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Buchbesprechung Paul W. Kahn, Making the Case. The Art of the Judicial Opinion, New Haven and London: Yale University Press 2016, 256 S, 45,00 $, ISBN 978-0300212082

BuchbesprechungLando Kirchmair**Prof. Dr.iur. Lando Kirchmair, Institut für Öffentliches Recht und Völkerrecht, Universität der Bundeswehr München, Werner-Heisenberg-Weg 39, 85579 Neubiberg, Deutschland, <lando.kirchmair@unibw.de > sowie Fachbereich Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, Universität Salzburg, Kapitelgasse 5–7, 5020 Salzburg, Österreich, <lando.kirchmair@sbg.ac.at >.ZÖR 2020, 497 Heft 2 v. 15.6.2020

Making the Case ist ein spannendes und wichtiges Buch zugleich. Das gilt für alle Leserinnen einer Rechtskultur wie der österreichischen, die sehr geprägt ist von – wenn auch verschiedenen – Spielarten des Rechtspositivismus im Allgemeinen, und einer bemerkenswerten Besonderheit im Speziellen. Diese mittlerweile als ganz selbstverständlich vorausgesetzte und den Studierenden ebenso unterrichtete Eigenheit ist die Tatsache, dass Erkenntnisse von Gerichten des öffentlichen Rechts eben auch heute noch ganz offiziell „Erkenntnisse“ heißen.11Wissen Sie, wieso das so ist? Plakativ hierzu Senatspräsident des VwGH iR und ehem Mitglied des VfGH Gustav Kaniak, Die Struktur der behördlichen Urteile und die Rechtswidrigkeitsgründe, in Friedrich Lehne ea (Hg), Die Entwicklung der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Festschrift zum 100jährigen Bestehen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes (1976) 165 (167): „Daß die verwaltungsgerichtliche Tätigkeit in der Schöpfung von Urteilen besteht, mögen diese auch Erkenntnisse oder Beschlüsse heißen, ist unmittelbar einsichtig.“ In dieselbe Kerbe schlagen gewissermaßen die Tätigkeitsberichte des VfGH aus den Jahren 2009 bis 2014, welche in diversen Sprachen mit der Aussage übertitelt wurden: „Verfassungsgerichtshof heißt entscheiden.“ Abrufbar unter <https://www.vfgh.gv.at/verfassungsgerichtshof/publikationen/taetigkeitsberichte.de.html > (30.03.2020). In dieser Fußnote soll versucht werden, eine Antwort auf die Frage zu skizzieren:
Der Ursprung dieser Bezeichnung ist wohl noch im vorkelsenianischen Gesetzespositivismus, genauer in der Monarchie, zu suchen. So findet sich zum österreichischen Reichsgericht im Gesetz vom 18.04.1869, betreffend die Organisation des Reichsgerichtes, das Verfahren vor demselben und die Vollziehung seiner Erkenntnisse etwa § 28: „Sobald die Sache hinlänglich erörtert ist, wird die Verhandlung beschlossen, und zur Schöpfung des Erkenntnisses geschritten.“ (RGBl 44/1869). Auch der auf Grund des Gesetzes vom 22.10.1875 und 1876 errichtete Verwaltungsgerichtshof sprach und spricht seit damals Erkenntnisse aus.
Hierzu ist, wenn auch wohlgemerkt nicht auf die Bezeichnung als Erkenntnis gerichtet, besonders die Aussage des Abgeordneten Dr. von Plener in der Diskussion im Abgeordnetenhaus 1875 zum Verwaltungsgerichtshofgesetz instruktiv: „Wir in Österreich stehen auf der Tradition, daß unsere Gerichte nicht Recht machen. Unser Recht wird uns durch die materiellen Gesetze [sic]. Diese Auffassung, welche sagt: Es bestehen schlechte Gesetze und darum wollen wir ein Gericht, um hier materielles Recht zu schaffen, diese Auffassung stellt sich auf einen völlig unösterreichischen Boden. Sie gibt den Gerichten gewissermaßen ein Recht, Gesetzesrecht zu machen, was vielleicht in England, wo Alles auf Präcedenzfälle angewiesen ist, angezeigt sein mag, aber mit den österreichischen Rechtsanschauungen meiner Meinung nach wenigstens nicht im Einklang steht.“ (Gautsch von Frankenthurn, Die Gesetze vom 22. Oktober 1875, RGBl. 36 und 37/1876, 178 ff, zitiert nach Friedrich Lehne, Rechtsschutz im öffentlichen Recht, in Adam Wandruszka [Hg], Die Habsburgmonarchie 1848–1918. Verwaltung und Rechtswesen [1975] 663 [700]) So ähnlich auch der damalige Justizminister Herbst in der Reichsratsdebatte zu § 35 des Reichsgerichtsorganisationsgesetzes mit der Aussage, dass das Reichsgericht „bloß das Gesetz in seiner Integrität zu wahren und zu erhalten hat“ (Stenographische Protokolle des Abgeordnetenhauses des Reichsrates, 161. Sitzung der 1. Session am 03.02.1869, 4907, zitiert nach W. R. Svoboda, Die tatsächliche Wirkung der Erkenntnisse des österreichischen Reichsgerichtes [1869–1918], ZöR 1971, 183 [184]).
Weder die unterschiedlichen Verfassungsentwürfe zum B-VG, noch die Diskussionen im Unterausschuss lassen eine Thematisierung bzw besser gesagt Problematisierung des Begriffes „Erkenntnis“ erahnen (siehe hierzu Felix Ermacora, Quellen zum Österreichischen Verfassungsrecht [1920]. Die Protokolle des Unterausschusses des Verfassungsausschusses samt Verfassungsentwürfen mit einem Vorwort, einer Einleitung und Anmerkungen [1967] insbes 365–370, 494–498, 556; sowie Georg Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung [1981] insbes 290 ff). Obwohl die Bezeichnung von Reichsgericht zu Verfassungsgerichtshof bewusst geändert wurde (siehe hierzu Gerald Stourzh, Hans Kelsen, die österreichische Bundesverfassung und die rechtsstaatliche Demokratie, in Hans Kelsen Institut [Hg], Die Reine Rechtslehre in wissenschaftlicher Diskussion [1982] 7 [27 ff]), und Kelsen selbst von „Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes“ allerdings von „Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes“ sprach (Hans Kelsen, Die Verfassung Deutschösterreichs, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 9 [1920] 245 [263]; ähnlich – allerdings zum Reichsgericht – Friedrich Lehne, Rechtsschutz im öffentlichen Recht, in Adam Wandruszka [Hg], Die Habsburgmonarchie 1848–1918. Verwaltung und Rechtswesen [1975] 663 [bspw 684, 690]), konnten keine Quellen erhoben werden, welche ein bewusstes Abweichen von der Bezeichnung „Erkenntnis“ erahnen hätten lassen. Letztendlich galt auch die Verfahrensordnung des österreichischen Reichsgerichts unverändert für den „deutsch-österreichischen Verfassungsgerichtshof“ und auch der „deutschösterreichische Verwaltungsgerichtshof [...] schließt sich womöglich noch enger als der Verfassungsgerichtshof an sein österreichisches Vorbild an.“ (Adolf Julius Merkl, Die Verfassung der Republik Deutschösterreich. Ein kritisch-systematischer Grundriß [1919] 155 f). Dies betrifft schlussendlich auch den Verfassungsgerichtshof. Folglich „erkennt“ gemäß Art 139 B-VG der VfGH ua über die Gesetzwidrigkeit von Verordnungen und gemäß Art 140 B-VG über die Verfassungskonformität der Gesetze.
Kurzum, die Terminologie Erkenntnis, dessen Etymologie bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht (siehe hierzu bspw Gerhard Köbler, Etymologisches Rechtswörterbuch [1995] 112 Erkenntnis), hat sich in Österreich bis heute gehalten – trotz einem eingangs in dieser Fußnote grundsätzlichen Bewusstsein dafür, dass Urteile gefällt und keine Erkenntnisse (ohne richterlichem Zutun) „erkannt“ werden.
Diese Terminologie wird in der Literatur meines Wissens – damals wie heute – nicht thematisiert. Siehe sowohl zum Reichsgericht als auch zum Verwaltungsgerichtshof und der Verwendung des Begriffs Erkenntnis bspw die Miscellen, Das österreichische Reichsgericht als umfassender Gerichtshof des öffentlichen Rechtes, Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft 1870, 193–199; Georg Jellinek, Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich (1885) 65, Fn 68 zu Erkenntnissen des Reichsgerichts (welcher allerdings auf Seite 66 von der „Urtheilsfällung“ und auf Seite 67 von „Judicaten“ des Reichsgerichts spricht); Rudolf Hoke, Österreichische und deutsche Rechtsgeschichte (1996) 403 f; Hanno Rebhan, Österreich wird Verfassungsstaat. Entstehung und Entwicklung moderner Verfassungsstaatlichkeit (1848–1918) (2012) 229, jeweils ohne besondere Thematisierung des Begriffes. Stefan G. Hinghofer-Szalkay, Verfassungsrechtswentwicklung aus rechtstatsächlicher Perspektive (2019) 257, hinterfrägt zwar „Das verfassungsrichterliche Urteil als ‚Erkenntnis‘ – eine Fiktion?“, geht allerdings diesbezüglich nicht auf den Ursprung dieses Begriffs ein.
Interessanterweise trifft dies nicht mehr auf den Obersten Gerichtshof zu, welcher zwar über das Recht erkennt, aber keine Erkenntnisse, sondern Urteile fällt (siehe hierzu bereits § 29 des kaiserlichen Patents vom 07.08.1850 zum Gesetz „über die Organisation des obersten Gerichts- und Kassationshofes in Wien“ (RGBl 325/1850), nach welchem der oberste Gerichts- und Kassationshof „Urtheile“ „Im Namen Seiner Majestät des Kaisers von Österreich“ ausspricht (wenn auch in § 3 von „Erkenntnisse der Oberlandesgerichte“ die Rede ist sowie § 31 auch von „Erkenntnisse[n] des obersten Gerichts- und Kassationshofes“ spricht). Siehe zu dessen Errichtung mittels Justiz-Ministerial Erlass JGS 1176 vom 21.08.1848. Vgl auch hierzu die „amtlichen Verlautbarung des Spruchrepertoriums und Judicatenbuches des obersten Gerichtshofes für das Gebiet des Zivilrechtes und Zivilprocesses“ sowie der „Sammlung strafrechtlicher Entscheidungen des obersten Gerichts- und Kassationshofes von 1850–1871“.
Etwas verwunderlich ist das deshalb, da

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