Spruch:
Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK - Auf Geschlechterstereotypen beruhende Entscheidung über Schadenersatz für Verlust des sexuellen Empfindens.
Zulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).
Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (5:2 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 3.250,– für immateriellen Schaden, € 2.460,– für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).
Begründung:
Sachverhalt:
Bei der 1945 geborenen Bf. wurde Ende 1993 eine Entzündung der Bartholin-Drüse an der linken Seite ihrer Vagina diagnostiziert. Wegen der damit verbundenen anhaltenden Schmerzen wurden im Mai 1995 im staatlichen Lissabonner Zentralkrankenhaus beide Bartholin-Drüsen chirurgisch entfernt. Nach der Operation litt die Bf. an starken Schmerzen, einem Verlust des vaginalen Empfindens und an Inkontinenz, außerdem hatte sie Schwierigkeiten zu sitzen und zu gehen und konnte keinen Geschlechtsverkehr mehr haben. Bei einer in einer Privatklinik durchgeführten Untersuchung wurde festgestellt, dass der linke Schamnerv bei der Operation verletzt worden war.
Einer Amtshaftungsklage gegen das Krankenhaus wurde vom Verwaltungsgericht Lissabon am 4.10.2013 teilweise stattgegeben. Das Gericht stellte einen kausalen Zusammenhang zwischen der Beeinträchtigung der Bf. und der Verletzung des Schamnervs fest, zu der es durch einen Fehler des Chirurgen gekommen sei. Das Gericht sprach der Bf. als Entschädigung € 80.000,– für immateriellen Schaden und € 92.000,– für materiellen Schaden zu, wovon € 16.000,– auf die Kosten für eine von der Bf. engagierte Haushaltshilfe entfielen.
Das von der Krankenanstalt angerufene Oberste Verwaltungsgericht bestätigte das erstinstanzliche Urteil in der Sache, reduzierte jedoch den Schadenersatz für die Kosten der Haushaltshilfe auf € 6.000,–. Begründet wurde dies damit, dass sich die Bf. »angesichts des Alters ihrer Kinder vermutlich nur um ihren Ehemann kümmern musste«, weshalb sie keine Vollzeitkraft zur Unterstützung im Haushalt benötigt hätte. Die Entschädigung für immateriellen Schaden wurde auf € 50.000,– herabgesetzt, weil die Beschwerden der Bf. schon vor der Operation bestanden hätten und durch diese lediglich erschwert worden wären. »Zudem dürfe nicht vergessen werden«, so das Oberste Verwaltungsgericht, »dass die Bf. zur Zeit der Operation bereits zwei Kinder hatte und 50 Jahre alt war, also in einem Alter, in dem Sexualität nicht so wichtig ist wie in jungen Jahren, da diese mit dem Alter an Bedeutung verliert.«
Eine von der Generalstaatsanwaltschaft erhobene Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Obersten Verwaltungsgericht abgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK
(30) Die Bf. brachte vor, das in ihrem Fall ergangene Urteil des Obersten Verwaltungsgerichts habe sie aufgrund ihres Geschlechts und ihres Alters diskriminiert. Sie beschwert sich insbesondere über die Begründung [...] für die Herabsetzung des ihr zugesprochenen Ersatzes für immateriellen Schaden und über die Tatsache, dass die Bedeutung eines Sexuallebens für sie als Frau missachtet worden sei. [...]
Zulässigkeit
Anwendbarkeit von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK
(34) [...] Die Anwendung von Art. 14 EMRK setzt nicht unbedingt die Verletzung eines der von der EMRK garantierten materiellen Rechte voraus und ist insofern autonom. Eine Maßnahme, die als solche mit den Anforderungen des Artikels vereinbar ist, der das fragliche Recht umfasst, kann dennoch diesen Artikel iVm. Art. 14 EMRK verletzen, wenn sie diskriminierend ist. Damit Art. 14 EMRK anwendbar ist, reicht es daher aus, dass die Tatsachen des Falls in den Regelungsbereich einer anderen materiellen Bestimmung der Konvention und ihrer Protokolle fallen.
(35) [...] Wie der GH bei vielen Gelegenheiten festgehalten hat, ist der Begriff des »Privatlebens« iSv. Art. 8 EMRK ein breites Konzept, das [...] die physische und psychische Integrität einer Person mit einschließt und zu einem gewissen Grad auch das Recht, Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen und zu entwickeln. [...] Das Konzept des Privatlebens umfasst auch [...] Elemente wie das Sexualleben [...], das in die von Art. 8 EMRK geschützte persönliche Sphäre fällt.
(36) Im vorliegenden Fall zielte das innerstaatliche Verfahren darauf ab, die Haftung für ein ärztliches Fehlverhalten festzustellen und einen angemessenen Schadenersatz für die physischen und psychischen Folgen der Operation zu bemessen. Die fraglichen Tatsachen fallen daher in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK. Folglich ist Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK anwendbar.
Schlussfolgerung
(37) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet [...] noch aus einem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (mehrheitlich).
In der Sache
Allgemeine Grundsätze
(44) [...] Damit eine Angelegenheit unter Art. 14 EMRK aufgeworfen wird, muss eine unterschiedliche Behandlung von Personen in gleichen oder vergleichbaren Situationen vorliegen. Eine solche unterschiedliche Behandlung ist diskriminierend, wenn sie keine sachliche und vernünftige Rechtfertigung hat, wenn sie also mit anderen Worten kein legitimes Ziel verfolgt oder kein vernünftiges Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel besteht. [...]
(45) Art. 14 EMRK verbietet nicht jede unterschiedliche Behandlung, sondern nur Unterschiede, die auf einem bestimmbaren, objektiven oder persönlichen Merkmal oder »Status« beruhen, durch den Individuen oder Gruppen voneinander unterschieden werden können. Er nennt spezifische Gründe, die einen »Status« darstellen, wie unter anderem Geschlecht, Rasse und Vermögen. [...] Der GH hat anerkannt, dass Alter einen »sonstigen Status« iSv. Art. 14 EMRK darstellen kann, auch wenn er bislang nicht vorgeschlagen hat, eine Diskriminierung aufgrund des Alters mit anderen »verdächtigen« Diskriminierungsgründen gleichzusetzen.
(46) Der GH bekräftigt weiters, dass die Förderung der Geschlechtergleichheit heute ein wichtiges Ziel der Mitgliedstaaten des Europarats ist und dass sehr gewichtige Gründe vorgebracht werden müssten, bevor eine solche Ungleichbehandlung als mit der Konvention vereinbar angesehen werden kann. Insbesondere sind Verweise auf Traditionen, generelle Vermutungen oder vorherrschende gesellschaftliche Anschauungen in einem bestimmten Land keine ausreichende Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung aufgrund des Geschlechts. [...]
Anwendung im vorliegenden Fall
(48) Wie der GH bemerkt, sprach das erstinstanzliche Gericht der Bf. [...] € 80.000,– für immateriellen Schaden zu, wobei es auf Kriterien wie das durch den ärztlichen Fehler verursachte physische und mentale Leiden verwies. Es berücksichtigte insbesondere, dass die bei der Operation verursachte Verletzung des linken Schamnervs bei der Bf. Schmerzen verursacht und einen Verlust des Empfindens in der Vagina, Inkontinenz, Schwierigkeiten beim Gehen und Sitzen und beim Eingehen sexueller Beziehungen nach sich gezogen hatte.
(49) Während das Oberste Verwaltungsgericht diese Feststellungen bestätigte, reduzierte es den Betrag auf € 50.000,–. Es bezog sich auf dieselben Elemente, ging aber davon aus, dass der physische und mentale Schmerz der Bf. nicht ausschließlich durch die Verletzung des linken Schamnervs während der Operation verursacht, sondern durch die Operation nur verstärkt worden war. Außerdem stützte sich das Oberste Verwaltungsgericht auf die Tatsache, dass die Bf. »zur Zeit der Operation bereits 50 Jahre alt war, also in einem Alter, in dem Sexualität nicht so wichtig ist wie in jungen Jahren, da diese mit dem Alter an Bedeutung verliert.«
(50) Der GH bemerkt, dass das Oberste Verwaltungsgericht den der Bf. für die Kosten einer Haushaltshilfe zugesprochenen Betrag mit der Begründung herabsetzte, es wäre nicht anzunehmen, dass sie eine Vollzeitkraft benötigte, da sie sich zur fraglichen Zeit angesichts des Alters ihrer Kinder »wahrscheinlich nur um ihren Ehemann kümmern musste«.
(51) Es ist nicht Aufgabe des GH, im vorliegenden Fall die der Bf. vom Obersten Verwaltungsgericht zugesprochenen Beträge als solche zu analysieren. [...] Die nationalen Behörden sind grundsätzlich besser in der Lage als ein internationales Gericht um einzuschätzen, was eine angemessene Entschädigung für einen bestimmten, von einer Person erlittenen Schaden ist. Die zu entscheidende Frage ist allerdings, ob die Begründung des Obersten Verwaltungsgerichts zu einer unterschiedlichen Behandlung der Bf. aufgrund ihres Geschlechts oder ihres Alters führte, die einen Verstoß gegen Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK begründete.
(52) Der GH anerkennt, dass innerstaatliche Gerichte bei der Entscheidung über Ansprüche betreffend immateriellen Schaden im Rahmen von Schadenersatzprozessen wie im vorliegenden Fall aufgerufen sein können, das Alter von Klägern zu berücksichtigen. Die Frage, um die es hier geht, ist nicht die Berücksichtigung des Alters als solche, sondern vielmehr die Annahme, dass Sexualität für eine fünfzigjährige Frau und Mutter von zwei Kindern nicht so wichtig ist wie für jemand Jüngeren. Diese Annahme spiegelt eine traditionelle Vorstellung von weiblicher Sexualität wider, wonach diese wesentlich mit dem Zweck der Fortpflanzung verbunden ist, und ignoriert damit ihre physische und psychische Bedeutung für die Selbstverwirklichung von Frauen als Menschen. Abgesehen davon, dass sie in gewisser Weise voreingenommen ist, unterließ sie es, andere Dimensionen weiblicher Sexualität im konkreten Fall der Bf. zu berücksichtigen. Mit anderen Worten stellte das Oberste Verwaltungsgericht eine allgemeine Vermutung an, ohne zu versuchen, deren Gültigkeit im konkreten Fall der Bf. selbst, die zur Zeit der fraglichen Operation 50 Jahre alt war, zu überprüfen.
(53) Nach Ansicht des GH kann die Formulierung des Urteils des Obersten Verwaltungsgerichts hinsichtlich der Herabsetzung der Entschädigung für immateriellen Schaden nicht als unglückliche Formulierung betrachtet werden, wie dies von der Regierung vertreten wird. Es stimmt, dass das Oberste Verwaltungsgericht bei der Herabsetzung des Betrags auch davon ausging, dass der von der Bf. erlittene Schmerz nicht neu war. Dennoch scheinen Alter und Geschlecht der Bf. entscheidende Faktoren für die endgültige Entscheidung gewesen zu sein, womit eine auf diesen Gründen beruhende unterschiedliche Behandlung begründet wird. Dieser Zugang wird auch in der Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichts widergespiegelt, den der Bf. im Hinblick auf die Kosten einer Haushaltshilfe zugesprochenen Betrag mit der Begründung herabzusetzen, sie habe sich angesichts des Alters ihrer Kinder »wahrscheinlich nur um ihren Ehemann kümmern müssen«.
(54) Nach Ansicht des GH zeigen diese Überlegungen die in der portugiesischen Gerichtsbarkeit herrschenden Vorurteile, worauf der Bericht des Sonderberichterstatters des UN-Menschenrechtsrats über die Unabhängigkeit der Richter und Anwälte vom 29.6.2015 und die Schlussfolgerungen des CEDAW-Ausschusses über den Bedarf des belangten Staats, das Problem von diskriminierenden Geschlechterstereotypen anzugehen, hinweisen (Anm: Bericht des Sonderberichterstatters des UN-Menschenrechtsrats über die Unabhängigkeit der Richter und Anwälte vom 29.6.2015 (A/HRC/29/26/add4) Rn. 72; UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau, Abschließende Bemerkungen zum achten und neunten periodischen Bericht zu Portugal vom 28.10.2015 (CEDAW/C/PRT/CO/8-9) Rn. 20-21.). [...]
(55) In diesem bekannten faktischen Kontext sieht sich der GH gezwungen, den Kontrast zwischen dem Fall der Bf. und dem in zwei 2008 und 2014 ergangenen Urteilen vertretenen Zugang festzustellen, die von zwei 55 bzw. 59 Jahre alten männlichen Patienten behauptete ärztliche Kunstfehler betrafen. Der Oberste Gerichtshof stellte in diesen Fällen fest, dass die Tatsache, dass die Männer keine normalen sexuellen Beziehungen mehr haben konnten, ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigte und zu einem »gewaltigen Schock« und einer »starken seelischen Erschütterung« führte. Angesichts dieser Feststellungen sprach der Oberste Gerichtshof den beiden männlichen Klägern € 224.459,– bzw. € 100.000,– zu. Aus diesen Fällen geht hervor, dass die innerstaatlichen Gerichte ungeachtet des Alters der Männer die Tatsache berücksichtigten, dass sie keine sexuellen Beziehungen unterhalten konnten und wie sie dies beeinträchtigte. Im Gegensatz zum Fall der Bf. berücksichtigte der Oberste Gerichtshof weder, ob die Kläger bereits Kinder hatten, noch nahm er andere Faktoren in den Blick. Insbesondere argumentierte er im Urteil vom 4.3.2008, dass die Tatsache, dass der chirurgische Eingriff zur Impotenz und Inkontinenz des Klägers geführt hatte, ausreichend für die Annahme der Verursachung eines immateriellen Schadens wäre.
(56) Angesichts dieser Überlegungen kommt der GH zu dem Schluss, dass eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK stattgefunden hat (5:2 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten der Richterinnen Yudkivska und Motoc; abweichendes Sondervotum der Richter Ravarani und Bošnjak).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 3.250,– für immateriellen Schaden; € 2.460,– für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).
Vom GH zitierte Judikatur:
Schuler-Zraggen/CH v. 24.6.1993 = NL 1993/4, 30 = EuGRZ 1996, 604 = ÖJZ 1994, 138
Salgueiro da Silva Mouta/P v. 21.12.1999 = NL 2000, 20
Ünal Tekeli/TR v. 16.11.2004 = NL 2004, 294
Konstantin Markin/RUS v. 22.3.2012 (GK) = NLMR 2012, 92
Fabris/F v. 7.2.2013 (GK) = NLMR 2013, 37
Khamtokhu und Aksenchik/RUS v. 24.1.2017 (GK) = NLMR 2017, 54
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.7.2017, Bsw. 17484/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2017, 355) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/17_4/Carvalho.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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