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Ferdinand Hanusch, das Wahlrecht und die Sozialgesetze der Ersten Republik

Aus der Geschichte des Arbeitsrechts und des SozialrechtsGerhard Strejcek83)83)Für Mitarbeit und wertvolle Hilfe bei der Materialsuche und Abfassung des Artikels danke ich Herrn Mag. Bernhard Böhm vom Institut für Staats- und Verwaltungsrecht. Besonderen Dank schulde ich Frau Martina Pichler und Herrn Dr. Klaus-Dieter Mulley von der AK für die wissenschaftliche Unterstützung, den Horizont erweiternde Hinweise auf lesenswertes Schrifttum und die Zusammenarbeit. Danken möchte ich auch Herrn RA Ulrich Fischer (Frankfurt), dem Buchfreund, Autor (Arbeitsrechts- und Kafka-Experten) und erfolgreichen Advokaten, der mich auf das Thema gebracht hat.DRdA 2021, 442 Heft 5 v. 15.9.2021

1. Einleitung

Der aus Österreichisch-Schlesien stammende,1)1)Vgl zur Herkunft aus dem schlesischen Weberort Oberdorf bei Wigstadtl und zur Jugend Österreichische Gewerkschaftskommission (Hrsg), Ferdinand Hanusch, Der Mann und sein Werk (1924) 7 ff; ÖBL, Hanusch, Ferdinand (1866-1923), Politiker und Volksschriftsteller, biographien.ac.at (abgefragt am 12.1.2021); Göhring/Pellar, Ferdinand Hanusch. Aufbruch zum Sozialstaat (2003) 25 ff; heute liegt das alte Österreichisch-Schlesien großteils in Mähren in der Tschechischen Republik. sozialdemokratische Politiker und Autor Ferdinand Hanusch gilt als Architekt und Initiator mehrerer, bis heute besonders wichtiger Sozialgesetze der Ersten Republik. In seine Ära als Staatssekretär2)2)Auf Grund der Rumpfverfassung 1918/19 bestanden in der Republik nur Staatsämter, die aber die Aufgaben der späteren Bundesministerien nach dem Inkrafttreten des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) erfüllten. Von Oktober 1918 bis Juli 1920 amtierte Renner als Staatskanzler, die Staatssekretäre können daher zutreffend als "Minister", die Unterstaatssekretäre allenfalls als die Staatssekretäre im heutigen Sinn bezeichnet werden. der Regierung Renner (1918-20)3)3)Hanusch gehörte den Kabinetten an, die Renner führte und nach dem Wahlsieg im Februar 1919 umgestaltete. Anfang Juli löste Michael Mayr als Leiter der Staatskanzlei Renner ab, der Außenminister blieb. Hanusch leitete weiterhin das Sozialressort, das damals Staatsamt für soziale Fürsorge hieß. Er amtierte als Regierungsmitglied sohin von Oktober 1918 bis zum 22.10.1920, knapp zwei Jahre. Zu seiner weiteren Tätigkeit als Abgeordneter des NR auf Grund der Wahlen vom 17.10.1920 siehe weiter unten im Text. Für die nächste NR-Wahl 1923 konnte Hanusch nicht mehr kandidieren, da er bereits im Herbst des Wahljahres verstarb. sowie des von Mayr geleiteten Übergangskabinetts von Juli bis Oktober 1920 fielen Rechtsakte, die sich als prägend für das heutige Arbeits- und Sozialrecht erwiesen haben. Besonders imponieren dabei die rasche Gesetzwerdung und die effektive Umsetzung der Rechtsakte, die zum Teil von Verwaltungsorganen ausgingen, zum Teil aber in Gesetzesform von der Provisorischen Nationalversammlung (PrNV) und ab März 1919 von der Konstituierenden Nationalversammlung (KNV) beschlossen wurden.4)4)Dieses Phänomen kann nur auf klare Vorgaben und einen rechtstechnisch ausgefeilten Apparat von Legisten sowie kundigen BeraterInnen zurückgehen. Unter den Beamten im Staatssekretariat für soziale Fürsorge war der später auch in der AK (ab 1921 als Büroleiter) tätige, sowie biografisch zu Hanusch (ÖBL) ausgewiesene ehemalige Ministerialsekretär Edmund Palla. Des Weiteren ist Max Lederer (1874-1942) zu nennen, der sich als wertvoller juristischer Mitarbeiter erwies, als Sektionschef im Sozialministerium 1922 in Pension ging und ab 1929 einen Grundriss des Sozialrechts (weitere Auflagen in den Dreißigerjahren) vorlegte. Unter den als Expertinnen ausgewiesenen Frauen sind vor allem Käthe Leichter und Emmy Freundlich zu nennen; siehe zu all diesen Göhring/Pellar, Ferdinand Hanusch. Aufbruch zum Sozialstaat 91 ff, 203 und 305. Zu den frühen Rechtsakten zählen hier die Vollzugsanweisung des Staatsrates5)5)Unter einer Vollzugsanweisung ist rechtstechnisch eine (außenwirksame) Verordnung zu verstehen, wobei sich zwischen November 1918 und dem 9.11.1920 (ab dem Folgetag war das B-VG in Kraft) unterschiedliche Typen von Verordnungen entwickelten; die in der Folgefußnote zitierte ist eine gesetzesvertretende VO. zur Arbeitslosenunterstützung6)6)Vollzugsanweisung des Deutschösterreichischen Staatsrates vom 6.11.1918 betreffend die Unterstützung der Arbeitslosen, StGBl 1918/20. unmittelbar nach Kriegsende, die noch im Dezember 1918 erfolgte, und die gesetzliche Neufassung von Arbeitszeitregeln (8-Stunden-Tag im Industriesektor).7)7)Gesetz vom 19.12.1918 über die Einführung des achtstündigen Arbeitstages in fabriksmäßig betriebenen Gewerbeunternehmungen, StGBl 1918/138; Hanusch vertrat diese Vorlage souverän, die immerhin eine Verkürzung von drei Arbeitsstunden brachte (von elf auf acht); siehe StenProt 22.11.1918, 5. Sitzung der PrNV 362; vgl auch 23 BlgPrNV zur Vorlage. Der Staatssekretär für soziale Verwaltung begründete diese Maßnahmen mit der sich ausbreitenden Arbeitslosigkeit; siehe Berchtold, Verfassungsgeschichte der Republik Österreich: 15 Jahre Verfassungskampf (1998) 122. Der Beschluss des BetriebsräteG 19198)8)Gesetz vom 15.5.1919 betreffend die Errichtung von Betriebsräten, StGBl 1919/283. Zur bewegten Geschichte dieses Gesetzes in der KNV (Kompromiss hinsichtlich der "fabrikmäßigen", generellen Geltung und der Grenze von mindestens 20 AN) siehe Berchtold, Verfassungsgeschichte 169 und 121. ging bereits auf ein längeres Tauziehen mit den bürgerlichen Parteien und auf einen Kompromiss zurück, der zu außerparlamentarischen Protesten gegen die "Verwässerung" und damit auch zu einer ersten Koalitionskrise führte.9)9)Siehe auch hiezu Berchtold, Verfassungsgeschichte 168-172 ("Der Kampf um das Betriebsrätegesetz"). In einer wirtschaftspolitischen Gesamtbetrachtung gilt dennoch dieses Gesetz, das mit erwartbaren Einschränkungen (zB außerhalb von landwirtschaftlichen Mittelbetrieben) wirksam wurde, als eine der zentralen gesetzgeberischen Leistungen der Ära Hanusch.10)10)Das betont in einem Vergleich der Maßnahmen 1918-20 Gerlich, Die gescheiterte Alternative. Sozialisierung in Österreich nach dem 1. Weltkrieg (1980) 254.

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