EGMR Bsw22947/13

EGMRBsw22947/132.2.2016

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Magyar Tartalomszolgaltatok Egyesülete und Index.hu Zrt gg. Ungarn, Urteil vom 02.2.2016, Bsw. 22947/13.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Haftung für Nutzer-Kommentare auf Internetseite.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.100,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

 

Begründung:

Sachverhalt:

Die ErstBf., Magyar Tartalomszolgáltatók Egyesülete (im Folgenden: »MTE«), ist eine Organisation zur Selbstkontrolle ungarischer Anbieter von Inhalten im Internet. Sie überwacht die Umsetzung von Berufsregeln und eines Ethik-Kodex. Die ZweitBf., Index.hu Zrt, ist eine Kapitalgesellschaft, die eines der größten ungarischen Nachrichtenportale im Internet betreibt.

Beide Bf. ermöglichten Nutzern, die auf ihren Portalen erscheinenden Berichte zu kommentieren. Kommentare konnten nach einer Registrierung hochgeladen werden, ohne dass sie von den Bf. vorab bearbeitet worden wären. Die Bf. wiesen ihre Leser in Form eines Haftungsausschlusses darauf hin, dass die Kommentare nicht die eigene Meinung des Portals wiedergeben würden und die Verfasser von Kommentaren für deren Inhalt verantwortlich wären. Beide Bf. betrieben ein System zum Melden und Entfernen von Kommentaren, bei dem jeder Leser den Betreiber über einen bedenklichen Kommentar informieren und seine Löschung beantragen konnte. Beide Portale sahen Regeln vor, wonach das Hochladen von Kommentaren, die rechtswidrig waren oder die Persönlichkeitsrechte verletzten, untersagt war.

Am 5.2.2010 veröffentlichte MTE unter der Überschrift »Eine weitere unethische geschäftliche Verhaltensweise im Netz« ihre Einschätzung zu zwei von einem Unternehmen betriebenen Immobilienverwaltungs-Internetseiten. Demnach boten die beiden Seiten ihren Nutzern ein kostenloses 30-tägiges Inseratenservice an. Nach Ablauf der 30 Tage wurde das Angebot kostenpflichtig, ohne dass die Nutzer vorab darauf hingewiesen würden. Dies war möglich, weil die Nutzer bei der Registrierung auf der Webseite den allgemeinen Geschäftsbedingungen zustimmten, wonach ihnen vom Betreiber einseitig Kosten in Rechnung gestellt werden konnten. Die Ansicht schloss daraus, dass das Verhalten des Betreibers der Internetseiten unethisch und irreführend war.

Diese Ansicht führte zu einigen Kommentaren von Nutzern, die ein Pseudonym verwendeten. Darunter fanden sich folgende Kommentare: »Über diese beiden Müll-Immobilienseiten haben sie schon tausendmal berichtet.« und »Ist das nicht wieder diese hinterhältige Abzock-Firma? Ich bin vor zwei Jahren darauf reingefallen, seither schicken sie mir E-Mails wegen meiner überfälligen Schulden und so weiter. [...] Ich habe nicht gezahlt und werde auch nicht zahlen.«

Auch die Konsumentenschutz-Seite der ZweitBf. berichtete über die Ansicht der MTE und veröffentlichte ihren Text. Einer der dazu unter einem Pseudonym geposteten Kommentare las sich wie folgt: »Leute wie die sollen abhauen und einen Igel scheißen und ihr ganzes Geld für das Grab ihrer Mutter ausgeben, bis sie tot umfallen.«

Am 17.2.2010 brachte das Unternehmen, das die beiden angesprochenen Internetseiten betrieb, eine zivilrechtliche Klage wegen Schädigung seines guten Rufs gegen die Bf. ein. Sobald sie von der Klage erfahren hatten, entfernten die Bf. sofort die Kommentare. Das Landgericht Budapest gab der Klage am 31.3.2011 teilweise statt. Sowohl das Berufungsgericht als auch die Kúria bestätigten diese Urteile. Die Kúria betonte, dass die Bf. für rechtswidrige oder ehrverletzende Kommentare ihrer Leser hafte, weil sie diesen die Möglichkeit einräume, Kommentare zu posten. Die Bf. wären keine Vermittler und könnten sich daher nicht auf die eingeschränkte Haftung der Diensteanbieter berufen.

Die Verfassungsbeschwerde der Bf. wurde am 27.5.2014 abgewiesen. Das Verfassungsgericht begründete die Haftung damit, dass die Identität der primär haftenden Verfasser der Kommentare unbekannt war.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

(29) Die Bf. rügten, dass die Urteile der ungarischen Gerichte, die eine objektive Haftung von Internetseiten für den Inhalt von Nutzer-Kommentaren feststellten, eine Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit begründen würden [...].

Zulässigkeit

(32) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Entscheidung in der Sache

(45) Es ist unbestritten [...], dass durch die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte in die [...] Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. eingegriffen wurde. [...]

(51) Der GH ist aufgrund der Tatsachen dieses Falls überzeugt, dass es die Bestimmungen des Zivilgesetzbuchs für ein Medienunternehmen, das aus wirtschaftlichem Interesse ein großes Internet-Nachrichtenportal betreibt, und für eine Selbstregulierungsorganisation von Inhaltsdiensten vorhersehbar machten, dass sie grundsätzlich nach innerstaatlichem Recht für rechtswidrige Kommentare Dritter haftbar gemacht werden konnten. Nach Ansicht des GH waren die Bf. daher in der Lage, die mit ihren Aktivitäten verbundenen Risiken einzuschätzen. Sie mussten daher in einem vernünftigen Grad vorhersehen können, welche Konsequenzen diese mit sich bringen würden. Der umstrittene Eingriff war somit gesetzlich vorgesehen iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK.

(52) Die Regierung bringt vor, der Eingriff habe das legitime Ziel des Schutzes der Rechte anderer verfolgt. Der GH akzeptiert dies.

(53) Es bleibt daher festzustellen, ob er [...] notwendig war, um das verfolgte Ziel zu erreichen.

Allgemeine Grundsätze

(56) Wie der GH festgestellt hat, spielt das Internet angesichts seiner Zugänglichkeit und seiner Fähigkeit, riesige Mengen an Information zu speichern, eine wichtige Rolle bei der Stärkung des Zugangs der Öffentlichkeit zu Nachrichten und allgemein bei der Erleichterung der Verbreitung von Informationen.

(57) Der GH erinnert daran, dass das Recht auf Schutz des Ansehens ein von Art. 8 EMRK [...] geschütztes Recht ist. Damit Art. 8 EMRK ins Spiel kommt, muss der Angriff auf das Ansehen einer Person allerdings einen gewissen Schweregrad erreichen und in einer Art und Weise erfolgen, die den persönlichen Genuss des Rechts auf Achtung des Privatlebens beeinträchtigt.

(58) Bei der Prüfung, ob ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse des Schutzes des Ansehens oder der Rechte anderer notwendig ist, kann es geboten sein, dass der GH sich vergewissert, ob die innerstaatlichen Instanzen einen gerechten Ausgleich [...] zwischen dem [...] Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit und dem [...] Recht auf Achtung des Privatlebens getroffen haben.

Anwendung der Grundsätze im vorliegenden Fall

Vorbemerkungen und anwendbare Grundsätze

(61) Sowohl die ErstBf. als Selbstregulierungsorganisation von Internetdiensteanbietern als auch die ZweitBf. als großes Nachrichtenportal stellten ein Forum für die Ausübung der Rechte, sich zu äußern, zur Verfügung und ermöglichten damit der Öffentlichkeit, Informationen und Ideen zu verbreiten. Das Verhalten der Bf. [...] muss daher im Licht der auf die Presse anwendbaren Grundsätze beurteilt werden.

(62) Obwohl sie nicht im traditionellen Sinn Herausgeber der Kommentare sind, müssen Internet-Nachrichtenportale grundsätzlich Pflichten und Verantwortlichkeiten wahrnehmen. Wegen des besonderen Charakters des Internet können sich diese Pflichten und Verantwortlichkeiten zu einem gewissen Grad von jenen traditioneller Herausgeber unterscheiden, insbesondere was Inhalte Dritter betrifft.

(63) Im Fall Delfi AS/EST hat der GH insbesondere die Pflichten und Verantwortlichkeiten großer Internet-Nachrichtenportale nach Art. 10 Abs. 2 EMRK geprüft, wenn diese zu wirtschaftlichen Zwecken eine Plattform für von den Nutzern generierte Inhalte anbieten und wo die Nutzer eindeutig rechtswidrige Äußerungen machen, die Hassrede und Aufhetzung zu Gewalt darstellen.

(64) Der vorliegende Fall ist jedoch anders. Obwohl beleidigend und vulgär, stellten die umstrittenen Kommentare keine eindeutig rechtswidrigen Äußerungen dar und sie liefen sicher nicht auf Hassrede oder Aufrufe zu Gewalt hinaus. [...]

(65) Die innerstaatlichen Gerichte fanden, dass die umstrittenen Äußerungen die Persönlichkeitsrechte und das Ansehen des klagenden Unternehmens, einer juristischen Person, verletzten. [...]

(66) Wie der GH schon früher festgestellt hat, können juristische Personen nicht behaupten, Opfer einer Verletzung von Persönlichkeitsrechten zu sein, die nur natürlichen Personen zukommen. Es besteht ein Unterschied zwischen den geschäftlichen Interessen eines Unternehmens an seinem Ruf und dem ihren sozialen Status betreffenden Ansehen einer Person. Während Letzteres Rückwirkungen auf die Würde des Einzelnen haben kann, fehlt es Interessen am geschäftlichen Ruf an einer moralischen Dimension. Der GH erinnert daran, dass es ein Interesse am Schutz des kommerziellen Erfolgs und der Lebensfähigkeit von Unternehmen [...] gibt. [...]

(67) Im vorliegenden Fall ist es allerdings nicht notwendig zu entscheiden, ob sich das klagende Unternehmen auf sein Recht auf den guten Ruf stützen konnte [...]. Tatsächlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass die umstrittenen Äußerungen verletzend gegenüber den natürlichen Personen hinter dem Unternehmen waren und die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte indirekt darauf abzielten, diese Personen vor diffamierenden Äußerungen zu schützen. Der GH wird daher unter der Annahme fortfahren, dass [...] eine Abwägung zwischen den Rechten der Bf. nach Art. 10 EMRK und den Rechten der Klägerin nach Art. 8 EMRK vorgenommen werden musste.

(69) Im Fall Delfi AS/EST benannte die Große Kammer folgende spezifische Aspekte der Meinungsäußerungsfreiheit in Bezug auf Protagonisten, die eine Mittlerrolle im Internet spielen, als relevant für die konkrete Einschätzung des fraglichen Eingriffs: den Kontext der Kommentare, die vom bf. Unternehmen zur Verhinderung oder Entfernung diffamierender Kommentare ergriffenen Maßnahmen, die Haftung der tatsächlichen Verfasser der Kommentare als Alternative zur Haftung des Vermittlers und die Konsequenzen, die das innerstaatliche Verfahren für das bf. Unternehmen hatte.

(70) Die genannten Kriterien wurden eingeführt, um die Verantwortlichkeit großer Internet-Nachrichtenportale dafür zu beurteilen, Hassrede oder Aufrufe zur Gewalt in Kommentaren nicht sofort nach deren Veröffentlichung von ihren Webseiten gelöscht zu haben. Sie sind aber nach Ansicht des GH auch für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs im vorliegenden Fall relevant, dem das zentrale Element der Hassrede fehlt. Es ist daher passend, die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Abwägung und das Ausmaß, in dem die relevanten Kriterien dabei angewendet wurden, mit Rücksicht auf die spezifischen, von den jeweiligen Positionen der Bf. vorgegebenen Aspekte zu beurteilen.

Kontext und Inhalt der umstrittenen Kommentare

(72) Zum Kontext der Kommentare bemerkt der GH, dass der diesen zugrunde liegende Artikel die Geschäftspraktiken zweier großer Immobilien-Internetseiten betraf, die als irreführend und schädlich für die Klienten betrachtet wurden. Somit bestand ein öffentliches Interesse an der Gewährleistung einer informierten öffentlichen Debatte über eine Angelegenheit, die viele Konsumenten und Internetnutzer betraf. Das fragliche Verhalten hatte bereits zu zahlreichen Beschwerden geführt und verschiedene Verfahren gegen das betroffene Unternehmen nach sich gezogen. Der GH ist daher überzeugt, dass sich die durch den Artikel ausgelösten Kommentare auf eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse bezogen. Vor diesem Hintergrund kann auch nicht behauptet werden, der Artikel habe keine Tatsachengrundlage gehabt oder unnötigerweise beleidigende Kommentare provoziert.

(73) Der GH misst der Tatsache Bedeutung zu, dass die ZweitBf. Besitzerin eines großen, geschäftlich betriebenen Nachrichtenportals ist, das offensichtlich eine große Zahl an Kommentaren anzieht. Im Gegensatz dazu gibt es keinen Hinweis, dass die Situation der ErstBf., der Selbstregulierungsvereinigung der Internetdiensteanbieter, in irgendeiner Weise ähnlich war. Tatsächlich war es unwahrscheinlich, dass ihre Veröffentlichung von hauptsächlich professionellen Inhalten hitzige Diskussionen im Internet provozierte. Die innerstaatlichen Gerichte jedenfalls scheinen der Rolle, die die Bf. bei der Erzeugung der Kommentare jeweils gespielt haben – sofern sie überhaupt eine Rolle spielten –, keine Beachtung geschenkt zu haben.

(74) Zum Inhalt der Kommentare stellten die innerstaatlichen Gerichte fest, dass sie die akzeptablen Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten und das Recht des klagenden Unternehmens auf seinen guten Ruf verletzten, da sie unangemessen beleidigend, verletzend und herabwürdigend waren.

(75) Für den GH geht es im vorliegenden Fall nicht um rufschädigende Tatsachenbehauptungen, sondern um Werturteile oder Meinungen, was auch die innerstaatlichen Gerichte einräumten. Diese waren Anklagen gegen ein geschäftliches Verhalten, die zum Teil von der persönlichen Frustration der Kommentatoren darüber beeinflusst waren, von dem Unternehmen hereingelegt worden zu sein. Die Bemerkungen können als unüberlegte Reaktion angesehen werden. [...]

(76) Die in den Kommentaren verwendeten Ausdrücke waren beleidigend und in einem Fall unverhohlen vulgär. Wie der GH früher festgestellt hat, kann eine Beleidigung aus dem Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit herausfallen, wenn sie eine schamlose Abwertung darstellt, beispielsweise wenn der einzige Zweck der beleidigenden Äußerung darin besteht zu kränken. Die Verwendung eines vulgären Ausdrucks ist für sich aber nicht entscheidend bei der Beurteilung einer beleidigenden Äußerung. Der Stil ist als Form der Äußerung Teil der Kommunikation und als solcher zusammen mit dem Inhalt der Äußerung geschützt.

(77) Ohne die Auswirkungen einer Diffamierung im Internet aus den Augen zu verlieren [...], ist der GH der Ansicht, dass die Besonderheiten des Kommunikationsstils auf gewissen Internetportalen berücksichtigt werden müssen. Die in den Kommentaren verwendeten Ausdrücke sind, obwohl sie ein niedriges Niveau aufweisen, in der Kommunikation auf vielen Internetportalen gebräuchlich. Diese Überlegung vermindert die Auswirkung, die diesen Ausdrücken zugeschrieben werden kann.

Haftung der Verfasser der Kommentare

(79) Die innerstaatlichen Gerichte waren davon überzeugt, dass die Bf. ein gewisses Maß an Verantwortung für die Kommentare trugen, weil sie diffamierende Äußerungen »verbreitet« hatten. Sie nahmen jedoch keine Prüfung der Verhältnismäßigkeit zwischen der Haftung der tatsächlichen Verfasser der Kommentare und jener der Bf. vor. Das Verhalten der Bf., die Dritten eine Plattform für die Ausübung ihrer Meinungsäußerungsfreiheit durch das Posten von Kommentaren zur Verfügung stellen, ist für den GH eine journalistische Aktivität besonderer Art. Selbst wenn die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Qualifikation des Verhaltens der Bf. als »Verbreitung« diffamierender Äußerungen akzeptiert wird, ist die Haftung der Bf. schwer mit der bestehenden Rechtsprechung zu vereinbaren, wonach die Bestrafung eines Journalisten für die Unterstützung bei der Verbreitung von Äußerungen einer anderen Person in einem Interview [...] nicht vorgesehen werden sollte, solange keine besonders schwerwiegenden Gründe dafür bestehen.

Von den Bf. ergriffene Maßnahmen und Verhalten der verletzten Partei

(81) Der GH stellt fest, dass die Bf. bestimmte allgemeine Maßnahmen zur Verhinderung und Beseitigung diffamierender Kommentare auf ihren Portalen ergriffen. Beide hatten in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen einen Haftungsausschluss, wonach die Verfasser von Kommentaren [...] für ihre Äußerungen verantwortlich waren. Das Posten von Kommentaren, mit denen die Rechte Dritter verletzt wurden, war untersagt. [...] Die ZweitBf. beschäftigte ein Team von Moderatoren [...]. Zudem hatten beide ein System zum Melden und Entfernen, das jedem ermöglichte, auf rechtswidrige Kommentare hinzuweisen, damit diese vom Betreiber entfernt wurden. [...]

(82) Die innerstaatlichen Gerichte stellten fest, dass die Bf., weil sie ungefilterte Kommentare zuließen, erwarten hätten müssen, dass manche davon rechtswidrig sein würden. Dies bedeutet nach Ansicht des GH, eine übermäßige und undurchführbare Vorsorge zu verlangen, die geeignet ist, die Freiheit des Rechts zu untergraben, Informationen im Internet zu verbreiten.

(83) Der GH stellt auch fest, dass das verletzte Unternehmen von den Bf. nie eine Entfernung der Kommentare verlangte, sondern sich [...] direkt an die Gerichte wandte [...].

Den Bf. wurde von den innerstaatlichen Gerichten eine objektive Haftung dafür auferlegt, »dass sie Raum für verletzende und herabwürdigende Kommentare gewährten«, ohne dass die Gerichte das Verhalten der Bf. oder der Klägerin beleuchtet hätten.

Folgen der Kommentare für die verletzte Partei

(85) [...] Zur Zeit der Veröffentlichung des Artikels und der umstrittenen Kommentare gab es bereits laufende Ermittlungen über das geschäftliche Verhalten des klagenden Unternehmens. Vor diesem Hintergrund ist der GH nicht überzeugt, dass die fraglichen Kommentare geeignet waren, irgendeine weitere und zusätzliche Auswirkung auf das Verhalten der betroffenen Konsumenten zu haben. Die innerstaatlichen Gerichte scheinen jedoch nicht beurteilt zu haben, ob die Kommentare [...] tatsächlich für das Recht einer juristischen Person auf ihren guten geschäftlichen Ruf schädlich waren.

Folgen für die Bf.

(86) Die Bf. mussten die Gerichtsgebühren und die Kosten der rechtlichen Vertretung der verletzten Partei zahlen, es wurde aber kein immaterieller Schadenersatz zugesprochen. [...] Die entscheidende Frage bei der Einschätzung der Konsequenzen für die Bf. ist nicht das Fehlen von zu zahlendem Schadenersatz, sondern die Art und Weise, wie Internetportale wie ihre für Kommentare Dritter haftbar gemacht werden können. Eine solche Haftung könnte vorhersehbare negative Konsequenzen für das Kommentar-Umfeld eines Internetportals haben, indem es dieses beispielsweise zwingt, die Kommentarfunktion komplett zu beseitigen. Diese Konsequenzen können nach Ansicht des GH direkt oder indirekt eine abschreckende Wirkung auf die Meinungsäußerungsfreiheit im Internet haben. Dieser Effekt wäre für eine nicht kommerzielle Webseite wie jene der ErstBf. besonders abträglich.

(88) Der GH muss feststellen, dass die ungarischen Gerichte nicht beachteten, was für die Bf. als Protagonisten der freien elektronischen Medien auf dem Spiel stand. Sie ließen sich nicht auf eine Einschätzung ein, wie sich die Anwendung zivilrechtlicher Haftung auf den Betreiber eines Nachrichtenportals auf die Meinungsäußerungsfreiheit im Internet auswirken wird. Tatsächlich nahmen diese Gerichte bei der Zuschreibung der Haftung im vorliegenden Fall überhaupt keine Abwägung zwischen diesem Interesse und jenem der Klägerin vor. Schon diese Tatsache allein zieht die Angemessenheit des Schutzes der Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. auf innerstaatlicher Ebene in Zweifel.

Schlussfolgerung

(89) Die starre Haltung der ungarischen Gerichte spiegelt einen Haftungsbegriff wider, der die Abwägung der widerstreitenden Interessen entsprechend den in der Judikatur des GH dargelegten Grundsätzen ausschließt.

(91) Im Fall Delfi AS/EST stellte der GH fest, dass ein System zur Meldung und Entfernung, wenn es von effektiven Prozessen für eine rasche Reaktion begleitet wird, in vielen Fällen als angemessenes Werkzeug zur Abwägung der Rechte und Interessen aller Beteiligten funktionieren kann. Der GH sieht keinen Grund für die Annahme, dass ein solches System keinen geeigneten Weg geboten hätte, um das geschäftliche Ansehen der Klägerin zu schützen. In Fällen, in denen Nutzerkommentare Dritter die Form von Hassrede oder direkten Drohungen gegen die physische Integrität von Personen annehmen, können die Rechte und Interessen anderer und der Gesellschaft insgesamt die Vertragsstaaten ermächtigen, Internet-Nachrichtenportalen eine Haftung aufzuerlegen, wenn sie es verabsäumen, Maßnahmen zu ergreifen, um eindeutig rechtswidrige Kommentare selbst ohne Hinweis des mutmaßlichen Opfers oder Dritter unverzüglich zu entfernen. Der vorliegende Fall betraf jedoch keine solchen Äußerungen.

Diese Überlegungen reichen nach Ansicht des GH aus, um eine Verletzung von Art. 10 EMRK festzustellen (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Kuris).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 5.100,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Jersild/DK v. 23.9.1994 = NL 1994, 294 = ÖJZ 1995, 227

Steel und Morris/GB v. 15.2.2005 = NL 2005, 27

Kulis und Rózycki/PL v. 6.10.2009 = NL 2009, 287

Axel Springer AG/D v. 7.2.2012 (GK) = NLMR 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294

Delfi AS/EST v. 16.6.2015 (GK) = NLMR 2015, 232

Couderc und Hachette Filipacchi Associés/F v. 10.11.2015 (GK) = NLMR 2015, 537

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 02.2.2016, Bsw. 22947/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 62) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_1/MagyarTartalomszolgaltatok.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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