VwGH 2008/22/0507

VwGH2008/22/050723.5.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, den Hofrat Dr. Robl und die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des O, vertreten durch Mag. Andreas Duensing, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schmerlingplatz 3, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 19. Dezember 2007, Zl. 148.353/4-III/4/07, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

31972R2760 ZusProt FinanzProt AssAbk Türkei Art41;
62011CJ0256 Dereci VORAB;
ARB1/80 Art13;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §21 Abs2;
31972R2760 ZusProt FinanzProt AssAbk Türkei Art41;
62011CJ0256 Dereci VORAB;
ARB1/80 Art13;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §21 Abs2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies der Bundesminister für Inneres (die belangte Behörde) den Antrag des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, vom 28. Jänner 2005 auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "begünstigter Drittsta.-Ö, § 49 Abs. 1 FrG" - im Hinblick auf seine österreichischen Adoptiveltern - gemäß § 21 Abs. 1 und 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Die belangte Behörde legte dieser Entscheidung im Wesentlichen die Feststellungen zugrunde, der Beschwerdeführer sei seit dem Jahr 2000 in Österreich aufhältig und habe am 30. Mai 2001 einen Asylantrag gestellt, welcher im Instanzenzug abgewiesen worden sei. Mit Beschluss des Bezirksgerichts W vom 24. September 2004 sei der Adoptionsvertrag zwischen dem Beschwerdeführer und dem österreichischen Ehepaar A genehmigt worden.

Bei Erstanträgen sei § 21 Abs. 1 und 2 NAG zu beachten. Der Beschwerdeführer sei aber nach Beendigung seines Asylverfahrens nicht ausgereist, sondern im Inland verblieben - was durch sein laufendes Arbeitsverhältnis und seine aufrechte Meldung in Wien bestätigt werde. Aufgrund seiner Volljährigkeit und daher mangelnder Zugehörigkeit zur Kernfamilie seiner Wahleltern iS des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG komme in seinem Fall die Ausnahmeregelung des § 21 Abs. 2 Z 1 NAG nicht zum Tragen. Da er sich seit dem In-Kraft-Treten des NAG unrechtmäßig im Inland aufhalte, stehe § 21 Abs. 1 NAG einer Bewilligung seines Antrags entgegen. Ein weiteres Eingehen auf seine persönlichen Verhältnisse, auch im Hinblick auf Art. 8 EMRK, sei daher entbehrlich.

Eine amtswegige Zulassung der Inlandsantragstellung gemäß § 72 iVm § 74 NAG komme nicht in Frage, weil in seinem Fall kein besonders berücksichtigungswürdiger Grund vorliege. Auch die Wahleltern stellten "keinen verwertbaren humanitären Grund dar, zumal (sein) Aufenthalt seit Abschluss des Asylverfahrens noch immer unrechtmäßig" sei. Schließlich führte die belangte Behörde aus, dass die Wahleltern nicht von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätten, weshalb nicht von einem "bestehenden Niederlassungsrecht" des Beschwerdeführers auszugehen sei und auch die Grundvoraussetzung für die Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte nicht gegeben sei. Die Anwendbarkeit des ARB (siehe im Folgenden) auf den Beschwerdeführer stellte die belangte Behörde mit der Begründung in Abrede, dass er einerseits von Österreichern adoptiert worden sei, während sich Art. 7 ARB Nr. 1/80 ausdrücklich auf Familienmitglieder türkischer Arbeitnehmer beziehe und andererseits aufgrund der bloß vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung aufgrund des Asylgesetzes der Beschwerdeführer keine Rechte aus Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich ARB ableiten könne.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach ihrer Abtretung zur Entscheidung durch den Verfassungsgerichtshof, welcher die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 5. März 2008, B 122/08-4, abgelehnt hatte, und auftragsgemäßer Ergänzung nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Der gegenständliche Fall gleicht vor dem Hintergrund der Ausführungen des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) im Urteil vom 15. November 2011, C-256/11 , darin, dass die belangte Behörde in Verkennung der durch den EuGH nunmehr klargestellten Rechtslage nicht anhand des unionsrechtlich vorgegebenen Maßstabes geprüft hat, ob der vorliegende Fall einen solchen Ausnahmefall, wonach es das Unionsrecht gebietet, dem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt zu gewähren, darstellt, jenem Fall, der dem hg. Erkenntnis vom 19. Jänner 2012, Zl. 2011/22/0312, zu Grunde lag. Gemäß § 43 Abs. 2 VwGG wird sohin insoweit auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen. Auch im vorliegenden Fall wird die belangte Behörde dazu im fortzusetzenden Verfahren nach Einräumung von Parteiengehör - diese Frage ist nicht mit der Beurteilung nach Art. 8 EMRK gleichzusetzen und war bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens - entsprechende Feststellungen zu treffen haben.

Der angefochtene Bescheid war daher schon deswegen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - aufheben.

Im fortgesetzten Verfahren wird sich die belangte Behörde ferner mit der Frage auseinandersetzen und Feststellungen dazu treffen müssen, ob dem Beschwerdeführer im Sinn des bereits zitierten Urteils des EuGH vom 15. November 2011 die Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (kurz: ARB) bzw. des Art. 41 Abs. 1 des mit der Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen zugutekommen könnten. Beide Stillhalteklauseln entfalten unmittelbare Wirkung und schließen bezüglich der in ihren Geltungsbereich fallenden türkischen Staatsangehörigen die Anwendbarkeit aller neu eingeführten Beschränkungen aus (vgl. dazu u. a. die hg. Erkenntnisse vom 13. Dezember 2011, Zl. 2008/22/0180, oder vom 19. Jänner 2012, Zl. 2008/22/0837).

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 23. Mai 2012

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