In den letzten Monaten hat die Politik ein Objekt wiederentdeckt, dem in den fünfziger und sechziger Jahren die Sozialwissenschaften viel Aufmerksamkeit gewidmet hatten: „die Mittelschicht“ - in dem etwas altertümlichen, aber offenbar im Alltag besser akzeptierten Sprachgebrauch als „Mittelstand“ bezeichnet. Während die dazumals intensive wissenschaftliche Diskussion über die Frage, ob sich die Sozialstruktur der westlichen wohlhabenden Industrieländer von der „Klassengesellschaft“ des 19. Jahrhunderts nach dem Zweiten Weltkrieg zur „nivellierten Mittelklassegesellschaft“ gewandelt hat, seit längerem abgeklungen ist, haben politische Diskussionen über die Verteilungswirkungen von Reformen im Bereich der sozialen Sicherungssysteme und der Sozialstaatsfinanzierung, zuletzt besonders der Einkommensteuer, der Thematik neue Aktualität verschafft. In Vorwahlzeiten ist es verständlich, dass sich die politische Auseinandersetzung dabei auf tatsächliche oder vermeintliche Benachteiligungen und Bevorzugungen durch Steuern und Beiträge konzentriert. Allerdings bewirkt dies eine beträchtliche Verengung der Sicht, wenn man sich nur bewusst macht, dass bei einer Quote des öffentlichen Konsums am Bruttoinlandsprodukt von 18 Prozent und der Transfers von 23,5 Prozent der Lebensstandard der Mittelschicht auch von der Ausgabenseite des öffentlichen Sektors abhängt.
