EGMR Bsw20458/92

EGMRBsw20458/9227.3.1998

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache Petrovic gegen Österreich, Urteil vom 27.3.1998, Bsw. 20458/92.

 

Spruch:

Art 8 EMRK, Art. 14 EMRK, § 26 Abs. 1 AlVG - Anspruch auf Karenzurlaubsgeld und Diskriminierungsverbot.

Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (7:2 Stimmen).

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf. ist verheiratet, am 27.2.1989 gebar seine Gattin ein Kind. Da er - und nicht seine Gattin - den Karenzurlaub in Anspruch nahm, beantragte der Bf. beim Arbeitsamt die Gewährung von Karzenurlaubsgeld. Seinem Antrag wurde nicht stattgegeben, mit der Begründung, § 26 (1) AlVG 1977 sehe ein solches Antragsrecht nur für Mütter vor. Ein gegen diese Entscheidung eingebrachtes Rechtsmittel wurde abgewiesen. Der vom Bf. angerufene VfGH lehnte die Behandlung der Bsw. - insb. unter Bezugnahme auf seine st. Rspr. - mangels Aussicht auf Erfolg ab und verwies zudem auf die zwischenzeitlich geänderte Rechtslage, die eine solche Unterscheidung nicht mehr beinhaltet. Die Novellierung trat mit Wirkung 1.1.1990 in Kraft, jedoch nur für Väter von Kindern, die nach dem 31.12.1989 geboren wurden. Das Kind des Bf. wurde am 27.2.1989 geboren, die Novellierung war daher für den Fall des Bf. nicht anwendbar.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, durch die Nichtgewährung des Karenzurlaubsgeldes seien Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens) verletzt worden.

Zur Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK:

Art. 8 EMRK sieht für Konventionsstaaten keine Verpflichtung vor, finanzielle Unterstützungen - wie bsw. Karenzurlaubsgeld - zu gewähren. Die vom Bf. gerügte Ablehnung seines Antrages ist folglich nicht als mangelnde Achtung des Rechts auf Familienleben zu sehen. Sofern aber der Staat finanzielle Unterstützungen dieser Art gewährt, erfolgt dies in der Absicht, das Familienleben zu fördern; der Staat beeinflusst die Organisation des Familienlebens insofern, als einem Elternteil ermöglicht wird, zu Hause bei den Kindern zu bleiben. Konventionsstaaten können durch derartige Unterstützungen der Achtung des Familienlebens iSv. Art. 8 EMRK Ausdruck verleihen. Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK sind folglich anwendbar (einstimmig).

Zur Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK:

Nach st. Rspr des GH ist für Zwecke des Art. 14 EMRK eine unterschiedliche Behandlung diskriminierend, wenn es dafür keine objektive und vernünftige Rechtfertigung gibt, dh., wenn damit kein legitimer Zweck verfolgt wird oder zwischen Mittel und Zweck kein vernünftiges Verhältnis besteht. Festgehalten wird, dass zum - für die Bsw. - maßgeblichen Zeitraum das Karenzurlaubsgeld unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen nur Müttern und nicht Vätern zugesprochen wurde. Insofern liegt eine unterschiedliche Behandlung aufgrund des Geschlechts vor. Den Konventionsstaaten ist zur Beurteilung der Frage, ob und in welchem Umfang Unterschiede in ansonsten ähnlichen Situationen eine unterschiedliche rechtliche Behandlung rechtfertigen, ein gewisser Ermessensspielraum eingeräumt. Der Umfang des Ermessensspielraums variiert je nach den Umständen, dem Gegenstand und seinem Hintergrund. In dieser Beziehung kann das Bestehen oder Nichtbestehen einer weitgehenden Übereinstimmung in den Rechtsordnungen der verschiedenen Vertragsstaaten von Bedeutung sein. Ende der 80er Jahre - dem hier maßgeblichen Zeitraum - bestand im Hinblick auf gesetzliche Regelungen des Karenzurlaubsgeldes in den Konventionsstaaten keine weitgehende Übereinstimmung. Zweck staatlicher Zahlungen dieser Art war es primär, Mütter im Hinblick auf die Erziehung ihrer Babys bzw. Kleinkinder zu unterstützen. Im Zuge der sich in der Gesellschaft entwickelnden Gleichstellung von Mann und Frau, ua. auch im Bereich der Kindererziehung, fanden Regelungen dieser Art auch für Väter ihre Gültigkeit. So auch in Österreich: Väter können seit 1989 Karenzurlaub beanspruchen und seit 1990 Karenzurlaubsgeld beziehen. Die Ablehnung des Antrages des Bf. auf Gewährung von Karenzurlaubsgeld erfolgte im Bereich des dem belangten Staat eingeräumten Ermessensspielraums. Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (7:2 Stimmen; Sondervoten der Richter Bernhardt und Spielmann).

Anm.: Vgl. insb. die vom GH in bezug auf Art. 14 EMRK zitierten Fälle Nationale Belgische Polizei-Gewerkschaft/B, Urteil v. 27.10.1975, A/19; Schmidt und Dahlström/S, Urteil v. 6.2.1976, A/21; Rasmussen/DK, Urteil v. 28.11.1984, A/87; Schuler-Zgraggen/CH, Urteil v. 24.6.1993, A/263 (= NL 93/4/13); Karlheinz Schmidt/D, Urteil v. 18.7.1994, A/291 (= NL 94/6/03); Van Raalte/NL, Urteil v. 21.2.1997 (= NL 97/2/11).

Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. vom 15.10.1996 eine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK festgestellt (25:5 Stimmen).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.3.1998, Bsw. 20458/92, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1998, 76) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/98_2/Petrovic.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte