I.
In ihrem Roman "Desirée" erzählt Annemarie Selinko, wie der Vater der Protagonistin, der französische Seidenhändler François Clary, zur Zeit der Französischen Revolution ein Flugblatt mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte nach Hause bringt, und ihn seine Tochter fragt, ob die Menschenrechte nun jemals wieder ungültig werden können. Hierauf antwortet er: "Nein, ungültig können sie nicht werden. Aber abgeschafft, offen oder heimlich, und mit Füßen getreten. Jene jedoch, die sie mit Füßen treten, laden die größte Blutschuld der Geschichte auf sich. Wann immer und wo immer in späterer Zeit Menschen ihren Brüdern das Recht der Freiheit und Gleichheit nehmen- niemand wird von ihnen sagen: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Meine kleine Tochter, seit der Verkündigung der Menschenrechte wissen sie es nämlich genau."1) Mit diesen schönen (und völlig unjuristischen) Worten hat die Romanautorin Selinko im Grunde genommen genau erfasst, worum es 1789 wirklich ging: Die Erklärung der Menschenrechte führte, wie es der Historiker Wolfgang Schmale nunmehr in seiner umfassenden Untersuchung über die "Archäologie der Menschenrechte" auch eindrucksvoll nachgewiesen hat, "eine neue Bewußtseinsdimension in die Geschichte der Menschenrechte ein."2) Der Begriff der Menschenrechte war schon lange vorher bekannt und wurde in vielfältigster Weise verwendet.3) 1789 aber wurde mit der Kodifikation der Menschenrechte auch ein Standard festgelegt, an dem sich die gesamte weitere Entwicklung orientierte. Der "materielle Rechtsgehalt des Gemeinten" war demgegenüber weniger von Bedeutung.4)