VwGH 90/10/0122

VwGH90/10/012222.3.1991

Der Verwaltungsgerichtshof hat über den Antrag der N in A, vertreten durch Dr. S, Rechtsanwalt in W, auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Ergänzung der Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesministers für Gesundheit und öffentlicher Dienst vom 22. Dezember 1989, Zl. 562.054/2-VI/15-1989, betreffend Nichterteilung einer Konzession zur Errichtung und zum Betrieb einer neuen öffentlichen Apotheke in G, den Beschluß gefaßt:

Normen

AVG §71 Abs1 lita impl;
AVG §71 Abs1 lita;
VwGG §46 Abs1;
VwRallg;
AVG §71 Abs1 lita impl;
AVG §71 Abs1 lita;
VwGG §46 Abs1;
VwRallg;

 

Spruch:

Gemäß § 46 Abs. 1 VwGG wird dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stattgegeben.

Begründung

1.1. Mit der am 18. Mai 1990 dem rechtsfreundlichen Vertreter der Antragstellerin zugestellten Verfügung des Verwaltungsgerichtshofes wurde der Antragstellerin in ihrer Beschwerdesache zu Zl. 90/10/0040 die Vorlage eines Nachweises über die Bevollmächtigung des Rechtsanwaltes aufgetragen.

Die Mängelbehebungsfrist von 2 Wochen ist ungenützt verstrichen.

Mit Beschluß vom 18. Juni 1990, Zl. 90/10/0040-5, stellte der Verwaltungsgerichtshof das Beschwerdeverfahren gemäß §§ 34 Abs. 2 und 33 Abs. 1 VwGG ein.

1.2. Mit Eingabe vom 13. Juni 1990, zur Post gegeben am 15. Juni 1990, beantragte die Beschwerdeführerin die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und holte die versäumte Prozeßhandlung nach. Nach der Antragsbegründung sei die 2-wöchige Mängelbehebungsfrist am Freitag dem 1. Juni 1990 abgelaufen und ordnungsgemäß im Kalender der Anwaltskanzlei vermerkt gewesen. Der Vorlageschriftsatz sei am 30. Mai 1990 geschrieben, zur Abfertigung vorbereitet, vom Rechtsanwalt am späten Abend des 30. Mai 1990 (Mittwoch) geprüft, unterfertigt und zwecks Posterledigung für den 31. Mai 1990 (Donnerstag) an die zuständige Kanzleikraft weitergegeben worden. Am 31. Mai 1990 habe sich der einschreitende Rechtsfreund - wie gewöhnlich - vergewissert, daß die beauftragten Fristerledigungen bürotechnisch gemäß seiner internen Kanzleiordnung ordnungsgemäß abgewickelt worden seien. Er habe festgestellt, daß die Vollmachtsvorlage bereits zur Postaufgabe fertig gemacht gewesen sei, weshalb er sicher habe annehmen können, "daß dies gemeinsam mit den übrigen Poststücken noch am 31. Mai 1990 weisungsgemäß aufgegeben werde".

Die beauftragte und bis dahin äußerst zuverlässige Kanzleikraft sei an diesem Tag mit schwerwiegenden persönlichen Problemen belastet gewesen, was dann auch zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses geführt habe und was dem einschreitenden Rechtsfreund in dieser Tragweite jedoch erst im Nachhinein bekannt geworden sei. Diese Kanzleikraft habe auch das Poststück mit der Vollmachtsvorlage entsprechend vorbereitet, aber offensichtlich auf Grund ihrer persönlichen Belastung nicht tatsächlich aufgegeben; sie sei darüberhinaus am 1. Juni 1990 (Freitag) nicht in der Kanzlei erschienen, weshalb erst am 5. Juni 1990 - Dienstag nach Pfingsten - das nichtaufgegebene Poststück von der Kanzleileiterin vorgefunden worden sei. Dem einschreitenden Rechtsanwalt liege jedenfalls nur ein Versehen minderen Grades zur Last.

2.0. Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 1 lit. e VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen:

2.1. § 46 Abs. 1 VwGG in der Fassung BGBl. Nr. 564/1985 lautet:

"Wenn eine Partei durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis - so dadurch, daß sie von einer Zustellung ohne ihr Verschulden keine Kenntnis erlangt hat - eine Frist versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet, so ist dieser Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen. Daß der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt."

2.2.1. Die Wiedereinsetzung ist gemäß § 46 Abs. 1 VwGG 1965 auch zu bewilligen, wenn eine Frist durch ein Verhalten von Angestellten des Bevollmächtigten der Partei versäumt wurde, es sei denn, es läge ein Verschulden der Partei vor (vgl. den hg. Beschluß eines verstärkten Senates vom 25. März 1976, Slg. N.F. Nr. 9024/A = ZfVB 1976/3/521). Dem Verschulden der Partei selbst ist das Verschulden ihres Vertreters gleichzustellen (vgl. zu dieser im eben genannten Beschluß nicht beantworteten Frage den hg. Beschluß eines verstärkten Senates vom 19. Jänner 1977, Slg. N.F.

Nr. 9226/A = ZfVB 1977/4/1535).

Ein Versehen einer Kanzleibediensteten stellt jedoch für einen Rechtsanwalt und damit für die von diesem vertretene Partei nur dann ein unvorhergesehenes und unabwendbares Ereignis dar, wenn der Rechtsanwalt der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht gegenüber seinen Angestellten hinreichend nachgekommen ist (vgl. den eben zitierten hg. Beschluß).

Ein unverschuldetes und entweder unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis läge für den einen Beschwerdeführer rechtsfreundlich vertretenden Rechtsanwalt dann nicht vor, wenn er es an der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht der Kanzleiangestellten hätte fehlen lassen. Grundsätzlich muß in diesem Zusammenhang davon ausgegangen werden, daß die Organisation des Kanzleibetriebes eines Rechtsanwaltes so einzurichten ist, daß unter anderem auch die vollständige und fristgerechte Erfüllung von Mängelbehebungsaufträgen, die ja bereits das Vorliegen einer zumindest zum Teil nicht den gesetzlichen Vorschriften entsprechenden Eingabe zur Grundlage haben, gesichert erscheint. Die anwaltliche Sorgfalstspflicht umfaßt in einem solchen Fall auch die geeignete Überwachung des Fertigmachens der Postsendung zur Abgabe und die Überprüfung der Vollständigkeit der an den Verwaltungsgerichtshof in Befolgung des Verbesserungsauftrages zu übermittelnden Aktenstücke (vgl. hiezu die hg. Beschlüsse vom 5. März 1979, Zl. 298/79 = ZfVB 1979/5/2074, und vom 27. Jänner 1983, Zl. 82/08/0205 = ZfVB 1983/6/2792).

In zahlreichen Fällen hat der Verwaltungsgerichtshof ein (dem Vertretenen zuzurechnendes) Verschulden des Vertreters, insbesondere eines Rechtsanwaltes, angenommen, wenn es der Vertreter unterlassen hatte, geeignete organisatorische Vor sorgen im Kanzleibetrieb zu treffen und die Einhaltung dieser Anordnungen entsprechend zu überwachen (vgl. unter anderem den hg. Beschluß eines verstärkten Senates vom 19. Jänner 1977, Slg. N.F. Nr. 9226/A, die hg. Erkenntnisse vom 23. Jänner 1978, Zlen. 1895 ff/77 = ZfVB 1978/4/1612, betreffend nicht erfolgte Postaufgabe, und vom 30. Juni 1978, Zl. 77/78 = ZfVB 1979/2/552, sowie den hg. Beschluß vom 5. März 1979, Zl. 298/79 = ZfVB 1979/5/2074; siehe im übrigen auch die hg. Erkenntnisse vom 27. April 1981, Zlen. 81/17/0051, 0056, und vom 22. September 1983, Zl. 83/08/0108 = ZfVB 1984/3/1184).

2.2.2. An dieser Aufsichts- und Kontrollpflicht eines Rechtsanwaltes hat sich auch durch die Neufassung des § 46 Abs. 1 VwGG auf Grund des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 564/1985 nichts geändert. Es ist daher in derartigen Fällen weiterhin ausschlaggebend, ob der Rechtsanwalt der genannten Verpflichtung entsprochen hat, wobei der Unterschied zur früheren Rechtslage lediglich darin besteht, daß dann, wenn ein Verschulden des Rechtsanwaltes hervorkommt, nunmehr noch zusätzlich zu klären ist, ob es sich hiebei nicht um einen minderen Grad des Versehens handelte. Der - aus der Zivilprozeßordnung in der Fassung der Zivilverfahrensnovelle 1983 übernommene - Begriff des minderen Grades des Versehens wird im Bereich der Zivilprozeßordnung, z. B. von Fasching im Lehrbuch des österreichischen Zivilprozesses, Randzahl 580, als leichte Fahrlässigkeit im Sinne des § 1332 ABGB verstanden. Der Wiedereinsetzungswerber oder sein Vertreter dürfe also nicht auffallend sorglos gehandelt haben, somit die im Verkehr mit Gerichten und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt außer acht gelassen haben.

Im Wiedereinsetzungsantrag ist auch im Falle einer behaupteten Fehlleistung eines Kanzleiangestellten darzutun, daß die dem Rechtsanwalt obliegenden Aufsichts- und Kontrollpflichten eingehalten wurden (vgl. den hg. Beschluß vom 22. Oktober 1987, Zl. 87/08/0256 = ZfVB 1988/3/1081).

2.2.3. Der Verwaltungsgerichtshof hat es in seiner bisherigen Rechtsprechung nicht als zweckmäßige und zumutbare Kontrollmaßnahme angesehen, daß sich der Rechtsanwalt nach Übergabe sämtlicher Schriftstücke an die bisher bewährte Kanzleikraft in jedem Fall noch von der tatsächlichen Durchführung der Expedierung der Sendung, etwa durch nochmalige Vorlage des Handaktes, überzeugt, zumal auch eine solche Maßnahme in vielen Fällen nicht zielführend erschiene, z.B. bei der durchaus zulässigen Erledigung am letzten Tag der Frist oder beim Vertauschen von Schriftstücken oder Beilagen mehrerer Postsendungen (vgl. die hg. Beschlüsse vom 27. Jänner 1983, Zl. 82/08/0205 = ZfVB 1983/6/2792, und vom 22. September 1983, Zl. 83/08/0108 =ZfVB 1984/3/1184).

2.2.4. Der Verwaltungsgerichtshof hält an dieser Rechtsprechung fest - allein, dem vorliegenden Wiedereinsetzungsantrag liegt ein anderer Sachverhalt zugrunde. Die Mängelbehebungsfrist wäre am 1. Juni 1990 (Freitag vor Pfingsten) abgelaufen. Nach der Darstellung des Sachverhaltes im Wiedereinsetzungsantrag erfolgte der Auftrag des einschreitenden Rechtsanwaltes an die Kanzleikraft und die Weitergabe des unterfertigten Schriftsatzes an diese "zwecks Posterledigung für den 31. Mai 1990" am 30. Mai 1990 (Mittwoch). Das Schriftstück sollte "gemeinsam mit den übrigen Poststücken noch am 31. Mai 1990 weisungsgemäß aufgegeben" werden. Darauf habe der Vertreter der Wiedereinsetzungswerberin vertrauen dürfen.

Nun erschien aber diese Kanzleikraft am 1. Juni 1990 (Freitag) nicht im Dienst. Dennoch wurde offensichtlich erst am 5. Juni 1990 (Dienstag nach Pfingsten) geprüft, was der Stand der übernommenen und begonnenen Arbeiten dieser Kanzleikraft gewesen ist, und dabei wurde das nichtaufgegebene Poststück von der Kanzleileiterin vorgefunden.

Es gehört nun einerseits zweifellos zu den selbstverständlichen organisatorischen Vorkehrungen in einer Rechtsanwaltskanzlei, sicherzustellen, daß die einem Kanzleiangestellten übertragenen (insbesondere fristgebundenen) Arbeiten im Falle einer Dienstverhinderung oder einem sonstigen Fernbleiben desselben vom Dienst fortgeführt werden, zumindest aber daß der Stand der Erledigung geprüft wird. Wäre diese Kontrollmaßnahme am 1. Juni erfolgt, hätte die Versäumung der Frist vermieden werden können.

Andererseits darf ein Rechtsanwalt grundsätzlich darauf vertrauen, daß der einem Kanzleiangestellten für einen bestimmten Tag angeordnete, bloß manipulative Vorgang der Postaufgabe eines Schriftstückes tatsächlich erfolgt ist, ohne daß es nach der Rechtsprechung zunächst einer weiteren Kontrolle bedürfte. Der Vertreter der Antragstellerin hätte also den Auftrag grundsätzlich als am 31. Mai erledigt betrachten dürfen. Nun aber erschien die beauftragte Kanzleiangestellte am 1. Juni nicht im Dienst. Darin, daß dem Rechtsanwalt nicht schon an diesem Tag der Zweifel kam, es könnte auch die für den Vortag (31. Mai) angeordnete Postaufgabe unterblieben sein, und er nicht schon am 1. Juni eine entsprechende Überprüfung durchführte, ist nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes eine Verletzung der Sorgfaltspflicht gelegen. Der Gerichtshof beurteilt diese aber im gegebenen Zusammenhang als ein Versehen, das auch einem sorgfältigen Anwalt in einer außergewöhnlichen Situation einmal unterlaufen kann, zumal dem einschreitenden Rechtsanwalt nach der Rechtsprechung gar kein Verschulden zur Last läge und die Wiedereinsetzung ohne weiteres bewilligt worden wäre, wenn der 31. Mai der letzte Tag der Frist gewesen wäre.

Der Verwaltungsgerichtshof beurteilt somit den unterlaufenen Fehler als ein Versehen minderen Grades, das einer Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Sinne des § 46 Abs. 1 letzter Satz VwGG nicht entgegensteht. Dem Wiedereinsetzungsantrag war somit stattzugeben.

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