Normen
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsgegenstand
B-VG Art140 Abs4
AlVG §1 Abs2 lite idF KonjunkturbelebungsG 2002, BGBl I 68/2002
AlVG §14, §15
ASVG §253b
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsgegenstand
B-VG Art140 Abs4
AlVG §1 Abs2 lite idF KonjunkturbelebungsG 2002, BGBl I 68/2002
AlVG §14, §15
ASVG §253b
Spruch:
Die Beschwerdeführerinnen sind durch die angefochtenen Bescheide in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Die Bescheide werden aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) ist schuldig, den Beschwerdeführerinnen zu Handen ihrer Rechtsvertreterin die mit jeweils EUR 2142,-- bestimmten Prozesskosten binnen vierzehn Tagen zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Gemäß §1 Abs1 lita des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977 (AlVG 1977), BGBl. Nr. 609/1977, sind arbeitslosenversichert ua. Dienstnehmer, die bei einem oder mehreren Dienstgebern beschäftigt sind, soweit sie in der Krankenversicherung auf Grund gesetzlicher Vorschriften pflichtversichert sind oder Anspruch auf Leistungen einer Krankenfürsorgeanstalt haben, soweit keine Ausnahme von der Versicherungspflicht vorliegt.
2. Mit Art10 Z1 des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002, BGBl. I Nr. 68/2002, wurde in §1 Abs2 lite AlVG 1977 folgende Ausnahme von der Arbeitslosenversicherungspflicht eingeführt:
"e) Personen, die das für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer maßgebliche Mindestalter vollendet haben, ab dem Beginn des folgenden Kalendermonates."
Nach §253b Abs1 ASVG (idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 2000 - SRÄG 2000, BGBl. I Nr. 92/2000) haben Männer nach Vollendung des 738. Lebensmonates, Frauen nach Vollendung des
678. Lebensmonates, Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer.
§15 Abs8 AlVG 1977 (idF des Art10 Z2 des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002) bestimmt:
"(8) Die Rahmenfrist für gemäß §1 Abs2 lite von der Arbeitslosenversicherungspflicht ausgenommene Personen verlängert sich um Zeiträume einer krankenversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit."
Die soeben wiedergegebenen Bestimmungen des AlVG 1977 idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002 stehen seit 1. Juli 2002 in Kraft (§79 Abs67 AlVG 1977).
3. Die - 1943 geborenen - Beschwerdeführerinnen waren zuletzt vom 15. Jänner 2002 bis 31. Juli 2002 bzw. vom 1. Jänner 2002 bis 31. August 2002 unselbständig beschäftigt. Mit Bescheiden vom 11. September bzw. 25. Oktober 2002 wies die Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Niederösterreich die Anträge der Beschwerdeführerinnen auf Arbeitslosengeld jeweils als unbegründet ab: Die Beschwerdeführerinnen seien zwar (mindestens) 28 Wochen krankenversicherungspflichtig beschäftigt gewesen, seit 1. Juli 2002 habe aber - wegen §1 Abs2 lite AlVG 1977 idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002 - keine Arbeitslosenversicherungspflicht bestanden. Die Beschwerdeführerinnen seien somit nicht auch 28 Wochen arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt gewesen und hätten daher die erforderliche Anwartschaft (§14 AlVG 1977) nicht erfüllt.
4. Gegen diese - letztinstanzlichen - Bescheide richten sich die vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden, worin die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte sowie in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (§1 Abs2 lite AlVG 1977 idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Bescheide beantragt wird.
Die belangte Behörde hat jeweils die Verwaltungsakten vorgelegt, aber keine Gegenschrift erstattet.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässigen (vgl. das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, G64,65/03) - Beschwerden erwogen:
1. Mit dem Budgetbegleitgesetz 2003, BGBl. I Nr. 71/2003, ausgegeben am 20. August 2003, ist §14 Abs4 AlVG 1977 dahin geändert worden, dass auch Zeiten einer gemäß §1 Abs2 lite AlVG 1977 (idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002) von der Arbeitslosenversicherungspflicht ausgenommenen krankenversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit auf die Anwartschaft anzurechnen sind. Personen, die nach Vollendung des in §1 Abs2 lite AlVG 1977 bezeichneten Alters in einem krankenversicherungspflichtigen Dienstverhältnis stehen, sind damit gleichsam beitragsfrei arbeitslosenversichert.
Diese Änderung des §14 Abs4 AlVG 1977 ist gemäß §79 Abs69 AlVG 1977 - rückwirkend - mit 1. Juli 2002, dh. mit dem Tag des Inkrafttretens des §1 Abs2 lite AlVG 1977 idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002, in Kraft getreten.
2. In Beschwerdeverfahren gemäß Art144 B-VG ist von jener Rechtslage auszugehen, die im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides bestanden hat (zB VfSlg. 2009/1950, S 271), es sei denn, die Rechtslage wird rückwirkend auf einen vor Erlassung des Bescheides liegenden Zeitpunkt geändert; in diesem Fall ist der angefochtene Bescheid an der rückwirkend geschaffenen Rechtslage zu messen (VfSlg. 2009/1950, S 272; 3853/1960, S 598; 10.091/1984,
S 707; 10.402/1985, S 350; 11.155/1986, S 754; 11.401/1987, S 683).
Daraus ergibt sich, dass die angefochtenen Bescheide, gemessen an der neuen, rückwirkend hergestellten (verfassungsrechtlich unbedenklichen) Rechtslage, in offenkundigem Widerspruch zu §14 AlVG 1977 (idF des Budgetbegleitgesetzes 2003) stehen. Diese Rechtswidrigkeit reicht zweifellos in die Verfassungssphäre.
Der belangten Behörde ist die sonach gegebene Fehlerhaftigkeit der angefochtenen Bescheide zwar schon deshalb nicht subjektiv vorwerfbar, weil §14 Abs4 AlVG 1977 idF des Budgetbegleitgesetzes 2003 rückwirkend in Kraft getreten ist. Dessen ungeachtet obliegt es dem Verfassungsgerichtshof, den durch die rückwirkende Gesetzesänderung eingetretenen, objektiver Willkür (dazu etwa VfSlg. 10.549/1985, 15.574/1999, 15.993/2000) gleichzuhaltenden Widerspruch der angefochtenen Bescheide zur maßgebenden Rechtslage aufzugreifen.
Die Beschwerdeführerinnen sind somit durch die angefochtenen Bescheide wegen Willkür der Behörde in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt worden.
Die Bescheide waren daher aufzuheben.
3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG. Der zugesprochene Betrag enthält jeweils Umsatzsteuer in Höhe von EUR 327,-- sowie den Ersatz der entrichteten Eingabengebühr (§17a VfGG).
4. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
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