach der Rechtsprechung des GH nicht auch von einem weiteren Gebrauch machen, der praktisch dasselbe Ziel verfolgt.
Der GH stellt daher fest, dass die Bf. ausreichende Initiativen zur Vollstreckung ergriffen und die für die Erlangung der Vollstreckung der rechtskräftigen Entscheidung notwendigen Mühen aufgewendet haben. Der Hauptteil der den Bf. zur Verfügung stehenden gerichtlichen Waffen zur Vollstreckung der Entscheidung, nämlich das System der Gerichtsvollzieher, hat sich jedoch als ungeeignet und unwirksam herausgestellt. Darüber hinaus haben die nationalen Behörden dadurch, dass sie keine wirksamen und notwendigen Maßnahmen getroffen haben, um die Bf. bei der Vollstreckung zu unterstützen, die Bestimmung des Art. 10 EMRK jeder Wirksamkeit beraubt und die Ausübung des Berufs des Rundfunkjournalisten durch die Bf. in Frage gestellt.
Die Einrede der Nichterschöpfung des Instanzenzugs von Seiten der Regierung ist daher zurückzuweisen (einstimmig). Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 18.000,– pauschal an beide Bf. gemeinsam, € 5.500,– für Kosten und Auslagen an den ErstBf. (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Purcell u.a./IRL v. 16.4.1991 (ZE)
Informationsverein Lentia u.a./A v. 24.11.1993 = NL 1993/6, 23 = EuGRZ 1994, 549 = ÖJZ 1994, 32
Jersild/DK v. 23.9.1994 (GK) = NL 1994, 294 = ÖJZ 1995, 227
News Verlags GmbH & Co KG/A v. 11.1.2000 = NL 2000, 24 = ÖJZ 2000, 394
Appleby u.a./GB v. 6.5.2003 = NL 2003, 137
Ghibusi/RO v. 23.6.2005
Constantin Oprea/RO v. 8.11.2007
Elena Negulescu/RO v. 1.7.2008
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.5.2012, Bsw. 25329/03 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 158) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/12_3/Frasila.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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