Endlich ist es ein Irrthum zu glauben, die Urheber eines Gesetzbuches hätten die sicherste Kenntniß von seinem Inhalt.
Pfaff/Hofmann, Commentar zum österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche, Band I (1877) X
Pfaff und Hofmann waren die Ersten, die sich eingehend mit den Materialien zum ABGB beschäftigten. Die Begründer der historischen Interpretation in der österreichischen Zivilrechtswissenschaft weisen allerdings auch darauf hin, dass selbst ein vortrefflicher Legist wie Zeiller oft unzutreffende Vorstellungen von seinem ABGB hatte, und warnen vor einer unkritischen Materialiengläubigkeit. Diese Warnung scheint vergessen. Heute wird im juristischen Diskurs ein regelrechter Materialienkult betrieben und die Auslegung der Gesetze verkommt oft zur Exegese der Erläuternden Bemerkungen. Die Materialien liefern zwar wertvolle Hinweise zur Ermittlung des Gesetzessinns, sie sind aber nicht selbst Gesetz. Maßgebend für die Interpretation ist letzten Endes nicht die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten, sondern der im Gesetz selbst zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers - „der im Gesetz innewohnende Gedanke“ (Savigny). So formuliert der Präsident des BGH prägnant (Hirsch, Berliner Anwaltsblatt 2004, 612): „Es geht nicht darum, was sich der ,Gesetzgeber' - wer auch immer das sein mag - beim Erlass des Gesetzes ,gedacht hat', sondern darum, was er vernünftigerweise gewollt haben sollte.“ In Pfaffs und Hofmanns Zitat ist allerdings nicht die Aufforderung zu sehen, sich leichtsinnig über die Materialien hinweg zusetzten. Denn man glaubt es kaum: Nicht nur die Legisten, auch die Theorie kann irren.