VfGH B324/95

VfGHB324/9530.6.1995

Keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Verbot mehrerer Kanzleisitze für Rechtsanwalts-Gesellschaften, auch nicht im Hinblick auf das EWR-Abkommen, die Richtlinie des Rates zur Erleichterung der Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte und das EWR-RechtsanwaltsG 1992; keine Inländerdiskriminierung

Normen

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art144 Abs1 / Prüfungsmaßstab
StGG Art6 Abs1 / Erwerbsausübung
EWR-Abkommen Anhang VII litB
EWR-RechtsanwaltsG 1992
RAO §1a
RAO §21c Z7
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art144 Abs1 / Prüfungsmaßstab
StGG Art6 Abs1 / Erwerbsausübung
EWR-Abkommen Anhang VII litB
EWR-RechtsanwaltsG 1992
RAO §1a
RAO §21c Z7

 

Spruch:

Die beschwerdeführende Gesellschaft ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird zur Vorgeschichte dieses verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 27.9.1994, B350/94, verwiesen. Der Verfassungsgerichtshof hat mit dem genannten Erkenntnis den Bescheid der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im folgenden: OBDK), mit welchem der Berufung ua. der beschwerdeführenden Gesellschaft gegen die Versagung der Eintragung der "D Rechtsanwälte OEG" in die Liste der Rechtsanwalts-Gesellschaften der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich keine Folge gegeben worden war, wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung (s. dazu VfGH 24.6.1994, V61/94, V72/94) aufgehoben.

Mit dem nunmehr beim Verfassungsgerichtshof bekämpften (Ersatz-)Bescheid der OBDK vom 21. November 1994 - zugestellt am 23. Dezember 1994 - wurde der Berufung nunmehr mit der Begründung keine Folge gegeben, daß gemäß §21c Z7 RAO eine Rechtsanwalts-Gesellschaft nur einen einzigen Kanzleisitz haben dürfe, die einzutragende Gesellschaft nach ihrem Vorbringen jedoch zwei Kanzleisitze haben solle.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in welcher die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Erwerbsfreiheit (Art6 StGG) und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 Abs1 B-VG) sowie in Rechten wegen Anwendung rechtswidriger genereller Normen behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides begehrt wird.

3. Die OBDK als belangte Behörde dieses verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens hat die Verwaltungsakten vorgelegt, auf die Erstattung einer Gegenschrift jedoch verzichtet.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Nach Auffassung der beschwerdeführenden Gesellschaft verstoßen §21c Z7 und §1a Abs2 Z3 RAO, wonach eine Rechtsanwalts-Gesellschaft nur einen Kanzleisitz haben darf, gegen die verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Freiheit der Erwerbsausübung und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz.

2. Der Verfassungsgerichtshof hatte die Verfassungsmäßigkeit der genannten Bestimmungen bereits in seinem Erkenntnis vom 29.9.1994, B1886/92, zu beurteilen; er sah sich aus der Sicht des dortigen Beschwerdefalles zur Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens weder unter dem Gesichtspunkt des Art6 StGG noch unter dem des Art7 Abs1 B-VG veranlaßt. Auch aus der Sicht des vorliegenden Beschwerdefalles hegt der Verfassungsgerichtshof keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen §21c Z7 und §1a Abs2 Z3 RAO:

2.1.1. Die beschwerdeführende Gesellschaft sieht den wesentlichen Unterschied zwischen dem zu B1886/92 entschiedenen und dem vorliegenden Fall darin, daß Gegenstand des Verfahrens zu B1886/92 ausschließlich das "Filialkanzleiverbot" gewesen sei, während es im vorliegenden Fall um die Frage gehe, ob es verfassungsrechtlich unbedenklich sei, daß auch eine sog. "überörtliche Sozietät" nur einen Kanzleisitz haben dürfe. Der wesentliche Unterschied zwischen einer Filiale und einer überörtlichen Sozietät bestehe darin, daß ein Rechtsanwalt, der eine Filiale unterhält, nicht gleichzeitig am Kanzleisitz und an der Filiale anwesend sein könne. Eine Gesellschaft mit zwei Kanzleisitzen weise diesen Mangel nicht auf, weil sich an jedem Kanzleisitz zumindest ein Rechtsanwalt aufhalte, sodaß eine ordnungsgemäße Ausübung der Tätigkeit des Rechtsanwaltes an jedem der ständig besetzten Kanzleisitze gewährleistet sei. Dadurch werde insbesondere die unmittelbare persönliche Beziehung und das hierauf beruhende Vertrauen zwischen Anwalt und Klient gewährleistet.

2.1.2. Allerdings hielt der Verfassungsgerichtshof in dem genannten Erkenntnis vom 29.9.1994, B1886/92, sowohl das Verbot mehrerer Kanzleisitze als auch das Verbot von Filialkanzleien für objektiv gerechtfertigt. Hinter der Entscheidung des Gesetzgebers steht offenkundig die Auffassung, daß die Ausübung des Anwaltsberufes von der unmittelbaren persönlichen Beziehung und dem hierauf beruhenden Vertrauen zwischen Anwalt und Klient geprägt ist. Ist aber - wie der Verfassungsgerichtshof weiter ausführte - das Verbot mehrerer Kanzleisitze und das Verbot von Filialkanzleien für den einzelnen Anwalt sachlich begründet, kann dem Gesetzgeber nicht entgegengetreten werden, wenn er - wie im gesamten Gesellschaftsrecht - zur Vermeidung einer Bevorzugung von Rechtsanwalts-Gesellschaften vorsieht, daß auch diese Gesellschaften nur einen Sitz haben dürfen.

2.2.1. Die beschwerdeführende Gesellschaft weist weiters darauf hin, daß der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg. 13184/1992 die in §19 ÄrzteG 1984 normierte Bewilligungspflicht für Zweitordinationen von Fachärzten als verfassungswidrig aufgehoben hat; §21c Z7 RAO sei aus denselben Gründen verfassungswidrig.

2.2.2. Dazu ist festzuhalten, daß sich das von der beschwerdeführenden Gesellschaft ins Treffen geführte Erkenntnis VfSlg. 13184/1992 lediglich mit der Bewilligungspflicht von Zweitordinationen beschäftigt hat; im übrigen ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, Ärzte und Rechtsanwälte gleich zu behandeln.

2.3.1. Schließlich hegt die beschwerdeführende Gesellschaft gegen das Verbot mehrerer Kanzleisitze Bedenken im Hinblick auf den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union. Nach den anwendbaren Art52 ff. des EG-Vertrages und der Richtlinie des Rates vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte (77/249/EWG) bzw. nach dem in Erfüllung des EWR-Abkommens ergangenen EWR-Rechtsanwaltsgesetz 1992, BGBl. 21/1993, werde für das Tätigwerden eines aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union stammenden Rechtsanwaltes, der seine Tätigkeit dort in einer Gesellschaft ausübt, in Österreich das Bestehen einer zweiten Gesellschaft mit einem österreichischen Rechtsanwalt geradezu vorausgesetzt. Das österreichische Recht hingegen verbiete die Zugehörigkeit eines österreichischen Rechtsanwaltes zu mehr als einer Rechtsanwalts-Gesellschaft. Gehe man davon aus, daß der österreichische und der im Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässige Rechtsanwalt in beiden Staaten in dieser Weise "gemeinsam handelten", so lägen zwei identische Gesellschaften mit zwei verschiedenen Kanzleisitzen vor. Der Unterschied zwischen einer solchen Gesellschaft und einer Gesellschaft mit zwei Kanzleisitzen in Österreich sei nicht zu ersehen. Gehe man weiters davon aus, daß auch der im Mitgliedstaat ansässige Rechtsanwalt österreichischer Staatsbürger ist, so liege eine im Hinblick auf Art6 StGG und Art7 Abs1 B-VG verpönte Ungleichbehandlung österreichischer Staatsbürger vor.

2.3.2. Dazu ist zunächst auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu verweisen, wonach sich die rechtliche Beurteilung von Bescheiden an der Rechtslage am Tage ihrer Zustellung zu richten hat (VfSlg. 11455/1987, 12742/1991, 13111/1992). Der angefochtene Bescheid wurde der beschwerdeführenden Gesellschaft am 23. Dezember 1994 zugestellt, weshalb seine rechtliche Beurteilung im Hinblick auf den erst mit 1. Jänner 1995 wirksam gewordenen (s. Art2 Abs2 des EU-Beitrittsvertrages, BGBl. 45/1995, in Verbindung mit dessen Schlußklausel sowie die Kundmachung BGBl. 50/1995) Beitritt Österreichs zur Europäischen Union von vornherein nicht in Betracht kommt.

Maßgeblich ist daher die Rechtslage nach dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen) samt Beilagen, BGBl. 909/1993 (im folgenden: EWR-A), in dessen Anhang VII litB auf die Richtlinie des Rates vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte (77/249/EWG) Bezug genommen wird, sowie nach dem EWR-Rechtsanwaltsgesetz 1992, BGBl. 21/1993.

Der Verfassungsgerichtshof hegt auch aus dieser Sicht keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Verbot mehrerer Kanzleisitze in Österreich. Zum einen ist es nämlich einer Tsterreichischen Rechtsanwalts-Gesellschaft durch diese Rechtsvorschriften nicht verwehrt, in einem anderen Vertragsstaat dieses Abkommens einen weiteren Sitz zu unterhalten (so schon VwSlgNF 12.428 A/1987). Zum anderen gilt das Verbot mehrerer Kanzleisitze innerhalb Österreichs in gleicher Weise für österreichische Rechtsanwalts-Gesellschaften und für solche, die in einem Vertragsstaat des EWR-A mit Ausnahme Österreichs (oder wo auch sonst immer) ansässig sind, sodaß sich das Problem der Inländerdiskriminierung nicht stellt.

3. Die beschwerdeführende Gesellschaft wurde durch den angefochtenen Bescheid daher nicht wegen Anwendung rechtswidriger genereller Normen in ihren Rechten verletzt.

4. In die Verfassungssphäre reichende Vollzugsfehler werden von der beschwerdeführenden Gesellschaft nicht behauptet und sind im verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren auch nicht hervorgekommen.

5. Die Beschwerde war daher abzuweisen.

III. Diese Entscheidung konnte

gemäß §19 Abs4, erster Satz, VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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