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BGBl I 110/2009

BUNDESGESETZBLATT

FÜR DIE REPUBLIK ÖSTERREICH

110. Bundesgesetz: Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz
(NR: GP XXIV AB 359 S. 40 . BR: 8182 AB 8188 S. 777.)

110. Bundesgesetz, mit dem ein Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz erlassen wird

Der Nationalrat hat beschlossen:

Rückwirkende Aufhebung gerichtlicher Entscheidungen

§ 1. (1) Alle Urteile, die auf den im Aufhebungs- und Einstellungsgesetz 1945, StGBl. Nr. 48, und der dazu ergangenen Verordnung, StGBl. Nr. 155/1945, genannten nationalsozialistischen Rechtsvorschriften beruhen oder die unter die Befreiungsamnestie 1946, BGBl. Nr. 79/1946, fallen, weil sie von deutschen Militär- oder SS-Gerichten gefällt wurden, gelten nach Maßgabe dieser Vorschriften rückwirkend als nicht erfolgt. Gleiches gilt für solche gerichtliche Entscheidungen, die im Inland gegen nicht österreichische Staatsbürger ergangen sind. Einer gesonderten, amtswegigen Prüfung und Feststellung bedarf es nicht. Die Einleitung eines Verfahrens nach § 9 Abs. 1 der Befreiungsamnestie 1946, BGBl. Nr. 79/1946, oder die Einleitung eines Verfahrens nach § 3 Abs. 2 des Aufhebungs- und Einstellungsgesetzes 1945, StGBl. Nr. 48, findet nicht mehr statt.

(2) Darüber hinaus gelten folgende zwischen dem 12. März 1938 und dem Tag der Befreiung am 8. Mai 1945 ergangenen gerichtliche Entscheidungen rückwirkend als nicht erfolgt:

  1. 1. alle verurteilenden Entscheidungen der Sonder- und Standgerichte, des Volksgerichtshofs und der Oberlandesgerichte, soweit ihnen Strafsachen, die in die Zuständigkeit des Volksgerichtshofs fielen, abgetreten worden sind;
  2. 2. alle insbesondere durch Erbgesundheitsgerichte erfolgten Anordnungen von Zwangssterilisationen oder zwangsweisen Schwangerschaftsabbrüchen;
  3. 3. alle verurteilenden Entscheidungen, soweit diese wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen erfolgten, sofern die der Verurteilung zugrundeliegende Tat nach den geltenden Bestimmungen nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht wäre;
  4. 4. alle sonstigen verurteilenden Entscheidungen, soweit in diesen typisch nationalsozialistisches Unrecht zum Ausdruck kommt, die gegen österreichische Staatsbürger im In- und Ausland sowie gegen nicht österreichische Staatsbürger im Inland mit dem Ziel der Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes ergangen sind.

Zusammentreffen

§ 2. Strafgerichtliche Entscheidungen im Sinne des § 1 Abs. 2 Z 3 und 4 wegen mehrerer Taten gelten auch dann in ihrem verurteilenden Teil rückwirkend als nicht erfolgt, wenn die Verurteilung auch wegen Taten erfolgt ist, deren Strafbarkeit nicht als typisch nationalsozialistisches Unrecht zu begreifen ist, diese Taten jedoch von bloß untergeordneter Bedeutung sind.

Antragsbefugnis und Zuständigkeit

§ 3. (1) Opfer einer gerichtlichen Unrechtsentscheidung im Sinne des § 1 sowie deren Ehegatten, Lebensgefährten, Verwandten in gerader Linie oder Geschwister und deren Nachkommen können die Feststellung beantragen, dass diese Entscheidung als nicht erfolgt gilt.

(2) Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 stellt das Landesgericht für Strafsachen Wien durch einen Einzelrichter mit Beschluss fest, wobei in den Fällen des § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Z 1 und 2 eine Prüfung im Einzelfall zu unterbleiben hat.

(3) Ist eine Prüfung im Einzelfall zulässig und erforderlich, so hat das Gericht vor der Beschlussfassung eine Stellungnahme des Versöhnungsbeirats (§ 5) einzuholen. Soweit nichts anderes bestimmt ist, gelten im Übrigen für das Verfahren die Bestimmungen der StPO.

Rehabilitierung

§ 4. (1) Alle Opfer gerichtlicher Unrechtsentscheidungen im Sinne des § 1, sowie jene, die - ohne deswegen verurteilt worden zu sein - Akte des Widerstandes oder andere gegen das NS-Unrechtsregime gerichtete Akte gesetzt und dadurch etwa als Widerstandskämpfer oder insbesondere als Deserteure durch die bewusste Nichtteilnahme am Krieg an der Seite des nationalsozialistischen Unrechtsregimes oder als sogenannte „Kriegsverräter“ zu dessen Schwächung und Beendigung sowie zur Befreiung Österreichs beigetragen haben, sind rehabilitiert.

(2) Ihnen und den Opfern anderer typischer nationalsozialistischer Unrechtshandlungen sowie allen Opfern der politischen Verfolgung und deren Familien spricht die Republik Österreich ihre Achtung aus. Mitgefühl gebührt auch den aus ihrer Heimat Vertriebenen und allen Opfern des vom nationalsozialistischen Unrechtsregime zu verantwortenden Krieges.

Versöhnungsbeirat

§ 5. (1) Beim Bundesministerium für Justiz ist ein Versöhnungsbeirat einzurichten, der aus dem Vorsitzenden, zwei Vertretern der organisierten Kriegsopfer, einem Vertreter universitärer Einrichtungen für Zeitgeschichte und einem Vertreter universitärer Einrichtungen für Rechtsgeschichte zu bestehen hat. Den Vorsitz führt die Bundesministerin für Justiz oder ein von ihr bestimmter rechtskundiger Bediensteter aus dem Stande des Bundesministeriums für Justiz. Die Funktionsperiode des Beirates beträgt vier Jahre. Nach Ablauf der Funktionsperiode hat der Beirat die Geschäfte so lange weiterzuführen, bis der neue Beirat zusammentritt. Die Zeit der Weiterführung der Geschäfte zählt auf die Funktionsperiode des neuen Beirates.

(2) Die im Abs. 1 genannten Mitglieder des Beirates sowie die erforderliche Anzahl von Ersatzmitgliedern werden von der Bundesministerin für Justiz berufen. Hinsichtlich der Erstattung der Vorschläge für die Bestellung der Vertreter der organisierten Kriegsopfer und der organisierten Behinderten sind die § 10 Abs. 1 Z 6 und § 10 Abs. 2 des Bundesbehindertengesetzes (BBG), BGBl. Nr. 283/1990, anzuwenden. Die Vorschläge für die Bestellung der universitären Vertreter hat der Bundesminister für Wissenschaft und Forschung zu erstatten.

(3) Die Bundesministerin für Justiz hat die Mitglieder des Beirates von ihrer Funktion zu entheben, wenn sie darum ansuchen, wenn eine der für ihre Bestellung erforderlichen Voraussetzungen nicht mehr gegeben ist oder wenn sie die Pflichten ihres Amtes gröblich vernachlässigen, im letzteren Falle nach Anhörung der Vorschlagsberechtigten. Die Mitgliedschaft im Beirat ist ein unbesoldetes Ehrenamt. Den Mitgliedern gebührt der Ersatz der Reise- und Aufenthaltskosten unter sinngemäßer Anwendung der für Schöffen und Geschworene geltenden Bestimmungen des Gebührenanspruchsgesetzes 1975, BGBl. Nr. 136, wenn auf Grund anderer gesetzlicher Regelungen kein gleichartiger Anspruch besteht.

(4) Der Beirat wird vom Vorsitzenden zu den Sitzungen einberufen. Die Einladungen sollen mit der Tagesordnung den Mitgliedern des Beirates spätestens acht Tage vor der Sitzung zugestellt werden. Der Beirat tagt in nichtöffentlicher Sitzung; er ist beschlussfähig, wenn mindestens die Hälfte der eingeladenen Mitglieder anwesend ist. Wurden die Mitglieder ordnungsgemäß eingeladen, so ist der Beirat auch dann beschlussfähig, wenn nach Ablauf von 30 Minuten weniger als die Hälfte der eingeladenen Mitglieder anwesend ist. Die Beschlüsse des Beirates werden mit Stimmenmehrheit gefasst. Der Vorsitzende gibt seine Stimme zuletzt ab; bei Stimmengleichheit entscheidet seine Stimme. Über die Sitzung des Beirates ist eine Niederschrift aufzunehmen, die alle Beschlüsse im Wortlaut, die Ergebnisse der Abstimmungen und den wesentlichen Verlauf der Verhandlungen zu enthalten hat; eine Abschrift ist den Mitgliedern des Beirates zu übersenden. Der Vorsitzende ist berechtigt, dem Beirat Experten mit beratender Stimme beizuziehen.

(5) Dem Beirat obliegt es, Stellungnahmen auf Ersuchen der Gerichte zu Fragen typisch nationalsozialistischem Unrecht abzugeben.

Inkrafttreten

§ 6. Dieses Bundesgesetz tritt mit 1. Dezember 2009 in Kraft.

Außerkrafttreten

§ 7. Mit Ablauf des 30. November 2009 tritt das Bundesgesetz, mit dem ein Bundesgesetz über die Anerkennung der Leistungen im österreichischen Widerstand sowie zur abschließenden Beseitigung nationalsozialistischer Unrechtsakte erlassen wird (Artikel I, BGBl. I Nr. 86/2005) außer Kraft.

Vollziehung

§ 8. Mit der Vollziehung dieses Gesetzes ist die Bundesministerin für Justiz betraut.

Fischer

Faymann

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