Vor genau 20 Jahren ist der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union (damals noch: EG) wirksam geworden. Das hat zu vielfältigen Veränderungen geführt; speziell im materiellen Recht, aber nicht zuletzt auch in der Methodik der Rechtsanwendung. Man denke nur an neue Begriffe wie richtlinien- bzw europarechtskonforme Auslegung, gespaltene Auslegung oder Staatshaftung wegen mangelhafter Richtlinienumsetzung. Der vorliegende Beitrag1) beschäftigt sich mit der über die Auslegung ieS hinausgehenden, also „gesetzesübersteigenden“ Rechtsfindung und geht vor allem der Frage nach, ob sich die Grenzen dieser methodischen Rechtsfigur – und damit womöglich zugleich die anerkannte Contra-legem-Schranke2) – aufgrund des immer wieder betonten Vorrangs des Europarechts verändert haben. Dabei wird die – gelegentlich zu Unrecht in Zweifel gezogene3) – Prämisse zugrunde gelegt, dass eine Unterscheidung zwischen Auslegung und darüber hinaus gehender Rechtsfindung möglich und geboten ist, was für Österreich bereits die §§ 6 und 7 ABGB nahe legen.