VwGH 2006/20/0414

VwGH2006/20/041426.5.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak sowie die Hofrätin Dr. Pollak, die Hofräte MMag. Maislinger und Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Mag. Rehak als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hahnl, über die Beschwerde der Bundesministerin für Inneres in 1014 Wien, Herrengasse 7, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 19. Juni 2006, Zl. 265.255/1-II/04/06, betreffend § 66 Abs. 2 AVG (mitbeteiligte Partei: J), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §66 Abs2;
AVG §68 Abs1;
Dubliner Übk 1997 Art10 Abs1 lite;
Dubliner Übk 1997 Art10 Abs4;
Dubliner Übk 1997 Art3 Abs2;
Dubliner Übk 1997 Art3 Abs4;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AVG §66 Abs2;
AVG §68 Abs1;
Dubliner Übk 1997 Art10 Abs1 lite;
Dubliner Übk 1997 Art10 Abs4;
Dubliner Übk 1997 Art3 Abs2;
Dubliner Übk 1997 Art3 Abs4;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Bescheid des Bundesasylamtes vom 4. Oktober 2005, mit dem der Asylantrag der Mitbeteiligten abgewiesen, ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation für zulässig erklärt und sie dorthin ausgewiesen worden war, gemäß § 66 Abs. 2 AVG behoben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

Begründend führte die belangte Behörde aus, es sei im erstinstanzlichen Verfahren hervorgekommen, dass sich die Beschwerdeführerin bis 12. Mai 2004 in Schweden aufgehalten habe und nach Abweisung des dort gestellten Asylantrags über Dänemark und Deutschland nach Österreich eingereist sei. Dem erstinstanzlichen Akt sei jedoch "nicht zu entnehmen, dass das Bundesasylamt, wie der Berufungswerberin am 17.5.2004 angekündigt, Schritte zur Erlangung der 'Zustimmung des Staates Schweden' zur Wahrnehmung von dessen Zuständigkeit" unternommen hätte. Vielmehr sei der Beschwerdeführerin am 3. Juni 2004 mitgeteilt worden, dass ihr Asylverfahren zulässig sei.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde unter Bezugnahme auf frühere Bescheide aus, Art. 3 Abs. 2 des - im vorliegenden Fall noch anzuwendenden - Dubliner Übereinkommens (DÜ) schließe es aus, dass ein Asylantrag von mehr als einem Mitgliedstaat geprüft werde. Demnach entfalte eine (rechtskräftige) Entscheidung eines Mitgliedstaates dieselbe Sperrwirkung wie gemäß § 68 Abs. 1 AVG ein inländischer rechtskräftiger Bescheid und es bestehe kein Recht zum Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 4 DÜ. Zur Klärung der Frage, "ob tatsächlich, so wie von der Berufungswerberin angegeben, ein früherer Asylantrag der Berufungswerberin bereits, nach Durchlaufen eines zweigliedrigen Instanzenzuges, in Schweden rechtskräftig abgewiesen worden sei (ohne Erlöschen der hieraus für Schweden resultierenden Verpflichtungen nach Art. 10 Abs. 4 des Dubliner Übereinkommens)", sei die Angelegenheit daher an das Bundesasylamt zurückzuverweisen gewesen.

Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Amtsbeschwerde, die im Wesentlichen geltend macht, das DÜ treffe "keinerlei Aussagen über eine mögliche extraterritoriale Wirkung einer nationalen Asylentscheidung" und sehe "weder für negative noch positive Entscheidungen eine Bindungswirkung für die anderen Vertragsstaaten vor". Die Mitbeteiligte äußerte sich dazu nicht.

Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde über die Beschwerde erwogen:

Die im vorliegenden Fall noch anzuwendenden relevanten Bestimmungen des Dubliner Übereinkommens (DÜ) lauten wie folgt:

"Artikel 3

(1) Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, jeden Asylantrag zu prüfen, den ein Ausländer an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates stellt.

(2) Dieser Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat gemäß den in diesem Übereinkommen definierten Kriterien geprüft. ...

(3) Der Antrag wird von diesem Staat gemäß seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften und seinen internationalen Verpflichtungen geprüft.

(4) Jeder Mitgliedstaat hat unter der Voraussetzung, dass der Asylbewerber diesem Vorgehen zustimmt, das Recht, einen von einem Ausländer gestellten Asylantrag auch dann zu prüfen, wenn er auf Grund der in diesem Übereinkommen definierten Kriterien nicht zuständig ist. ...

...

Artikel 10

(1) Der Mitgliedstaat, der nach den in diesem Übereinkommen definierten Kriterien für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, ist verpflichtet:

  1. a) ...
  2. b) ...
  3. c) ...
  4. d) ...
  5. e) den Ausländer, dessen Antrag er abgelehnt hat und der sich illegal in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, gemäß den Bestimmungen des Artikels 13 wieder aufzunehmen.

(2) ...

(3) ...

(4) Die Pflichten gemäß Absatz 1 Buchstaben d) und e) erlöschen, wenn der für die Prüfung des Asylantrags zuständige Staat nach der Rücknahme bzw. der Ablehnung des Antrags die erforderlichen Maßnahmen getroffen und durchgeführt hat, damit der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt oder sich in ein anderes Land, in das er rechtmäßig einreisen darf, begibt."

Der belangten Behörde ist darin zuzustimmen, dass es primäre Zielsetzung des DÜ ist, jedem Asylwerber nur ein einziges Asylverfahren durch die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften einzuräumen und die mehrfache Asylantragstellung in verschiedenen Mitgliedstaaten ("asylum shopping") zu verhindern (vgl. Schmid/Bartels, Handbuch zum Dubliner Übereinkommen (2001), 31). Dieses Anliegen findet seinen Niederschlag vor allem in Art. 3 Abs. 2 DÜ, der festlegt, dass der Asylantrag von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft wird. Dementsprechend sieht Art. 10 Abs. 1 lit. e DÜ vor, dass jener Mitgliedstaat, der nach den in diesem Übereinkommen definierten Kriterien für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist und den Antrag bereits abgelehnt hat, unbeschadet der Ausnahmefälle des Art. 10 Abs. 4 DÜ verpflichtet ist, den in einem anderen Mitgliedstaat illegal aufhältigen Asylwerber wieder aufzunehmen. Hat der Asylwerber in dem anderen Mitgliedstaat - wie im vorliegenden Fall - einen weiteren Asylantrag eingebracht, so kann er, sofern die Zuständigkeit des Erststaates nicht gemäß Art. 10 Abs. 4 DÜ erloschen ist, dorthin ohne neue Prüfung des Asylantrags zurückgeführt werden. Darauf ist die "extraterritoriale Wirkung" von Asylentscheidungen anderer Mitgliedstaaten im Dublin-Verbund aber beschränkt. Unbeschadet des im DÜ festgelegten "one chance only"-Prinzips (vgl. Schmid/Bartels, a.a.O.) kann daraus eine Pflicht des nach den Kriterien des DÜ unzuständigen Staates, in dem sich der Asylwerber befindet, sich jedenfalls für unzuständig zu erklären und den Asylwerber in den zuständigen Staat zu überstellen, - schon angesichts des Rechts (bzw. unter bestimmten, in den Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofes vom 8. März 2001, G 117/00 u.a., und des Verwaltungsgerichtshofes vom 23. Jänner 2003, Zl. 2000/01/0498, dargelegten Voraussetzungen sogar der Pflicht) zum Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 4 DÜ - jedoch nicht abgeleitet werden.

Sind Asylentscheidungen anderer Mitgliedstaaten aber schon im Hinblick auf die Zuständigkeit nicht bindend, so kann dem DÜ eine Sperrwirkung abweisender ausländischer Asylentscheidungen in dem von der belangten Behörde angedachten Sinn - dass nämlich ein in einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig abgewiesener Asylantrag zur Zurückweisung eines in Österreich gestellten Folgeantrags wegen entschiedener Sache führe - umso weniger entnommen werden.

Der angefochtene Bescheid, mit dem dem Bundesasylamt aufgetragen wurde, im Hinblick auf eine Zurückweisung des Asylantrags der Beschwerdeführerin gemäß § 68 Abs. 1 AVG zu klären, ob ein von ihr früher gestellter Asylantrag in Schweden bereits rechtskräftig abgewiesen worden war, beruht somit auf einer unzutreffenden Rechtsansicht.

Er war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 26. Mai 2009

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