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BGBl I 8/2012

BUNDESGESETZBLATT

FÜR DIE REPUBLIK ÖSTERREICH

8. Bundesgesetz: Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz 2011
(NR: GP XXIV IA 1773/A AB 1644 S. 140 . BR: AB 8653 S. 804 .)

8. Bundesgesetz über die Aufhebung und Rehabilitierung (Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz 2011)

Der Nationalrat hat beschlossen:

Rückwirkende Aufhebung von gerichtlichen Entscheidungen und Bescheiden

§ 1. (1) Alle noch in Rechtskraft stehenden, bis 12. März 1938 ergangenen verurteilenden Entscheidungen der Sonder- und Standgerichte sowie der ordentlichen Strafgerichte gegen Inhaber von Amtsbescheinigungen oder Opferausweisen nach dem Opferfürsorgegesetz, BGBl. Nr. 183/1947, oder Personen, die Anspruch auf eine Amtsbescheinigung oder einen Opferausweis nach dem Opferfürsorgesetz haben oder gehabt haben, jedoch keinen darauf gerichteten Antrag gestellt haben, oder vor Inkrafttreten des Opferfürsorgegesetzes Verstorbene, die zum Zeitpunkt ihres Todes abgesehen vom Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft dessen Bedingungen für die Ausstellung einer Amtsbescheinigung oder eines Opferausweises erfüllt haben, gelten rückwirkend als nicht erfolgt, soweit sie wegen Taten, die zwischen 6. März 1933 und 12. März 1938 im Kampf um ein unabhängiges, demokratisches und seiner geschichtlichen Aufgabe bewusstes Österreich (§ 1 Abs. 1 Opferfürsorgegesetz, BGBl. Nr. 183/1947) begangen wurden oder wegen des Ausdrucks einer darauf gerichteten politischen Meinung erfolgten.

(2) Alle noch in Rechtskraft stehenden, bis 12. März 1938 ergangenen Bescheide, mit denen die Verhaltung zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete (Anhaltung) angeordnet wurde, gelten rückwirkend als nicht erlassen, soweit sie gegen in Abs. 1 angeführte Personen wegen in Abs. 1 angeführter Handlungen ergangen sind.

Zusammentreffen

§ 2. Enthält eine gerichtliche Verurteilung auch einen Schuldspruch wegen einer anderen Tat, die nicht unter § 1 Abs. 1 fällt, so bleibt dieser Schuldspruch aufrecht. Der Strafausspruch entfällt. Eine Neubemessung der Strafe findet nicht statt.

Antragsbefugnis und Zuständigkeit

§ 3. (1) Die durch eine strafrechtliche Entscheidung im Sinne des § 1 Abs. 1 Verurteilten und jene, denen zufolge eines Bescheides im Sinne des § 1 Abs. 2 ihre persönliche Freiheit entzogen wurde sowie die Ehegatten, eingetragenen Partner, Lebensgefährten, Verwandte in gerader Linie oder Geschwister solcher Personen können die Feststellung beantragen, dass diese Entscheidung als nicht erfolgt gilt.

(2) Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 stellt das Landesgericht für Strafsachen Wien durch einen Einzelrichter mit Beschluss fest.

(3) Das Gericht hat vor der Beschlussfassung eine Stellungnahme des Rehabilitierungsbeirats (§ 5) einzuholen, wenn es dies für erforderlich hält.

(4) Soweit nichts anderes bestimmt ist, gelten für das Verfahren im Übrigen die Bestimmungen der StPO.

Rehabilitierung

§ 4. (1) Die Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt zum Rechtsnachteil derjenigen, die sich in Wort und Tat für ein unabhängiges, demokratisches und seiner geschichtlichen Aufgabe bewusstes Österreich eingesetzt haben (§ 1 Abs. 1 Opferfürsorgegesetz, BGBl. Nr.183/1947) gerade wegen dieser Handlungen, widerspricht demokratischen Prinzipien. Insbesondere sind Urteile im Sinne des § 1 Abs. 1 und Bescheide im Sinne des § 1 Abs. 2 Unrecht im Sinne des Rechtsstaates.

(2) Alle durch eine Entscheidung im Sinne des § 1 Verurteilten sind im Ausmaß der Aufhebung rehabilitiert.

(3) Allen, die sich zwischen dem 12. November 1918 und 12. März 1938 in Wort und Tat für ein unabhängiges, demokratisches und seiner geschichtlichen Aufgabe bewusstes Österreich eingesetzt haben (§ 1 Abs. 1 Opferfürsorgegesetz, BGBl. Nr.183/1947), gebührt die Achtung der Republik. Jenen Personen, die an mit Waffen ausgetragenen gewaltsamen politischen Auseinandersetzungen unbeteiligt Schäden an Leib, Leben oder Freiheit erlitten haben, gebührt besonderes Mitgefühl.

Rehabilitierungsbeirat

§ 5. (1) Beim Bundesministerium für Justiz ist ein Rehabilitierungsbeirat einzurichten. Diesem obliegt es, auf Ersuchen des Gerichtes (§ 3 Abs. 3) eine Stellungnahme zur Frage abzugeben, inwieweit die einer Entscheidung im Sinne des § 1 zu Grunde liegende Tat oder Handlung im Kampf um ein unabhängiges, demokratisches und seiner geschichtlichen Aufgabe bewusstes Österreich begangen wurde oder Ausdruck einer darauf gerichteten politischen Meinung war.

(2) Der Beirat besteht aus sechs Mitgliedern und setzt sich aus zwei Vertretern des Bundesministeriums für Justiz sowie aus je zwei Fachexperten aus dem Gebiet der Zeitgeschichte und der Rechtsgeschichte zusammen, wobei den Vorsitz ein von der Bundesministerin für Justiz bestimmter Vertreter des Bundesministeriums für Justiz führt. Die Funktionsperiode des Beirates beträgt vier Jahre. Nach Ablauf der Funktionsperiode hat der Beirat die Geschäfte so lange weiterzuführen, bis der neue Beirat zusammentritt. Die Zeit der Weiterführung der Geschäfte zählt auf die Funktionsperiode des neuen Beirates.

(3) Die im Abs. 2 genannten Mitglieder des Beirates sowie die erforderliche Anzahl von Ersatzmitgliedern werden von der Bundesministerin für Justiz berufen. Die Vorschläge für die Bestellung der Fachexperten hat der Bundesminister für Wissenschaft und Forschung zu erstatten. Er kann davor Vertreter der Geschichts- und Rechtswissenschaft anhören, um sich zusätzliche Informationen über die Fachexpertise in Aussicht genommener Personen zu verschaffen. Die Bundesministerin für Justiz hat die Mitglieder des Beirates von ihrer Funktion zu entheben, wenn sie darum ansuchen, wenn eine der für ihre Bestellung erforderlichen Voraussetzungen nicht mehr gegeben ist oder wenn sie die Pflichten ihres Amtes gröblich vernachlässigen; im letzteren Falle ist zuvor der Vorschlagsberechtigte anzuhören.

(4) Die Mitgliedschaft im Beirat ist ein unbesoldetes Ehrenamt. Den Mitgliedern gebührt der Ersatz der Reise- und Aufenthaltskosten unter sinngemäßer Anwendung der für Schöffen und Geschworene geltenden Bestimmungen des Gebührenanspruchsgesetzes, BGBl. Nr. 136/1975 idF BGBl. I Nr. 111/2010, wenn auf Grund anderer gesetzlicher Regelungen kein gleichartiger Anspruch besteht.

(5) Der Beirat wird vom Vorsitzenden zu den Sitzungen einberufen. Die Einladungen sollen mit der Tagesordnung den Mitgliedern des Beirates spätestens acht Tage vor der Sitzung zugestellt werden. Der Beirat tagt in nichtöffentlicher Sitzung. Er ist beschlussfähig, wenn mindestens die Hälfte der eingeladenen Mitglieder anwesend ist. Wurden die Mitglieder ordnungsgemäß eingeladen, so ist der Beirat auch dann beschlussfähig, wenn nach Ablauf von 30 Minuten weniger als die Hälfte der eingeladenen Mitglieder anwesend ist. Die Beschlüsse des Beirates werden mit Stimmenmehrheit gefasst. Der Vorsitzende gibt seine Stimme zuletzt ab; bei Stimmengleichheit entscheidet seine Stimme. Über die Sitzung des Beirates ist eine Niederschrift aufzunehmen, die alle Beschlüsse im Wortlaut, die Ergebnisse der Abstimmungen und den wesentlichen Verlauf der Verhandlungen zu enthalten hat; eine Abschrift ist den Mitgliedern des Beirates zu übersenden. Der Vorsitzende ist berechtigt, dem Beirat Experten mit beratender Stimme beizuziehen.

Entschädigungs- und Rückersatzansprüche

§ 6. Entschädigungs- und Rückersatzansprüche können auf Grund dieses Gesetzes nicht erhoben werden.

§ 7. Soweit in diesem Bundesgesetz auf natürliche Personen bezogene Bezeichnungen nur in männlicher Form angeführt sind, beziehen sie sich auf Frauen und Männer in gleicher Weise. Bei der Anwendung der Bezeichnung auf bestimmte natürliche Personen ist die jeweils geschlechtsspezifische Form zu verwenden.

Inkrafttreten

§ 8. Dieses Bundesgesetz tritt am 1. März 2012 in Kraft.

Vollziehung

§ 9. Mit der Vollziehung dieses Bundesgesetzes ist die Bundesministerin für Justiz betraut.

Fischer

Faymann

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