VwGH 90/05/0165

VwGH90/05/016519.2.1991

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Draxler und die Hofräte DDr. Hauer, Dr. Leukauf, Dr. Degischer und Dr. Giendl als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Wildmann, über die Beschwerde der N gegen den Bescheid der Bauoberbehörde für Wien vom 5. Juli 1990, Zl. MDR-B XVII-5/90, betreffend Kostenersatz für notstandspolizeiliche Maßnahmen, zu Recht erkannt:

Normen

BauO Wr §129 Abs6;
BauRallg;
BauO Wr §129 Abs6;
BauRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Die Bundeshauptstadt Wien hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 10.110,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid vom 29. September 1989 schrieb der Wiener Magistrat gemäß § 129 Abs. 6 der Bauordnung für Wien der Beschwerdeführerin als Eigentümerin der Liegenschaft Wien, X-Gasse 41, die Zahlung eines Betrages von S 93.066,98 für die "Durchführung dringender Verfügungen und Sicherungsmaßnahmen" vor. In der Begründung wurde nach Wiedergabe des Gesetzestextes lediglich ausgeführt, durch amtliche Wahrnehmungen sei festgestellt worden, daß der Bauzustand der auf der Liegenschaft befindlichen Baulichkeit eine unmittelbar drohende Gefahr für das Leben und die Gesundheit von Menschen darstelle. Die Behörde hätte daher die erforderlichen Verfügungen und Sicherungsmaßnahmen wegen Gefahr im Verzug sofort anordnen und durchführen lassen müssen. Obwohl im Spruch des Bescheides als Maßnahmen lediglich das Öffnen von Türen im Zuge einer notstandspolizeilichen Räumung genannt wurde, lassen im Akt erliegende Rechnungen erkennen, daß nicht nur das Öffnen von Türen, sondern auch der Ankauf und der Einbau von Zylinderschlössern sowie Reinigungsarbeiten den genannten Betrag ergeben. Die dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Akten lassen weiters erkennen, daß auf Grund einer Ladung vom 16. Juni 1989 an Ort und Stelle eine Verhandlung durchgeführt worden ist, bei welcher sich die Eigentümerin bzw. ihr Vertreter unter Berufung auf bestehende Zivilrechtsverhältnisse weigerten, ein Öffnen vermieteter Objekte vorzunehmen. Daraufhin wurden versperrte "Wohnungen" durch den Schlüsseldienst geöffnet, die Räume besichtigt, fotografiert und sodann die Türen durch Einsetzen eines neuen Zylinders versperrt und versiegelt. Laut einer nicht im Akt befindlichen Computerauflistung seien Konsensabweichungen und widmungswidrige Verwendungen festgestellt worden. In einem Aktenvermerk vom 20. Juli 1989 wurden verschiedene "Mißstände" festgestellt, daß für 65 Räume 7 Trittaborte und 6 Sitzaborte sowie 10 ca. 1 m2 große Kammern (ehemalige Aborte) mit je einem Wasserauslauf und einem Metallwaschbecken zur Verfügung stehen; in diesem Aktenvermerk ist von insgesamt 146 Bewohnern die Rede. Eine Fotodokumentation zeigt Einzelräume, die offensichtlich zum Wohnen und Schlafen eingerichtet sind.

In ihrer Berufung bringt die Beschwerdeführerin vor, daß der Wiener Magistrat ohne jeden Rechtstitel zwangsweise die ihr gehörige Liegenschaft geräumt und außerdem vermietete Objekte auf dieser Liegenschaft zwangsweise geöffnet habe. Gegen diese Vorgangsweise habe sie Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof erhoben und sie beantrage daher die Unterbrechung des Verfahrens bis zur Entscheidung durch den Verfassungsgerichtshof. Mit der zwangsweisen Öffnung von vermieteten Objekten habe sich die Behörde über ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes hinweggesetzt, denn es sei der Behörde genau bekannt, daß sie als Hauseigentümerin den Mietern die Nutzungsmöglichkeit der Räume im Mietvertrag bekanntgegeben habe. Es sollte der Behörde auch bekannt sein, daß der Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 21. Oktober 1986 ausgeführt habe, daß Aufträge nach § 129 der Bauordnung für Wien ausschließlich an den tatsächlichen Benützer zu richten seien. Die zwangsweise Öffnung sei deshalb rechtswidrig und die dafür entstandenen Kosten könnten ihr nicht zur Last fallen. Die Beschwerdeführerin bestreite ausdrücklich, daß Gefahr im Verzug gegeben gewesen sei. Die Behörde behaupte seit vielen Jahren, daß die Liegenschaft widmungswidrig benutzt werde, neue Tatsachen, die eine Gefahr bewirken könnten, hätten sich nicht ergeben, noch habe die Behörde darüber bis heute einen Bescheid erlassen. Die notstandspolizeiliche Maßnahme sei daher auch aus diesem Grunde rechtswidrig. Vorsichtshalber weise sie darauf hin, daß die Höhe der Kosten unverhältnismäßig sei. Es falle auf, daß von einem Aufsperrdienst ein Betrag von S 650,-- pro Zylinderschloß verlangt werde, während ein zweiter Aufsperrdienst für dieselbe Leistung S 360,-- verlange. Die Tatsache, daß die Behörde derartige Forderungen ungeprüft anerkenne, könne ihr nicht zur Last fallen. Weiters beantragte die Beschwerdeführerin die Beischaffung des Bauaktes.

Mit dem in Beschwerde gezogenen Bescheid gab die Bauoberbehörde für Wien der Berufung teilweise Folge und änderte die erstinstanzliche Erledigung dahingehend ab, daß nunmehr für die am 18. und 20. Juli 1989 durchgeführten notstandspolizeilichen Maßnahmen (Öffnen und Versperren von Wohnungen samt teilweisem Einbau von Zylinderschlössern) Kosten im Ausmaß von S 86.630,-- vorgeschrieben wurden. Die Berufungsbehörde ging zunächst davon aus, daß die Voraussetzungen für eine Unterbrechung des Verfahrens im Sinne des § 38 AVG 1950 nicht vorgelegen seien. Aus § 129 Abs. 6 der Bauordnung für Wien ergebe sich weiters eindeutig, daß die Kosten für eine notstandspolizeiliche Maßnahme nur dem Eigentümer eines Gebäudes auferlegt werden können. Wenn die Beschwerdeführerin behauptet, daß Gefahr im Verzug nicht vorgelegen habe, müsse ihr entgegengehalten werden, daß es nicht den Tatsachen entspreche, daß die Behörde von der tatsächlichen Benützungsart der verfahrensgegenständlichen Räumlichkeiten seit vielen Jahren gewußt habe, sondern diese nur habe vermutet werden können. Die Beschwerdeführerin habe den Behördenorganen den Zutritt zu den einzelnen Räumlichkeiten freiwillig nicht ermöglicht, sodaß erst durch die zwangsweise Öffnung der Türen das gesamte Ausmaß der rechtswidrigen Zustände in dem in Rede stehenden Gebäude der Behörde offenbar geworden sei. Auf Grund der Anzahl der im Gebäude wohnenden Personen, der Anzahl der Räume, der Anzahl der Aborte, des Zusammenlebens so vieler Personen auf engstem Raum und der damit verbundenen sanitären Übelstände, sei mit einer unmittelbaren Gefahr für Personen zu rechnen gewesen. So sei vor allem durch das "Abwickeln der täglichen Wohnbedürfnisse", das Benützen der elektrischen Anlagen und die nicht ausreichenden Sanitäranlagen ein anstandsloses Bewohnen der nicht als Wohnung gewidmeten Räume ohne gesundheitliche Gefährdung nicht gegeben. Bei diesem Ermittlungsergebnis sei die Behörde erster Instanz zu Recht davon ausgegangen, daß das Tatbestandsmerkmal der Gefahr im Verzug gegeben gewesen sei. Die Berufungsbehörde begründete sodann noch die Höhe der Kosten und stellte fest, daß Reinigungsgebühren nicht vorzuschreiben gewesen seien, weil hiefür § 129 Abs. 6 der Bauordnung für Wien keine Handhabe biete.

In ihrer Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt die Beschwerdeführerin, den angefochtenen Bescheid wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Über diese Beschwerde sowie über die von der belangten Behörde erstattete Gegenschrift hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

Nach § 129 Abs. 1 der Bauordnung für Wien (BO) ist für die bewilligungsgemäße Benützung der Räume der Eigentümer (jeder Miteigentümer) des Gebäudes oder der baulichen Anlage verantwortlich. Im Falle der Benützung der Räume durch einen anderen geht die Haftung auf diesen über, wenn er vom Eigentümer über die bewilligte Benützungsart in Kenntnis gesetzt worden ist.

Nach § 129 Abs. 3 BO ist den Vertretern der Behörde zur Ermöglichung der Aufsicht über den Bauzustand und der Überwachung der genauen Einhaltung der den Eigentümern (Miteigentümern) und etwaigen Benützern des Gebäudes oder der baulichen Anlage gesetzlich obliegenden Verpflichtungen der Zutritt zu allen Teilen eines bestehenden Gebäudes oder einer baulichen Anlage zu jeder Tageszeit, bei Gefahr im Verzug auch zur Nachtzeit zu gestatten; hiebei ist auf die in anderen Gesetzen enthaltenen Vorschriften und Verbote Bedacht zu nehmen. Der Eigentümer (jeder Miteigentümer), der Hausbesorger und die Benützer der Gebäude und baulichen Anlagen sind verpflichtet, alle erforderlichen Auskünfte zu erteilen.

Bei Gefahr im Verzug kann die Behörde nach § 129 Abs. 6 BO auch ohne Anhörung der Partei die erforderlichen Verfügungen und Sicherungsmaßnahmen auf Gefahr und Kosten des Eigentümers (jedes Miteigentümers) eines Gebäudes oder einer baulichen Anlage anordnen und sofort vollstrecken lassen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner ständigen Rechtsprechung das Wesen notstandspolizeilicher Maßnahmen im Sinne des § 129 Abs. 6 BO dahin gekennzeichnet, daß Zwang ohne Wahrung des Parteiengehörs und ohne Erlassung eines Bescheides zur Erreichung eines bestimmten Zustandes von der Behörde angewendet wird (vgl. etwa die Erkenntnisse vom 19. Juni 1950, Slg. N.F. Nr. 1548/A, und vom 7. Juli 1952, Slg. N.F. Nr. 2609/A). Das Handeln der Behörde muß durch eine unmittelbar drohende Gefahr ausgelöst werden und die Gefahrenbeseitigung muß so dringend sein, daß keine Zeit mehr bleibt, um den vom Eingriff bedrohten Eigentümer anzuhören, ihm durch Bescheid einen Auftrag zu erteilen und diesen Bescheid unter Einhaltung der Verfahrensvorschriften zu vollstrecken (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 30. März 1955, Slg. N.F. Nr. 3699/A).

Für die Zulässigkeit notstandspolizeilicher Maßnahmen ist typisch die unmittelbare Gefahrenabwehr (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 30. September 1980, Slg. N.F. Nr. 10.238/A), es muß also eine Gefahr im Verzug gegeben sein, die es der Behörde nicht ermöglicht, die Verfahrensvorschriften einzuhalten.

Zwischen den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ist nun die Frage strittig, ob tatsächlich Gefahr im Verzug im Sinne des § 129 Abs. 6 BO vorgelegen war. In ihrer Beschwerde verweist die Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 21. Oktober 1986, Zl. 86/05/0113, in welchem bereits von der Frage der widmungswidrigen Benützung von Räumlichkeiten ihrer Liegenschaft die Rede gewesen sei. Tatsächlich war Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens damals die Erteilung eines baupolizeilichen Auftrages, die bewilligungswidrige Nutzung der durch Herstellen von Wänden wesentlich abgeänderten und dadurch in ihrer Widmung konsenslos gewordenen Räume von Gebäuden der Beschwerdeführerin auf ihrer Liegenschaft. Nach dem damals dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegenen Sachverhalt handelte es sich freilich um eine andere Art der Benützung von Räumen, nämlich um Proberäume für Musiker, Hobby- und Bastelräume, Lager und Werkstätten. Der Verwaltungsgerichtshof hatte den damals angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben, weil dem durchgeführten Ermittlungsverfahren im einzelnen nicht entnommen werden konnte, auf welche Weise die Räume im einzelnen verwendet wurden, und auch exakte Feststellungen darüber nicht getroffen worden waren, ob die vorgenommenen Bauführungen einen Umbau darstellten oder nicht. Läge nämlich ein Umbau vor, so wäre der Konsens untergegangen, sodaß nicht mehr von einer bestimmten Raumwidmung ausgegangen werden könnte und es käme ein Auftrag nach § 129 Abs. 10 BO an den Hauseigentümer in Betracht. Wäre aber kein Umbau gegeben, so wäre eine festgestellte bewilligungswidrige Benützung Gegenstand eines Auftrages nach § 129 Abs. 1 BO. Für diesen Fall müßte auch festgestellt werden, ob der Eigentümer die konsentierte Widmung dem Benützer mitgeteilt habe, weil dann, wenn letzteres zutreffe, der Auftrag an den tatsächlichen Benützer zu richten sei.

Aus dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 21. Oktober 1986 ergibt sich also jedenfalls, daß schon damals die widmungswidrige Benützung von Räumen der Liegenschaft der Beschwerdeführerin der Baubehörde bekannt war. Die im Beschwerdefall dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Akten lassen nun nicht erkennen, welche Maßnahmen die Baubehörde seither gesetzt hat, um die nach Meinung des Verwaltungsgerichtshofes erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen zu treffen. Jedenfalls aber ist der seither vergangene Zeitraum ein Indiz dafür, daß nunmehr nicht zu Recht von einer Gefahr im Verzug gesprochen werden kann. Auch haben weder die Behörde erster Instanz noch die belangte Behörde aufgezeigt, welche zusätzlichen Gefahrenmomente eingetreten seien, die nunmehr ein Einschreiten der Baubehörde im Wege einer notstandspolizeilichen Maßnahme unbedingt erforderlich scheinen lassen. Tatsächlich lassen ja auch die nur unvollständig vorgelegten Verwaltungsakten erkennen, daß jedenfalls eine Ladung vom 24. Juni 1989 zu den amtlichen Erhebungen am 18. bzw. 20. Juli 1989 geführt hat. Auch dies spricht gegen die Annahme einer Gefahr im Verzug. Während die Baubehörde erster Instanz das Vorliegen einer unmittelbar drohenden Gefahr für das Leben und die Gesundheit von Menschen nur behauptete, hat die belangte Behörde eine Gefahr im Verzug darin erblickt, daß angesichts der Anzahl der im Gebäude wohnenden Personen, der Anzahl der Räume, der Anzahl der Aborte und der mit all dem verbundenen sanitären Übelstände das Zusammenleben so vieler Personen auf engstem Raum eine unmittelbare Gefahr für Personen bedeute. Weiters spricht die belangte Behörde davon, daß im Hinblick auf die gegebenen Verhältnisse ein anstandsloses Bewohnen der nicht als Wohnung gewidmeten Räume ohne gesundheitliche Gefährdung nicht gegeben sei. Der Verwaltungsgerichtshof teilt nun durchaus die Auffassung der belangten Behörde, daß die festgestellten Wohnverhältnisse nicht nur den Bestimmungen der Bauordnung für Wien widersprechen, sondern auch einen sanitären Übelstand bedeuten können, allein für die Annahme einer Gefahr im Verzug, die ein sofortiges Einschreiten der Baubehörde erforderlich machen würde, reichen diese Feststellungen nicht aus, zumal sich im festgestellten Sachverhalt kein Anhaltspunkt dafür findet, daß tatsächlich eine konkrete gesundheitliche Gefährdung bisher gegeben gewesen sei. Wenn also auch die Beschwerdeführerin die zweifellos rechtswidrigen sanitären Übelstände herbeigeführt hat, so kann doch bei dem ermittelten Sachverhalt nicht zu Recht davon ausgegangen werden, daß Gefahr im Verzug vorgelegen sei, die ein sofortiges Einschreiten der Baubehörde erforderlich gemacht hätte.

Da schon nach den dargelegten Erwägungen die Annahme einer Gefahr im Verzug zu verneinen war, erübrigte sich eine Prüfung der Frage, ob im Hinblick auf die lex specialis des § 129 Abs. 3 BO das Aufsperren von Räumen überhaupt Gegenstand einer notstandspolizeilichen Maßnahme im Sinne des § 129 Abs. 6 BO sein konnte. Auch war die Frage nicht zu erörtern, ob das Anbringen von Sicherheitsschlössern als eine notstandspolizeiliche Maßnahme beurteilt werden kann.

Auf Grund der dargelegten Erwägungen war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben. Bei dieser Situation erübrigte sich ein Eingehen auf die weiteren Ausführungen in der Beschwerde.

Der Zuspruch von Aufwandersatz gründet sich im Rahmen des gestellten Antrages auf die §§ 47 ff. VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 206/1989.

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