Normen
EMRK Art8
AufenthaltsG §6 Abs2
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
EMRK Art8
AufenthaltsG §6 Abs2
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
Spruch:
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden des Beschwerdevertreters die mit 18.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Der im Jahr 1956 geborene (geschiedene und mit Unterhaltspflichten nicht belastete) Beschwerdeführer, ein jugoslawischer Staatsangehöriger, brachte am 7. Juni 1994 durch den für ihn bestellten Sachwalter unter Vorlage mehrerer Urkunden einen Antrag auf Erteilung einer Bewilligung nach dem Aufenthaltsgesetz (AufG) beim Magistrat der Stadt Wien ein. Den vorgelegten Urkunden zufolge ist er Mieter einer in Wien gelegenen Wohnung, an deren Anschrift er seit 4. Dezember 1981 gemeldet ist. Er bezieht von der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter eine Pension in Höhe von 7.237,50 S netto und ist bei der Wiener Gebietskrankenkasse krankenversichert. Mit Beschluß des zuständigen Bezirksgerichtes vom 6. Oktober 1993 wurde der für ihn bisher bestellte Sachwalter enthoben und ein neuer Sachwalter zur Besorgung folgender Angelegenheiten bestellt:
"Regelung sämtlicher finanzieller Angelegenheiten des Betroffenen sowie alle rechtlichen Angelegenheiten und Vertretung des Betroffenen gegenüber Ämtern und Behörden." Der Beschwerdeführer verfügt über einen am 4. März 1994 von der jugoslawischen Botschaft in Wien ausgestellten Reisepaß.
2. Der Landeshauptmann von Wien wies den Antrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 1. August 1994 ab, den er im wesentlichen unter Bezugnahme auf §9 Abs3 AufG sowie die Verordnung der Bundesregierung BGBl. 72/1994 damit begründete, daß die (in dieser Verordnung) für das Land Wien festgelegte Höchstzahl an Bewilligungen bereits ausgeschöpft sei.
Gegen diesen Bescheid erhob der (durch seinen Sachwalter vertretene) Beschwerdeführer Berufung, in welcher er vorbrachte, daß er alle Voraussetzungen zur Erteilung einer Bewilligung erfülle; sein Lebensunterhalt sowie seine für Inländer ortsübliche Unterkunft in Österreich seien gesichert, Sichtvermerksversagungsgründe nach dem FremdenG lägen nicht vor.
3. Das Bundesministerium für Inneres ergänzte das Ermittlungsverfahren, wobei sich insbesondere ergab, daß der Beschwerdeführer über einen bis 10. Jänner 1993 geltenden Sichtvermerk verfügt hatte. Ferner kam hervor, daß der Beschwerdeführer am 8. Jänner 1993 aus einem psychiatrischen Krankenhaus kurzfristig entwichen, also dort einige Zeit hindurch angehalten worden war.
Mit Bescheid vom 19. Dezember 1995 wies der Bundesminister für Inneres sodann die Berufung ab. Gemäß §6 Abs2 AufG sei der Antrag auf Erteilung einer Bewilligung vor der Einreise nach Österreich vom Ausland aus zu stellen. Der Antrag auf Verlängerung könne auch vom Inland aus gestellt werden. Es stehe fest, daß der letzte gültige Sichtvermerk des Beschwerdeführers mit 10. Jänner 1993 befristet gewesen sei und er sich seit diesem Zeitpunkt ohne fremdenrechtliche Bewilligung, somit illegal im Bundesgebiet aufgehalten habe. Da zum Zeitpunkt der Antragstellung die letzte Bewilligung seit mehr als 15 Monaten abgelaufen gewesen sei, sei ein Erstantrag zu stellen, welcher jedoch vom Ausland aus einzubringen sei. Die Voraussetzungen zur Inlandsantragstellung lägen nicht vor, und es könne dem Beschwerdeführer aus diesem Grund keine Aufenthaltsbewilligung erteilt werden. Auf das weitere Vorbringen in der Berufung - auch im Zusammenhang mit den persönlichen Verhältnissen des Beschwerdeführers - sei nicht näher einzugehen gewesen, da es sich bei der Mißachtung des §6 Abs2 AufG um die Verletzung einer Verfahrensvorschrift handle.
II. Gegen den Berufungsbescheid des Bundesministers für Inneres richtet sich die auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in welcher der Beschwerdeführer die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte geltend macht und die Bescheidaufhebung begehrt.
1. Zu seiner persönlichen Lage bringt der Beschwerdeführer im wesentlichen vor, daß er seit 1967, somit seinem 11. Lebensjahr, in Österreich lebe. Er habe den Beruf eines Kellners erlernt und sei in diesem Beruf tätig gewesen. Seit 1990 sei er geschieden; er habe eine Tochter, die in Linz arbeite. In Österreich lebten außerdem seine Mutter, seine Schwester und sein Bruder. Aufgrund einer psychischen Erkrankung sei er arbeitsunfähig geworden; Dr. B. sei für ihn zum Sachwalter gemäß §273 ABGB bestellt worden und habe sämtliche finanzielle und auch alle rechtlichen Angelegenheiten zu erledigen gehabt. Dem mit Beschluß vom 6. Oktober 1993 bestellten anderen Sachwalter sei im Jänner 1994 bekannt geworden, daß der Beschwerdeführer seinen Reisepaß verloren habe; durch Einsicht in den Akt der Fremdenpolizei sei dem Sachwalter weiters bekannt geworden, daß der Sichtvermerk bereits abgelaufen sei. Nach Ausstellung eines neuen Reisepasses (4. März 1994) und nach Besorgung (weiterer) notwendiger Unterlagen sei ein "Erstantrag" auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung gestellt worden.
2. In rechtlicher Hinsicht geht die Beschwerde davon aus, daß die belangte Behörde §6 Abs2 AufG in der Fassung der (mit 20. Mai 1995 in Kraft getretenen) Novelle BGBl. 351/1995 angewendet habe; sie hält die bezogene Gesetzesbestimmung in dieser Fassung für verfassungsrechtlich bedenklich und regt die amtswegige Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens an. Des weiteren (und zwar offenkundig hilfsweise) macht die Beschwerde (unter Bedachtnahme auf das Erk. VfSlg. 14148/1995) eine Verletzung des durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens wegen einer verfassungswidrigen Handhabung des §6 Abs2 AufG geltend.
3. Der Bundesminister für Inneres legte die Verwaltungsakten vor und beantragte - ohne auf die Sache einzugehen - die Abweisung der Beschwerde.
III. Die zur meritorischen
Erledigung geeignete Beschwerde erweist sich als gerechtfertigt.
1. Der Gerichtshof hält es für zweckmäßig, vorerst beide Fassungen des §6 Abs2 AufG, nämlich die Fassung vor der Novelle BGBl. 351/1995 sowie die durch diese Novelle herbeigeführte, gegenüberstellend wiederzugeben:
§6 Abs2 AufG aF: §6 Abs2 AufG nF:
"(2) Der Antrag auf Erteilung "(2) Der Antrag auf Erteilung
einer Bewilligung ist vor der einer Bewilligung ist vor
Einreise nach Österreich vom der Einreise nach Österreich
Ausland aus zu stellen. Der vom Ausland aus zu stellen.
Antrag auf Verlängerung einer Begründet eine Einbringung
Bewilligung kann auch vom auf dem Postweg oder durch
Inland aus gestellt werden." Vertreter die Vermutung,
daß diese Regelung umgangen
werden soll, kann die
persönliche Einbringung
verlangt werden. Eine
Antragstellung im Inland ist
ausnahmsweise zulässig: im
Fall des Verlustes der
österreichischen
Staatsbürgerschaft, des Asyls
oder des Aufenthaltsrechts
gemäß §1 Abs3 Z1; weiters
in den Fällen des §7 Abs2,
des §12 Abs4 und einer
durch zwischenstaatliche
Vereinbarung oder durch eine
Verordnung gemäß §14 FrG
ermöglichten Antragstellung
nach Einreise; schließlich für
jene im Bundesgebiet
aufhältigen Personen, für die
dies in einer Verordnung gemäß
§2 Abs3 Z4 festgelegt ist.
Der Antrag auf Verlängerung
einer Bewilligung und auf
Änderung des Aufenthaltszwecks
kann bis zum Ablauf der Geltungsdauer der Bewilligung
auch vom Inland aus gestellt
werden."
2. Der Verfassungsgerichtshof vermag der Annahme der Beschwerde nicht beizupflichten, daß die belangte Behörde ihren Bescheid auf §6 Abs2 AufG in der durch die Novelle
BGBl. 351/1995 herbeigeführten Fassung gestützt habe. Wenngleich die Bescheidbegründung die herangezogene Fassung dieser Gesetzesbestimmung nicht nennt, läßt sie doch durch die nahezu wörtliche Zitierung zweifelsfrei erkennen, daß die vor der Novelle bestandene Fassung gemeint ist. Die bezogene Gesetzesstelle wurde - obgleich sie zum Zeitpunkt der Erlassung des Berufungsbescheides nicht mehr in Geltung stand - auch zu Recht herangezogen, denn die Zulässigkeit des Antrags richtet sich jedenfalls dann, wenn - wie hier - die Gesetzesnovelle (etwa in einer Übergangsvorschrift) nichts anderes bestimmt, nach der zum Zeitpunkt der Antragseinbringung bestandenen Gesetzeslage. Ein anderes Gesetzesverständnis erwiese sich im Hinblick darauf, daß §6 Abs2 AufG in der novellierten Fassung die Möglichkeit der Antragstellung vom Inland aus gegenüber der früheren Rechtslage zumindest teilweise einschränkt (s. hiezu die obige Gegenüberstellung der Gesetzestexte sowie das eine analoge Anwendung des §6 Abs2 zweiter Satz AufG aF bejahende Erk. VfSlg. 14148/1995), als sachfremd und daher unter dem Aspekt des Verfassungsgebotes der Gleichbehandlung von Fremden untereinander (s. dazu VfSlg. 14191/1995) als verfassungswidrig; es führte nämlich zum Ergebnis, daß bei bestimmten Fallkonstellationen rechtswirksam eingebrachte, vor einem Endtermin zu stellende Anträge ohne zwingenden Grund rechtsunwirksam würden.
3. War der vorliegende Antrag aber nach §6 Abs2 AufG aF zu beurteilen, so erweist er sich bei den gegebenen, bereits geschilderten (und - soweit sie in der Beschwerde vorgebracht wurden - von der belangten Behörde nicht in Abrede gestellten) Umständen als zulässigerweise im Inland eingebracht.
Im bereits zitierten Erk. VfSlg. 14148/1995 hat der Verfassungsgerichtshof den Standpunkt eingenommen, daß §6 Abs2 AufG (aF) jene Fälle nicht erfaßt, in denen sich Fremde schon im Inland befinden (oder sogar schon hier geboren sind) und - aus welchen Gründen auch immer - über keine aufrechte Aufenthaltsbewilligung (mehr) verfügen. Derartige Fälle sind - wie der Gerichtshof dargetan hat - vom Gesetz nicht ausdrücklich geregelt; es handelt sich daher um eine unbeabsichtigte Unvollständigkeit des Gesetzes, eine sog. "echte Gesetzeslücke", die durch Analogie zu schließen ist. Im bezogenen Erkenntnis hat der Verfassungsgerichtshof im Hinblick auf Art8 EMRK weiters dargelegt, daß diese Vorschrift eine analoge Anwendung des zweiten Satzes in §6 Abs2 AufG (aF) dann gebietet, wenn sonst Antragsteller, die sich jahre- bzw. jahrzehntelang, ja teilweise sogar seit der Geburt rechtmäßig in Österreich aufgehalten haben, wegen einer relativ kurzen Versäumung einer Frist zur Ausreise aus dem Bundesgebiet gezwungen würden, nur damit sie einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung vom Ausland stellen können.
Bei der Wertung des vom Beschwerdeführer gestellten Antrags nach diesen Kriterien fällt zunächst ins Gewicht, daß er sich seit seinem 11. Lebensjahr (1967) bis zum Ablauf der Gültigkeit des Sichtvermerks am 10. Jänner 1993 offenkundig rechtmäßig in Österreich aufhielt, also durch mehr als 25 Jahre. Dann ist aber auch von wesentlicher Bedeutung, daß die Versäumung der rechtzeitigen Antragstellung - wenngleich die Verzögerung etwa 15 Monate ausmachte - mit besonderen Umständen zu erklären ist, die dem Beschwerdeführer - wenn überhaupt - jedenfalls nicht vorbehaltlos angelastet werden dürfen, wie insbesondere seine beschränkte Handlungsfähigkeit, der vom Sachwalter festgestellte Verlust des Reisepasses, das Untätigbleiben des früheren Sachwalters und das für den nunmehr bestellten Sachwalter bestandene Erfordernis, sich mit der Sachlage vertraut zu machen und die erforderlichen Urkunden zu beschaffen. Unter diesen Aspekten kann die eingetretene Verspätung bei der Antragstellung, die vor dem Hintergrund des jahrzehntelangen offenkundig legalen Aufenthaltes in Österreich gesehen und gewertet werden muß, noch hingenommen werden.
4. Aus den dargelegten Erwägungen folgt, daß die belangte Behörde in der konkreten Fallkonstellation bei der Erlassung ihres Bescheides dem §6 Abs2 AufG idF vor der Novelle BGBl. 351/1995 einen verfassungswidrigen, weil dem Art8 EMRK widersprechenden Inhalt unterstellt hat, was ihre Entscheidung mit Verfassungswidrigkeit belastet.
Der angefochtene Bescheid war sohin aufzuheben.
5. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG; vom zugesprochenen Kostenbetrag entfallen 3.000 S auf die Umsatzsteuer.
IV. Dieses Erkenntnis wurde gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne vorangegangene mündliche Verhandlung gefällt.
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