I. Die moralische Problematik des Rechts
Das Recht ist zwar in den meisten Gesellschaften nur eines von mehreren Normensystemen, die das soziale Zusammenleben regeln, aber es nimmt unter diesen Normensystemen einen besonderen Platz ein. Denn erstens enthält das Recht die Normen, die für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung, für die Verteilung gesellschaftlicher Güter und Lasten und für die Regelung von Konflikten grundlegend sind: die Normen des Rechts regeln die Eigentumsverhältnisse und die Austauschbeziehungen zwischen den Menschen, sie legen die Machtpositionen der Individuen in ihrem Verhältnis zueinander fest, sie bestimmen die Rechte und Pflichten der Individuen und sie beschränken sie in ihrem gegenseitigen Verhalten. Zum anderen ist das Recht stets auch mit Institutionen – mit Gerichten, Behörden und Ämtern – verbunden, die über die Befugnis verfügen, den rechtlichen Normen durch die Ausübung von Zwang notfalls auch gegen den Willen der Betroffenen Geltung zu verschaffen. Während die Wirksamkeit der konventionellen Moral oder der Sitten und Gebräuche einer Gesellschaft weitgehend auf der freiwilligen Folgebereitschaft der meisten ihrer Mitglieder und auf dem informellen sozialen Druck beruht, den Regelverletzungen hervorrufen, bedient sich das Recht eigener Einrichtungen, die die rechtlichen Normen