1. Einleitung
Savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir ("Wissen um vorherzusehen, vorhersehen, um handeln zu können").1) Ob Gesundheitsverhalten, Konsumverhalten oder kriminelles Verhalten: Erhebung, Vorhersage und Verhaltenskontrolle stellen seit jeher zentrale Forschungsinteressen einer Vielzahl an Disziplinen dar. Auch die Strafrechtswissenschaft setzt einen Fokus auf Verhaltensprognosen. Schließlich soll das Strafurteil nicht nur der Feststellung strafbaren Verhaltens dienen, sondern im Sinne moderner Straftheorien von Präventionsgedanken geleitet sein.2) Als Folge dieser Relevanz der Prävention – und dabei vor allem jener der Spezialprävention3) – ist die prognostizierte Wirkung gerichtlicher Reaktionen auf das Verhalten der individuellen Täter:innen damit integraler Bestandteil staatsanwaltlicher und gerichtlicher Praxis. Dabei handelt es sich um einen breiten Erkenntnisgegenstand, dessen Erfassung etwa im Rahmen der Strafzumessungsentscheidung auch laut der Richterschaft die Frage nach der Notwendigkeit der Interdisziplinarität spezialpräventiver Strafzumessungsentscheidungen in den Fokus rückt.4) Die Debatte über die Wichtigkeit eines solchen Einbezugs interdisziplinärer Erkenntnisse in das Strafverfahren geht dabei bereits bis ins 19.Jahrhundert zurück, in dem man – insbesondere bedingt durch die Einführung der freien Beweiswürdigung5) – begann für die Wahrheitsfindung ausschlaggebende nicht-juristische Fakten zur Beantwortung von Fragestellungen heranzuziehen. Eine Integration (natur-)wissenschaftlicher Disziplinen in die Strafenpraxis wurde etwa von Franz von Liszt und der kriminologischen Jungdeutschen Schule oder auch von Hans Gross und seinem Verständnis einer "wissenschaftlichen Kriminologie" propagiert.6) Ein modernes Beispiel dieser Bestrebungen stellt die Heranziehung psychiatrischen oder psychologischen Fachwissens – zumeist in Form von Sachverständigengutachten – als Grundlage des Schuld- und Strafausspruchs im Unterbringungsverfahren oder im Verfahren zur bedingten Entlassung dar. Dabei werden zur Risikoeinschätzung von Gewalttäter:innen häufig psychologischstatistische Verfahren, wie etwa der Violence-Risk-Appraisal-Guide-Revised (VRAG-R),7) verwendet. Diese an sich wünschenswerte, von der Interdisziplinarität spezialpräventiver Beweggründe bedungene8) Entwicklung von einer rein strafrechtsdogmatischen und auf Vergeltung bzw Schuldausgleich ausgerichteten Strafjustiz hin zu multi- bzw interdisziplinären Verfahren, birgt neben Chancen jedoch auch Herausforderungen.

