Spruch:
Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 1 13. Prot. EMRK - Abschiebung eines Tunesiers trotz drohender Todesstrafe in seinem Heimatland.
Unzulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. ist tunesischer Staatsbürger und kam 2003 nach Deutschland. Im Jahr 2010 wurde ihm ein Aufenthaltstitel gewährt. Am 3.6.2016 beantragten die tunesischen Behörden die Auslieferung des Bf., weil er verdächtigt wurde, Mitglied einer Terrororganisation zu sein, welche Anschläge in Tunesien verübt hatte.
Das Hessische Innenministerium ordnete am 1.8.2017 die Ausweisung des Bf. nach § 58a Aufenthaltsgesetz an, da er aufgrund seiner Aktivitäten für den »Islamischen Staat« und der Planung von Terroranschlägen in Deutschland und Tunesien als sogenannter »Gefährder« eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstelle. Diese Anordnung war sofort vollstreckbar.
Mit Entscheidung vom 26.3.2018 wies das BVerwG einen Antrag des Bf. auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung für seine Beschwerde gegen diese Anordnung ab. Es war der Ansicht, dass aufgrund der von den tunesischen Behörden und dem Auswärtigen Amt zur Verfügung gestellten Informationen zwar eine echte Gefahr bestand, dass der Bf. in Tunesien zum Tod oder zu lebenslanger Haft verurteilt würde. Angesichts des Bestehens eines Moratoriums zur Vollstreckung von Todesstrafen und der von den tunesischen Behörden geleisteten diplomatischen Zusicherungen existiere jedoch keine tatsächliche Gefahr, dass er exekutiert würde. In der Praxis würde diese Todesstrafe eine lebenslange Haft bedeuten und der Bf. die Möglichkeit haben, nach einer Überprüfung seiner Strafe aufgrund von vorhersehbaren und objektiven Kriterien bedingt entlassen zu werden. Insgesamt würde ihm im Fall der Abschiebung daher keine Konventionsverletzung drohen.
Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde des Bf. am 4.5.2018 nicht zur Entscheidung an (2 BvR 632/18) und bestätigte dabei die Feststellungen des BVerwG.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
(30) Der Bf. behauptete aufgrund seiner Abschiebung nach Tunesien eine Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK (hier: Refoulementverbot) und Art. 1 13. Prot. EMRK (Abschaffung der Todesstrafe). Er gab an, dass es nach den Vorbringen der tunesischen und der Beurteilung der deutschen Behörden offensichtlich war, dass er in Tunesien zur Todesstrafe verurteilt werden würde. […] Darüber hinaus würde die Todesstrafe de facto eine lebenslange Freiheitsstrafe begründen, die – sollte er nicht hingerichtet werden – nicht reduzierbar wäre. […]
(33) Der GH befindet, dass die Beschuldigungen gegen den Bf. in Tunesien die Todesstrafe nach sich ziehen würden und dass die tunesischen Behörden selbst ein ernsthaftes Risiko bestätigten, dass er diese Strafe auch bekommen würde. Hingegen ist es nicht strittig, dass ein Moratorium – welches ohne Ausnahme seit 1991 beachtet wird – für die Vollstreckung von Hinrichtungen in Tunesien besteht und dass die tunesischen Behörden im Fall des Bf. hierzu diplomatische Zusicherungen leisteten. Vor diesem Hintergrund […] sieht der GH keinen Anlass, von der Beurteilung der innerstaatlichen Gerichte abzuweichen, dass keine tatsächliche Gefahr bestehe, dass der Bf. in Tunesien hingerichtet werde und dass er nicht geltend machen könne, eine gerechtfertigte Angst davor zu haben hingerichtet zu werden, die für ihn ein enormes psychisches Leiden bewirke. Die mögliche Verhängung der Todesstrafe in Tunesien führt daher für sich – sei es nach Art. 2 EMRK und Art. 1 13. Prot. EMRK oder nach Art. 3 EMRK – nicht zur Unzulässigkeit der Abschiebung des Bf.
(34) Der GH stimmt mit der Feststellung der innerstaatlichen Gerichte überein, dass wenn der Bf. in Tunesien zum Tod verurteilt würde, diese Strafe de facto eine lebenslange Freiheitsstrafe begründen würde. […]
(35) Der GH stellt fest, dass das BVerwG wiederholt Informationen und Zusicherungen angefordert hatte, unter anderem bezüglich der Möglichkeit, solch eine de facto lebenslange Haftstrafe zu überprüfen, und ihrer Reduzierbarkeit de jure und de facto. Basierend auf den Informationen, die es bekommen hatte, gab dieses Gericht eine sorgfältige Begründung hinsichtlich der Frage ab, warum es der Ansicht war, dass die Strafe, welche der Bf. wahrscheinlich in Tunesien erhalten würde, de jure und de facto reduzierbar sei und warum er eine realistische Aussicht darauf habe freigelassen zu werden, nachdem er eine gewisse Zeit im Gefängnis verbracht hatte. Diese Feststellungen wurden vom BVerfG bestätigt und in seiner eigenen Entscheidung umfangreich begründet.
(36) Der GH sieht keinen Grund, von den Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte in Bezug auf die Reduzierbarkeit der Todesstrafe de jure abzuweichen, die nach dem tunesischen Anti-Terror-Gesetz verhängt wird und welche der Bf. riskierte zu erhalten. Dieses Gesetz sah ausdrücklich die Anwendbarkeit der tunesischen StPO vor und die tunesischen Behörden bestätigten dies mittels diplomatischer Zusicherungen. Folglich müssen zwei Maßnahmen getroffen werden, damit der Bf. aus dem Gefängnis entlassen werden kann: Zuerst muss die Todesstrafe durch eine Begnadigung des Präsidenten in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt werden, was an sich keine Fragen unter Art. 3 EMRK aufwirft, da die Umwandlung nicht auf Gründe wie einen schlechten Gesundheitszustand, eine körperliche Beeinträchtigung oder ein hohes Alter beschränkt ist. Zweitens könnte die lebenslange Haftstrafe entweder nach dem Verfahren der tunesischen StPO über bedingte Entlassung oder im Wege einer weiteren präsidialen Begnadigung reduziert werden. Beide Instrumente stellen gleichermaßen gültige Möglichkeiten dar, um eine lebenslange Haftstrafe zu mindern.
(37) In Hinblick auf die Reduzierbarkeit de facto teilte das Deutsche Auswärtige Amt dem BVerwG auf dessen ausdrückliche Anfrage hin mit, dass jede (einzelne) Todesstrafe in Tunesien früher oder später durch die Begnadigung des Präsidenten in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt werde. Auch unter Berücksichtigung der Beweggründe des Deutschen Auswärtigen Amtes, seine frühere Position zu revidieren, befindet der GH, dass keine internationalen oder anderen gegenteiligen Meldungen vorliegen. Insofern als der Bf. vorbrachte, dass er angesichts der Art der Straftaten, derer er beschuldigt wurde, und der öffentlichen Äußerungen des Präsidenten und anderer hochrangiger Regierungsvertreter nicht in den Genuss einer Begnadigung kommen werde, stellten die innerstaatlichen Gerichte fest, dass diese Äußerungen politischer Natur und für den Präsidenten nicht rechtlich bindend waren. Darüber hinaus bezogen sich diese Äußerungen auf die gängige Praxis, Personen, die aufgrund von terroristischen Straftaten verurteilt wurden, von ihrer strafrechtlichen Verantwortung zu befreien, und beinhalteten keinen Hinweis bezüglich einer Begnadigung in einem Einzelfall, bei welcher es sich um eine Ermessensentscheidung handelt. Die innerstaatlichen Gerichte stellten fest, dass wegen terroristischer Straftaten verurteilte Personen früher schon begnadigt worden waren, dass es keine Präzedenzfälle in Bezug auf Personen gab, die nach dem Anti-Terror-Gesetz verurteilt wurden, da bislang zu wenig Zeit vergangen war, und dass keine Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass die Praxis, präsidiale Begnadigungen zu erteilen, geändert oder nicht auf Personen angewendet werden würde, die nach dem Anti-Terror-Gesetz verurteilt wurden. Der GH sieht keinen Anlass, in dieser Hinsicht von den Feststellungen und der Schlussfolgerung der innerstaatlichen Gerichte abzuweichen.
(38) Schließlich stimmt der GH mit den Feststellungen des BVerwG und des BVerfG überein, dass die Methode der Überprüfung einer lebenslangen Haftstrafe mit Aussicht auf eine mögliche Entlassung die […] Kriterien nach Art. 3 EMRK erfüllte. Sollte der Bf. zur Todesstrafe verurteilt werden, würde zur Zeit der Verhängung dieser Strafe für ihn ausreichend vorhersehbar sein, dass die Strafe früher oder später in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt wird, angesichts der Tatsache, dass jede Todesstrafe in Tunesien früher oder später durch eine Begnadigung des Präsidenten in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt wird. Die Bestimmungen über das Recht des Präsidenten jemanden zu begnadigen sind eindeutig, da ein Häftling jederzeit ein Gnadengesuch stellen und der Präsident jederzeit eine Begnadigung erteilen kann. Sobald die Todesstrafe in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt wurde, wird die Möglichkeit einer anschließenden Entlassung auf Bewährung nicht nur durch die Vorschriften über die Begnadigung […] geregelt, sondern auch durch die diesbezüglichen Bestimmungen der StPO […], welche objektive und vorbestimmte Kriterien vorsehen.
(39) In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen kommt der GH zu dem Ergebnis, dass obwohl ein ernsthaftes Risiko besteht, dass über den Bf. in Tunesien die Todesstrafe verhängt wird, keine tatsächliche Gefahr gegeben ist, dass diese Strafe – die de facto eine lebenslange Haftstrafe begründen würde – auf eine Art und Weise verhängt wird, die unvereinbar mit den durch die Rechtsprechung des GH festgelegten Anforderungen nach Art. 3 EMRK sein würde.
(40) Folglich ist die Beschwerde offensichtlich unbegründet und muss daher [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Al-Saadoon und Mufdhi/GB v. 2.3.2010 = NLMR 2010, 84
Trabelsi/B v. 4.9.2014 = NLMR 2014, 383
Murray/NL v. 26.4.2016 (GK) = NLMR 2016, 110
Hutchinson/GB v. 17.1.2017 (GK) = NLMR 2017, 7
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 4.9.2018, Bsw. 17675/18, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 407) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Die Zulässigkeitsentscheidung im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/18_5/Saidani.pdf
Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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