VfGH B515/00 ua

VfGHB515/00 ua27.2.2001

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Verweigerung der Sachentscheidung über die Rechtmäßigkeit der Schubhaft während bestimmter Zeiträume; kein Vorliegen von entschiedener Sache im Hinblick auf Vorentscheidungen über die Schubhaft; Verpflichtung zur Prüfung des Vorliegens der Haftvoraussetzungen auch im Zeitpunkt der Entscheidung

Normen

B-VG Art83 Abs2
FremdenG 1997 §69
FremdenG 1997 §72, §73
B-VG Art83 Abs2
FremdenG 1997 §69
FremdenG 1997 §72, §73

 

Spruch:

Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtenen Bescheide im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit je S 27.000- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Am 15. September 1999 erließ die Bezirkshauptmannschaft Baden gegen den Staatsangehörigen von Gambia J S gemäß §61 Abs1 Fremdengesetz 1997 (im Folgenden FrG 1997) zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes (§36 FrG 1997) und zur Sicherung der Abschiebung (§56 FrG 1997) einen Schubhaftbescheid. Mit Bescheid vom 29. November 1999 hat der Unabhängige Verwaltungssenat im Land Niederösterreich die gemäß §72 FrG 1997 von

J S am 23. November 1999 eingebrachte Beschwerde, soweit sie die Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft vom 15. September 1999 bis zum 15. November 1999 betrifft, gemäß §67c Abs4 AVG iVm §73 FrG 1997 abgewiesen, die Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft vom 16. November 1999 bis zur Erlassung dieses Bescheides als rechtswidrig erklärt und gemäß §73 Abs4 erster Satz FrG 1997 festgestellt, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen.

1.2. Der weiter in Schubhaft angehaltene Fremde erhob gegen die Schubhaft seit 30. November 1999 gemäß §72 FrG 1997 eine am 20. Jänner 2000 eingelangte Beschwerde an den Unabhängigen Verwaltungssenat im Land Niederösterreich, in der die Rechtswidrigkeit der Schubhaft ua. damit begründet wird, dass bereits seit 16. Dezember 1999 nun auch ein für die Abschiebung erforderliches Heimreisezertifikat vorliege und die Schubhaft aufgrund des durchsetzbaren Aufenthaltsverbotes nur mehr dem Verfahren zur Sicherung der Abschiebung dienen könne. Seit dessen Einlangen bei der Behörde seien bereits über 14 Tage verstrichen, wodurch eine Rechtfertigung der Schubhaft gemäß §69 Abs6 FrG 1997 nicht in Frage komme. S J habe auch keinen Antrag gemäß §75 FrG 1997 gestellt. Der Unabhängige Verwaltungssenat im Land Niederösterreich hat mit bekämpftem Bescheid vom 26. Jänner 2000 die Beschwerde gemäß §66 Abs4 AVG mit der Begründung als unzulässig zurückgewiesen, dass die belangte Behörde mit Bescheid vom 29. November 1999 festgestellt habe, dass "die Voraussetzungen für eine rechtmäßige Aufrechterhaltung der Schubhaft ab dem Datum des damals erlassenen Bescheides, mithin nach dem 29. November 1999 vorliegen. Dies bedeutet, dass sich die Entscheidung des UVS auch mit dem in der vorliegenden Beschwerde angezogenen Zeitraum vom 1. Dezember 1999 bis dato befasst und diesbezüglich eine erledigende Entscheidung darstellt." Es liege daher entschiedene Sache vor.

1.3. Mit Bescheid vom 7. Februar 2000 hatte der Unabhängige Verwaltungssenat im Land Niederösterreich eine Beschwerde des J S gemäß §73 FrG 1997 als unbegründet abgewiesen. Der in Folge weiter in Schubhaft angehaltene Fremde erhob gegen die fortgesetzte Anhaltung seit 7. Februar 2000 gemäß §72 FrG 1997 eine am 11. Februar 2000 beim Unabhängigen Verwaltungssenat im Land Niederösterreich eingelangte Beschwerde, in der die Rechtswidrigkeit der Schubhaft - ähnlich der vorherigen Beschwerde - ua. damit begründet wird, dass die Schubhaft wegen Untätigkeit der Behörde in Bezug auf die Vorbereitung der Abschiebung des Fremden und mangels Vorliegens eines Haftgrundes gemäß §69 Abs4 FrG 1997 jedenfalls seit 7. Februar 2000 rechtswidrig sei. Der Unabhängige Verwaltungssenat im Land Niederösterreich hat mit bekämpftem Bescheid vom 14. Februar 2000 die Beschwerde gemäß §66 Abs4 AVG aufgrund seiner Entscheidung vom 7. Februar 2000 wegen entschiedener Sache als unzulässig zurückgewiesen.

2. Gegen die Bescheide vom 26. Jänner 2000 und 14. Februar 2000 richten sich die vorliegenden auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden des S J an den Verfassungsgerichtshof. Darin wird die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und die Verletzung in Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm (§73 Abs4 erster Satz FrG 1997) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der Beschwerden begehrt.

3. Der Unabhängige Verwaltungssenat im Land Niederösterreich als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, erstattete je eine Gegenschrift, in der er auf die Begründung des bekämpften Bescheides verweist und die Abweisung der Beschwerde sowie die Zuerkennung von Kosten in Höhe von S 3.035,- und S 4.565,- beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die zulässigen Beschwerden erwogen:

1. §72 Fremdengesetz 1997 gibt dem Schubhäftling das Recht, den unabhängigen Verwaltungssenat als Beschwerdeinstanz mit der Behauptung der Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides, der Festnahme oder der Anhaltung anzurufen. Demgemäß (iVm §73 Abs4 FrG 1997) hat der Unabhängige Verwaltungssenat die Pflicht, die Frage der formellen und materiellen Rechtswidrigkeit der Anhaltung, somit das Vorliegen der Haftvoraussetzungen, im Zeitpunkt seiner Entscheidung nach jeder Richtung hin selbstständig zu untersuchen und jede unterlaufene Gesetzwidrigkeit aufzugreifen und festzustellen.

Dieser Verpflichtung kam die belangte Behörde nicht nach. Sie verweigerte dem Beschwerdeführer vielmehr - wie aus den maßgebenden Gründen ihrer Bescheide unmissverständlich hervorgeht - die ihr kraft §73 FrG 1997 aufgetragene umfassende Prüfung, ob hier alle gesetzlichen Schubhaftvoraussetzungen erfüllt seien, weil sie in Verkennung ihrer im Fremdengesetz 1997 festgelegten Zuständigkeit der verfehlten Rechtsauffassung anhing, sie habe bereits mit Bescheid vom 29. November 1999 bzw. mit Bescheid vom 7. Februar 2000 auch für die Zeit nach Erlassung dieser Bescheide das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen der (fortdauernden) Haftanhaltung festgestellt, weshalb res judicata vorliege.

Der Unabhängige Verwaltungssenat kann aufgrund mehrmaliger Erhebung der Beschwerde eines Schubhäftlings gemäß §72 FrG 1997 während seiner Anhaltung nur dann von "entschiedener Sache" ausgehen, wenn die Beschwerde sich auf einen Zeitraum bezieht, über den er bereits durch einen Bescheid gemäß §73 FrG 1997 abgesprochen hat. Im vorliegenden Fall begründet der bekämpfte Bescheid vom 26. Jänner 2000 die Zurückweisung der Schubhaftbeschwerde mit der meritorischen Erledigung einer Schubhaftbeschwerde des S J durch Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 29. November 1999. Der bekämpfte Bescheid vom 14. Februar 2000 stützt die Zurückweisung der Schubhaftbeschwerde vom 11. Februar 2000 auf seinen Bescheid vom 7. Februar 2000, in dem eine Beschwerde gemäß §72 FrG 1997 des S J abgewiesen wurde. Die belangte Behörde setzte sich in den bekämpften Bescheiden somit auch nicht mit dem Vorbringen des S J betreffend das Vorliegen eines Heimreisezertifikates seit zumindest 20. Dezember 2000 und den Mangel eines Haftgrundes gemäß §69 Abs4 FrG 1997 während der Zeiträume vom 30. November 1999 bis 26. Jänner 2000 und vom 7. Februar bis 14. Februar 2000 auseinander.

2. Soweit sich die belangte Behörde einem Abspruch über die Rechtmäßigkeit der Haft während der ihrer Entscheidung zugrundeliegenden Zeiträume der Anhaltung entzog, verweigerte sie dem Beschwerdeführer jeweils eine Sachentscheidung und verletzte ihn dadurch im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter nach Art83 Abs2 B-VG (vgl. VfSlg. 11.958/1989, 13.037/1992).

Die angefochtenen Bescheide waren daher schon aus diesem Grund aufzuheben, ohne dass es notwendig war, auf das Beschwerdevorbringen selbst noch weiter einzugehen.

3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG 1953; im zugesprochenen Betrag sind jeweils S 4.500,- an Umsatzsteuer enthalten. Kosten an die belangte Behörde als Ersatz des Vorlage- und Schriftsatzaufwands waren nicht zuzusprechen, weil dies im VerfGG 1953 nicht vorgesehen ist und eine sinngemäße Anwendung des §48 Abs2 VwGG im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof nicht in Betracht kommt (VfSlg. 10.003/1984).

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung gefasst werden.

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