EGMR Bsw2346/02

EGMRBsw2346/0229.4.2002

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Pretty gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 29.4.2002, Bsw. 2346/02.

 

Spruch:

Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 9 EMRK, Art. 14 EMRK - Kein Recht auf den eigenen Tod.

Keine Verletzung von Art. 2 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 14 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die Bf. Diane Pretty (Anm.: Die Bf. ist nach Verkündung des Urteils am 12.5.2002 an den Folgen ihrer Krankheit verstorben) leidet an amyotrophischer Lateralsklerose (ALS), einer fortschreitenden unheilbaren Erkrankung des zentralen Nervensystems, mit der eine zunehmende Muskelschwäche einhergeht. Diese führt zu einer Schwächung der Arme und Beine sowie der für die Atmung notwendigen Muskulatur. Die Krankheit endet idR. mit einem qualvollen Tod durch Lungenentzündung und Atemstillstand. Die Bf. ist vom Kopf abwärts gelähmt, kann sich nicht mehr verbal verständlich machen und wird künstlich ernährt. Ihre Lebenserwartung ist sehr gering und sie muss mit einem qualvollen Tod rechnen. Ihr Intellekt und ihre Entscheidungsfähigkeit sind jedoch nicht beeinträchtigt. Aufgrund des bevorstehenden äußerst qualvollen und unwürdigen Verlaufs der Krankheit möchte die Bf. selbst bestimmen, wann und auf welche Art sie aus dem Leben scheidet.

Die Bf. ist aufgrund ihrer Krankheit nicht in der Lage, sich ohne Hilfe das Leben zu nehmen, ihr Ehemann wäre jedoch bereit, ihr dabei Hilfe zu leisten. Da Beihilfe zum Selbstmord nach brit. Recht strafbar ist (Suicide Act 1961), stellte die Bf. im Juli 2001 beim Generalstaatsanwalt (Director of Public Prosecution) einen Antrag auf Zusicherung von Straffreiheit für ihren Ehemann, sollte dieser ihr gemäß ihren Wünschen Beihilfe zum Selbstmord leisten. Der Generalstaatsanwalt verweigerte die Zusicherung der Straffreiheit. Dagegen erhob die Bf. Berufung bei der Rechtsmittelkammer (divisional court). Diese wies das Rechtsmittel ab. Auch eine Berufung an das House of Lords blieb erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (hier: Verbot erniedrigender Behandlung), Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens), Art. 9 EMRK (Glaubensfreiheit) und Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 2 EMRK, da dieser nicht nur das Recht auf Leben schütze, sondern auch das Recht zu entscheiden, ob man weiterleben möchte oder nicht. Geschützt würde nicht das Leben selbst, sondern das Recht auf Leben. Das Verbot der Tötung bezwecke den Schutz des Individuums vor Eingriffen Dritter, namentlich des Staates, nicht den Schutz des Einzelnen vor sich selbst. Art. 2 EMRK anerkenne daher das Recht des Einzelnen zu entscheiden, ob er leben oder sterben wolle und gewährleiste daher als Korrelat zum Recht auf Leben ein Recht zu sterben. Der GH hält fest, dass Art. 2 EMRK den Staat verpflichtet, das Leben der seiner Jurisdiktion unterworfenen Individuen zu schützen. Dies beinhaltet eine Pflicht, entsprechende Strafgesetze zu erlassen und für ihre Durchsetzung zu sorgen, sowie gegebenenfalls präventive Maßnahmen zum Schutz einzelner Individuen zu treffen, deren Leben durch kriminelle Handlungen Dritter bedroht ist.

Der GH ist nicht davon überzeugt, dass das Recht auf Leben auch iS. eines negativen Aspekts interpretiert werden kann. Zwar hat der GH iZm. Art. 11 EMRK festgestellt, dass die Vereinigungsfreiheit auch eine negative Freiheit des Nichtbeitritts beinhaltet und damit anerkannt, dass die Erwähnung einer Freiheit auch bestimmte Aspekte der Entscheidung impliziert, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen. Art. 2 EMRK ist aber in anderen Worten gefasst. Weder die Lebensqualität noch der Wille des Geschützten spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle. Art. 2 EMRK kann ohne eine Entstellung der Sprache nicht dahingehend interpretiert werden, dass er das diametral entgegengesetzte Recht - nämlich das Recht zu sterben - gewährleistet. Aus Art. 2 EMRK kann auch kein Recht auf Selbstbestimmung iSd. Rechts, zwischen Leben und Tod zu wählen, abgeleitet werden. Art. 2 EMRK gewährleistet kein Recht zu sterben, weder durch Dritte noch mit Unterstützung der Behörden. Keine Verletzung von Art. 2 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK:

Die Bf. bringt vor, dass das ihr bevorstehende Leiden eine erniedrigende Behandlung iSv. Art. 3 EMRK darstellen würde. Zwar wäre der Staat nicht direkt dafür verantwortlich, aber Art. 3 EMRK beinhalte auch eine positive Verpflichtung, sie vor erniedrigender Behandlung zu schützen. Durch die Verweigerung der Zusicherung von Straffreiheit für die Beihilfe zum Selbstmord durch ihren Ehegatten würde der Staat diese Verpflichtung verletzen.

Der GH stellt fest, dass das Vorbringen der Bf. eine neue und erweiterte Interpretation der „Behandlung" beinhaltet, die über die gewöhnliche Bedeutung des Begriffs hinausgeht. Der GH muss die EMRK als lebendiges Instrument dynamisch und flexibel interpretieren, dabei jedoch die grundsätzlichen Ziele der Konvention und ihre Kohärenz als System des Menschenrechtsschutzes beachten. Art. 3 EMRK muss in Einklang mit Art. 2 EMRK ausgelegt werden, der keinen Anspruch eines Individuums gegen den Staat gewährt, seinen Tod zuzulassen oder zu erleichtern. Im vorliegenden Fall besteht die von der Bf. geforderte positive Maßnahme nicht in einer Minderung von Leid, sondern in der Billigung von Handlungen, die auf die Beendigung von Leben gerichtet sind. Eine Verpflichtung dazu kann aus Art. 3 EMRK nicht abgeleitet werden. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Die Bf. bringt vor, dass Art. 8 EMRK ein Recht auf Selbstbestimmung beinhalte. Dieses umfasse auch das Recht, über den eigenen Körper und damit über den Zeitpunkt und die Art des eigenen Todes zu entscheiden.

Art. 8 EMRK gewährleistet ein Recht auf Selbstbestimmung. Dieses beinhaltet auch das Recht, Aktivitäten nachzugehen, die schädlich oder gefährlich für den Berechtigten sind. Nach st. Rspr. des GH bedürfen Eingriffe in das Recht auf Privatleben selbst dann einer Rechtfertigung nach Art. 8 (2) EMRK, wenn sie dem Schutz des Lebens des Betroffenen dienen.

Die Bf. wird vom Gesetz daran gehindert, frei darüber zu entscheiden, wie sie aus dem Leben scheidet. Der GH kann nicht ausschließen, dass dadurch in ihr durch Art. 8 (1) EMRK gewährleistetes Recht auf Privatleben eingegriffen wird.

Dieser Eingriff ist gesetzlich vorgesehen und dient iSv. Art. 8 (2) EMRK einem legitimen Zweck, nämlich dem Schutz des Lebens Dritter. Fraglich ist, ob er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Notwendig ist ein Eingriff nur dann, wenn er einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und nicht außer Verhältnis zum verfolgten Ziel steht. Das Verbot der Beihilfe zum Selbstmord dient dem Schutz des Lebens insb. derjenigen, die nicht in der Lage sind, freie und unbeeinflusste Entscheidungen über ihren Tod zu treffen. Es obliegt in erster Linie den Staaten, das Risiko und die Wahrscheinlichkeit von Missbräuchen im Falle einer Lockerung des Verbots der Beihilfe zum Selbstmord oder der Zulassung von Ausnahmen zu beurteilen. In der Praxis ist eine Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles durch das flexible Strafmaß und die Möglichkeit des Verzichts auf eine Anklageerhebung durch den Generalstaatsanwalt möglich. Das generelle Verbot der Beihilfe zum Selbstmord ist daher nicht unverhältnismäßig.

Auch die Versagung der Garantie der Straflosigkeit durch die Anklagebehörde im konkreten Fall ist in Anbetracht der Schwere der Handlung, für die Straffreiheit gefordert wurde, nicht unverhältnismäßig iSv. Art. 8 (2) EMRK.

Der Eingriff ist daher iSv. Art. 8 (2) EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK:

Das Vorbringen der Bf. beinhaltet keinen Hinweis auf die Ausübung

eines Glaubens iSv. Art. 9 EMRK. Keine Verletzung von Art. 9 EMRK

(einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK:

Die Bf. behauptet, durch das generelle Verbot der Beihilfe zum Selbstmord diskriminiert zu werden, weil es ihr im Gegensatz zu körperlich gesunden Menschen nicht möglich wäre, ohne Hilfe aus dem Leben zu scheiden.

Nach Ansicht des GH ist es gerechtfertigt, dass das Gesetz nicht zwischen Personen, die körperlich in der Lage sind, Selbstmord zu begehen, und jenen, die dies nicht können, unterscheidet. Die Grenze zwischen diesen Kategorien ist nämlich oft sehr schmal und eine gesetzliche Ausnahme für diejenigen, die nicht in der Lage sind, sich das Leben zu nehmen, würde den von diesem Gesetz angestrebten Schutz des Lebens aushöhlen. Keine Verletzung von Art. 14 EMRK (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Dudgeon/GB v. 22.10.1981, A/45 (= EuGRZ 1983, 488).

McCann ua./GB v. 27.9.1995, A/324 (= NL 1995, 219 = ÖJZ 1996, 233).

Laskey, Jaggard & Brown/GB v. 19.2.1997 (= NL 1997, 47).

D./GB v. 2.5.1997 (= NL 1997, 93 = ÖJZ 1998, 354).

L.C.B./GB v. 9.6.1998 (= NL 1998, 105 = ÖJZ 1999, 353).

Osman/GB v. 28.10.1998 (= NL 1998, 221).

Keenan/GB v. 3.4.2001 (= NL 2001, 65).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 29.4.2002, Bsw. 2346/02, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 91) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/02_3/Pretty.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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