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Die gelungenste und die misslungenste Entscheidung des VfGH

AufsätzeBenjamin Kneihs**Univ.-Prof. Dr. Benjamin Kneihs, Fachbereich Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, Universität Salzburg, Kapitelgasse 5–7, 5020 Salzburg, Österreich, <benjamin.kneihs@sbg.ac.at >.ZÖR 2021, 71 Heft 1 v. 15.3.2021

Vorbemerkung

Die meinen Kolleg*innen und mir von den Herausgebern gestellte Aufgabe ist naturgemäß schwierig zu bewältigen. Zunächst muss ich einräumen, dass ich keineswegs die gesamten 100 Jahre der Rechtsprechung des VfGH so überblicke, dass ich zielsicher eine beste und eine schlechteste Entscheidung auswählen könnte – insbesondere in der ersten und am Anfang der zweiten Republik gibt es deutliche Dunkel- und Grauzonen, was meine Kenntnis der Judikatur betrifft. Gewiss kennt man die großen Streitfälle, wie zum Beispiel um die Dispensehen und die großen Leit-Entscheidungen, wie zur Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz; ich würde mich aber nicht getrauen zu sagen, dass ich die ersten 50 Jahre „intus“ hätte. Die zweite Schwierigkeit liegt darin, den wohl bewusst nicht vorgegebenen Maßstab dafür zu finden, was man für besonders gelungen oder für besonders misslungen hält. Meine diesbezügliche Wertentscheidung ist: Es reicht nicht aus, dass ich das Ergebnis (nicht) teile oder sogar für besonders richtig oder völlig verfehlt halte. Die Entscheidung muss vielmehr auch handwerklich und von der Begründung her herausstechen. Nach diesem Kriterium kommen insbesondere ganze Judikaturlinien wie die besonders fragwürdige Ordnungssystem-Judikatur nicht in die engere Wahl, es wäre denn schon und gerade die jeweilige Initial-Entscheidung besonders gut oder schlecht „gemacht“. Selbst eine handwerklich exzellente Entscheidung wie diejenige zur Angabe des Religionsbekenntnisses am Meldezettel in VfSlg 15.541/1999 ist wieder nicht für diese Glosse geeignet, wenn sie keine weiter reichende Bedeutung hat als eben den Einzelfall – wenn auch virtuos – zu erledigen. Zu berücksichtigen ist drittens, dass der VfGH in seinen Anfängen wenige hundert, inzwischen aber einige tausend Fälle pro Jahr zu entscheiden, dass sich sein Begründungsstil grundlegend gewandelt und seine Position im Gefüge der Gewalten und insbesondere der Höchstgerichte verändert hat. Entscheidungen sind daher über die 100 Jahre sehr schwer zu vergleichen, über die dem Wunsch der Herausgeber entsprechend der Bogen zu spannen wäre. Seit Einführung des Ablehnungsrechtes ergeht außerdem ein Großteil der Rechtsprechung des VfGH weitgehend unter

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