Normen
61997CJ0329 Ergat VORAB;
ARB1/80 Art7;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
FrPolG 2005 §9 Abs1 Z1;
61997CJ0329 Ergat VORAB;
ARB1/80 Art7;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
FrPolG 2005 §9 Abs1 Z1;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem zitierten, im Instanzenzug ergangenen Bescheid erließ der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol (die belangte Behörde) gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, gemäß § 86 Abs. 1 iVm § 63 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von fünf Jahren.
Die belangte Behörde legte ihrer Entscheidung im Wesentlichen die Feststellungen zugrunde, dass der Beschwerdeführer im März 2002 im Alter von fünfzehneinhalb Jahren im Rahmen der Familienzusammenführung nach Österreich eingereist sei und seither im Bundesgebiet lebe. Er wohne mit seinem Vater, seiner Mutter und zwei Geschwistern gemeinsam in einer Wohnung in V.; er selbst sei ledig und habe keine Sorgepflichten. Der Vater des Beschwerdeführers sei seit 2006 österreichischer Staatsbürger, seine Mutter sei türkische Staatsangehörige.
Mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 18. Juli 2005 sei der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach den §§ 127, 130 erster Fall StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe von 300 Tagessätzen verurteilt worden, wovon 200 Tagessätze bedingt nachgesehen worden seien. Der Beschwerdeführer habe in der Zeit von Anfang Februar bis 26. April 2005 Verfügungsberechtigten der M.H. AG ca. 10 bis 15 Zeitungskassen samt Bargeld in EUR 3.000,-- nicht übersteigender Höhe mit dem Vorsatz weggenommen, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wobei er die Taten in der Absicht begangen habe, sich durch ihre wiederkehrende Begehung eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen.
Mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 16. Oktober 2006 sei der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen verurteilt worden. Er habe am 29. Mai 2005 T.H. am Körper verletzt, indem er sie zu Boden gestoßen habe, wodurch sie Schürfwunden an den Schulterblättern, am linken Ellenbogen, am linken Oberschenkel und am rechten Zeh erlitten habe; weiters habe er am 22. Juli 2006 M.F. mit Gewalt zur Duldung eines Zungenkusses genötigt, indem er sie an sich gezogen und festgehalten habe und mit seiner Zunge gegen ihren Willen in ihren Mund eingedrungen sei.
In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer die Voraussetzungen des Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG - Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (in der Folge: ARB Nr. 1/80) erfülle, sodass auf ihn § 9 Abs. 1 Z. 1 FPG anzuwenden und daher der unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung über die vorliegende Berufung zuständig sei.
Die belangte Behörde erachtete - unter Wiedergabe der Bestimmungen u.a. der §§ 56, 60 Abs. 1, 61, 63, 66 und 86 Abs. 1 FPG - die Gefährlichkeitsprognose nach § 86 Abs. 1 (erster bis vierter Satz) FPG als gerechtfertigt, verneinte das Vorliegen eines der "Aufenthaltsverbots-Verbote" gemäß § 61 Z. 1 bis 4 FPG und nahm die Interessenabwägung nach § 66 Abs. 1 und 2 iVm § 60 Abs. 6 FPG zu Lasten des Beschwerdeführers vor.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:
Die Beschwerde macht Unzuständigkeit der belangten Behörde geltend und weist dazu darauf hin, dass dem Vater des Beschwerdeführers im Jahr 2006 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen worden sei; zudem sei der Beschwerdeführer kein begünstigter Drittstaatsangehöriger (im Sinn des § 2 Abs. 4 Z. 11 FPG), weil er über 21 Jahre alt sei und selbst seinen Unterhalt verdiene.
Nach ständiger hg. Rechtsprechung ist es geboten, für türkische Staatsangehörige, denen die Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 ARB Nr. 1/80 zukommt, den Instanzenzug zu einem Tribunal einzurichten und somit auf sie § 9 Abs. 1 Z. 1 FPG anzuwenden (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 27. Juni 2006, 2006/18/0138, sowie vom 19. Juni 2008, 2007/18/0229).
Die Berechtigung nach Art. 7 Satz 1 erster Spiegelstrich ARB Nr. 1/80 hängt vom Vorliegen der folgenden Voraussetzungen ab:
1. Der Betroffene muss ein Familienangehöriger des türkischen Arbeitnehmers sein,
2. Letzterer muss dem regulären Arbeitsmarkt des Mitgliedstaates angehören,
3. der Familienangehörige muss die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, und
4. er muss in diesem Mitgliedstaat seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz über drei Jahre haben (vgl. Akyürek, Das Assoziationsabkommen EWG - Türkei 92f).
Diese Voraussetzungen lagen hinsichtlich des Beschwerdeführers, der nach den unbekämpften Feststellungen des Erstbescheides schon ab 2002 über Aufenthaltstitel verfügte, angesichts der oben wiedergegebenen in der Beschwerde nicht bestrittenen Feststellungen des angefochtenen Bescheides jedenfalls mit Ablauf des Monats März im Jahr 2005 vor.
Dass der Vater des Beschwerdeführers im Jahr 2006 die österreichische Staatsbürgerschaft erwarb, ist - entgegen der in der Beschwerde offenbar vertretenen Auffassung - nicht von Relevanz, weil sich ab dem Zeitpunkt der Verwirklichung der Voraussetzungen des Art. 7 ARB Nr. 1/80 mit dem Recht des Betroffenen auf Beschäftigung auch dessen Recht auf Aufenthalt verselbständigt (Akyürek a.a.O. 128; vgl. das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 16. März 2000, Rechtssache C-329/97 , Sezgin Ergat gegen Stadt Ulm).
Da dem Beschwerdeführer somit die Berechtigung nach Art. 7 Satz 1 erster Spiegelstrich ARB Nr. 1/80 zukommt und er daher im Sinn der zitierten hg. Rechtsprechung Anspruch auf ein Verfahren vor einem Tribunal hat, kommt es auf seine Qualifikation als "begünstigter Drittstaatsangehöriger" im Sinn des § 2 Abs. 4 Z. 11 FPG gar nicht an, sodass gegen die Zuständigkeit der belangten Behörde keine Bedenken bestehen.
Die Beschwerde bringt weiters vor, dass die Bezirkshauptmannschaft S dem Beschwerdeführer im März 2007 eine "Niederlassungsbewilligung unbeschränkt" erteilt habe, obwohl sie in voller Kenntnis der strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers gewesen sei. Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg.
Gemäß § 61 Z. 2 FPG darf nämlich ein Aufenthaltsverbot nicht erlassen werden, wenn eine Ausweisung gemäß § 54 Abs. 1 FPG wegen des maßgeblichen Sachverhaltes unzulässig wäre. § 54 Abs. 1 FPG sieht vor, dass Fremde, die sich auf Grund eines Aufenthaltstitels oder während eines Verlängerungsverfahrens im Bundesgebiet aufhalten, dann mit Bescheid ausgewiesen werden können, wenn nachträglich ein Versagungsgrund eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels entgegengestanden wäre (Z. 1), oder der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund entgegensteht (Z. 2).
Aus den Verwaltungsakten geht hervor, dass dem Beschwerdeführer am 6. März 2007 durch die Bezirkshauptmannschaft S - die auch die Erstbehörde des Aufenthaltsverbotsverfahrens ist - eine "Niederlassungsbewilligung - unbeschränkt", gültig vom 4. März 2007 bis 2. März 2008, erteilt wurde; darauf wird in den Feststellungen des erstinstanzlichen Aufenthaltsverbotsbescheides vom 25. Juni 2007 auch hingewiesen.
Nach einem Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft S vom 11. September 2006 war diese in Kenntnis der rechtskräftigen Verurteilung des Beschwerdeführers durch das Landesgericht Innsbruck vom 18. Juli 2005 wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen Diebstahls und in Kenntnis des Verdachtes der geschlechtlichen Nötigung in zwei Fällen gegen den Beschwerdeführer. Am 10. Jänner 2007 langte bei der Bezirkshauptmannschaft S eine Ausfertigung des - damals noch nicht rechtskräftigen - Strafurteils des Landesgerichtes Innsbruck vom 16. Oktober 2006 ein.
Ein Aufenthaltsverbot darf allerdings dann nicht erlassen werden, wenn in Kenntnis der Sachlage eine Aufenthaltsbewilligung erteilt worden ist (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 10. Dezember 2008, 2008/22/0567, und vom 3. April 2009, 2008/22/0608).
Da der Bezirkshauptmannschaft S, als sie dem Beschwerdeführer am 6. März 2007 einen Aufenthaltstitel ausstellte, dessen strafgerichtliche Verurteilungen bereits bekannt waren, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.
Wien, am 14. Mai 2009
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