Spruch:
§268 der Zivilprozeßordnung, RGBl. Nr. 113/1895, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Frühere Vorschriften treten nicht wieder in Wirksamkeit.
Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. Das Oberlandesgericht Innsbruck stellt den Antrag, §268 ZPO als verfassungswidrig aufzuheben. Diese Bestimmung findet sich unter den Allgemeinen Bestimmungen über den Beweis und die Beweisaufnahme und hat folgenden Wortlaut:
"Wenn die Entscheidung von dem Beweise und der Zurechnung einer strafbaren Handlung abhängt, ist der Richter an den Inhalt eines hierüber ergangenen rechtskräftigen verurteilenden Erkenntnisses des Strafgerichtes gebunden."
Das antragstellende Gericht legt dar, daß es über eine Berufung gegen ein Urteil des Landesgerichtes Innsbruck in einem Rechtsstreit zu entscheiden habe, welchen die von einem Verkehrsunfall betroffene Halterin und Lenkerin eines PKW gegen den Verband der Versicherungsunternehmungen Österreichs mit der Begründung anstrenge, für den am Unfall beteiligten niederländischen Omnibus sei eine grüne Versicherungskarte ausgestellt worden, sodaß der Verband aufgrund des §63 KraftfahrG iVm dem Londoner Büroabkommen für den Schaden hafte. Bei dem Unfall, der sich im Sommer 1981 in einer unübersichtlichen Kurve der Bundesstraße 100 im Gemeindegebiet von Abfaltersbach ereignet habe, sei die Klägerin schwer verletzt worden; ihr Kind sei nach einigen Monaten an den Unfallfolgen gestorben. Der Lenker des Omnibusses sei mit dem Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 22. März 1983 schuldig erkannt worden, durch Nichteinhalten der rechten Fahrbahnseite, was zum Frontalzusammenstoß mit dem entgegenkommenden PKW geführt habe, fahrlässig den Tod des Kindes und eine schwere Körperverletzung der Klägerin und einer weiteren Person herbeigeführt zu haben, und sei wegen der Vergehen der fahrlässigen Tötung nach §80 StGB und der fahrlässigen Körperverletzung nach §88 Abs4 erster Fall StGB zu einer bedingt nachgesehenen Geldstrafe verurteilt worden. Diesem Erkenntnis liege unter anderem die Feststellung zugrunde, daß der 2,40 m breite Omnibus auf der 8 m breiten Fahrbahn mit mindestens einem Drittel seiner Breite links über der Fahrbahnmitte gefahren sei. Das Berufungsgericht habe zwar der Berufung wegen Strafe Folge gegeben und den Tagessatz herabgesetzt, die Tatsachenfeststellungen des Strafgerichtes erster Instanz jedoch übernommen, darunter insbesondere auch, daß der Omnibus mit mindestens einem Drittel seiner Breite links über der Fahrbahnmitte gefahren sei. Beide Instanzen hätten sich dabei auf ein Sachverständigengutachten gestützt.
In einem von der Halterin des Omnibusses gegen die nunmehrige Klägerin und deren Haftpflichtversicherer angestrengten Zivilprozeß habe eine photogrammetrische Auswertung der nach dem Unfall aufgenommenen Lichtbilder durch einen Vermessungssachverständigen stattgefunden. Durch einen weiteren Sachverständigen sei eine mikroskopische Feinauswertung des Tachographenblattes durchgeführt worden. Auf diesen neuen Gutachten fußend halte ein Verkehrsunfall-Sachverständiger das im Strafverfahren eingeholte Gutachten für widerlegt. Er nehme eine Geschwindigkeit des Omnibusses von 40 km/h und einen Seitenabstand von etwa 1,5 m zum rechten Fahrbahnrand an, also eine Fahrweise, bei der der Omnibus zwar nahe an der Fahrbahnmitte gefahren sei, diese jedoch nicht überschritten habe.
Im Zivilprozeß der Omnibushalterin gegen die Klägerin sei daraufhin Ruhen des Verfahrens eingetreten.
Im Hinblick auf das Ergebnis des neuen Gutachtens habe der Lenker des Omnibusses zwar einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens gestellt, dieser sei aber in beiden Instanzen mit der Begründung abgewiesen worden, daß auch bei einem Fahren hart an der Mittellinie ein Verschulden im Sinne des §7 Abs2 StVO anzunehmen sei, weil der Omnibus am rechten Fahrbahnrand hätte fahren müssen.
Nunmehr mache die Klägerin Schäden von insgesamt 235.023,76 S geltend und behaupte das Alleinverschulden des Omnibuslenkers, der mit einem Drittel des 2,4 m breiten Busses auf der dem Gegenverkehr vorbehaltenen Fahrbahnseite entgegengekommen sei und die Klägerin zum Abbremsen veranlaßt habe, wodurch ihr PKW gegen den Omnibus geschleudert worden sei. Der beklagte Verband der Versicherungsunternehmungen wende ein, daß der Omnibus zu keinem Zeitpunkt über die Fahrbahnmitte geraten, sondern ordnungsgemäß rechts gefahren sei, und die Klägerin ein erhebliches Mitverschulden treffe, weil selbst dann, wenn der Omnibus an der Fahrbahnmitte gefahren sei, ein Passieren leicht möglich gewesen wäre. Das Landesgericht habe mit Urteil vom 21. Oktober 1988 ausgesprochen, daß das Klagebegehren mit einem Betrag von 155.046,56 S zu Recht, die eingewendete Gegenforderung nicht zu Recht bestehe, und habe den beklagten Verband zur Zahlung des genannten Betrages verurteilt. Es habe unter Übernahme der Feststellungen im Strafverfahren festgestellt, daß der Omnibus mit mehr als einem Drittel seiner Breite links über der Fahrbahnmitte gefahren sei, und dazu auf die Bindungswirkung des Strafurteils verwiesen, an der auch der Umstand nichts ändere, daß die Feststellungen den Tatsachen zuwiderliefen und das Ergebnis allenfalls unbillig sei. Dieses Urteil werde vom beklagten Verband in den Tatsachenfeststellungen mit der Begründung bekämpft, die Annahme der Bindung gegenüber einer im Strafverfahren nicht beteiligten Partei verstoße gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör, wogegen die Klägerin einwende, der Halter hätte sich dem Strafverfahren als Privatbeteiligter anschließen können. Das antragstellende Gericht hätte nun §268 ZPO anzuwenden:
"Auch wenn, dem Strafgericht folgend, davon ausgegangen wird, daß dem Lenker des Omnibusses jedenfalls ein Verstoß gegen §7 Abs2 StVO vorzuwerfen ist, weil er nicht am rechten Fahrbahnrand gefahren ist, so ist die Frage der vom Omnibuslenker eingehaltenen Fahrlinie dennoch von entscheidungswesentlicher Bedeutung. Für den nach §11 Abs1 letzter Satz EKHG vorzunehmenden Ausgleich kommt es nach ständiger Rechtsprechung in erster Linie auf das Verschulden der Lenker an, wobei immer das Ausmaß des Verschuldens, also der Grad der dem einzelnen Beteiligten zur Last fallenden Fahrlässigkeit maßgeblich ist. Im vorliegenden Falle wiegt der Verstoß des Omnibuslenkers gegen §7 Abs2 StVO umso schwerer, je weiter er links gefahren ist. Umgekehrt ist die Fehlreaktion der Klägerin (der jedenfalls genug Platz zum Passieren geblieben wäre) in umso milderem Licht zu sehen, je weiter links ihr der Omnibus entgegengekommen ist."
Gegen diese Vorschrift bestünden Bedenken wegen Verstoßes gegen Art6 Abs1 der im Verfassungsrang stehenden Menschenrechtskonvention (MRK):
"Die im §268 ZPO normierte Bindungswirkung rechtskräftiger verurteilender Erkenntnisse des Strafgerichtes hat nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Folge, daß der Zivilrichter keine vom Straferkenntnis abweichende Feststellungen bezüglich des Nachweises der strafbaren Handlung, ihrer Zurechnung und des Kausalzusammenhangs zwischen der strafbaren Handlung und deren Folgen treffen darf (ZVR 1987/93 mwN). Die Bindungswirkung erstreckt sich auf die den Schuldspruch begründenden Tatsachen, also jene, die in ihrer Gesamtheit den Straftatbestand ergeben, wobei es gleichgültig ist, ob diese Tatsachen in den Urteilsspruch des Strafurteiles aufgenommen wurden oder sich aus seinen Gründen ergeben (ZVR 1978/50 u.a.).
Zweifel könnten sich in der Richtung ergeben, ob §268 ZPO auch dann anzuwenden ist, wenn das Problem der Bindung gegenüber Parteien auftritt, die im Strafverfahren kein rechtliches Gehör haben. Einer derartigen (verfassungskonformen ?) Auslegung des §268 ZPO widerspricht der Umstand, daß der Wortlaut des §268 ZPO eine derartige Ausnahme nicht vorsieht. Der Oberste Gerichtshof bejaht demgemäß auch in einem solchen Fall die Bindungswirkung strafgerichtlicher Erkenntnisse (RZ 1977/75; ZVR 1979/127; EvBl 1982/165 u.a.).
Daß der Gesetzgeber eine Bindungswirkung des Straferkenntnisses gegenüber im Strafverfahren nicht vertretenen Parteien nicht gewollt habe, ist zumindest seit der durch die ZVN 1983 neu geschaffenen Bestimmung des §281 a ZPO auszuschließen, in der die Benützung von in einem anderen Verfahren aufgenommenen Beweisen unter anderem an die Voraussetzung geknüpft ist, daß die Parteien auch an dem anderen Verfahren beteiligt gewesen sind, während diese Voraussetzung für die Anwendbarkeit des - in seinen Folgen schwerer wiegenden - §268 ZPO nicht normiert wird.
Das Berufungsgericht gelangt daher für das vorliegende Verfahren zum Ergebnis, daß es trotz des Umstandes, daß die Beklagte im Strafverfahren nicht beteiligt war, §268 ZPO anzuwenden hat und an die maßgeblichen Feststellungen des Strafgerichtes (insbesondere hinsichtlich des Seitenabstandes des Omnibusses) gebunden ist, obwohl schwerwiegende Bedenken gegen die Richtigkeit dieser für die Entscheidung des Berufungsgerichtes maßgeblichen Feststellungen bestehen.
Der Oberste Gerichtshof hat die bindende Wirkung des strafgerichtlich verurteilenden Erkenntnisses auch gegen jeden Dritten unter Hinweis auf das von Fasching in seinem beim Dritten Österr. Juristentag abgegebene Gutachten (Band I, erster Teil, 35 f) als verfassungsrechtlich unbedenklich und insbesondere mit Art6 Abs1 MRK vereinbar angesehen (RZ 1977/75) und ist bei dieser Ansicht auch weiter verblieben (EvBl 1982/164). Fasching hat diese Bindungswirkung, ohne allerdings auf die Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit einzugehen, bereits in seinem Kommentar zu den Zivilprozeßgesetzen (III 255) vertreten. Fasching ist allerdings von seiner Ansicht wieder abgerückt und betont in einem am 20.1.1983 beim Internationalen Fachseminar Straßenverkehrsunfall und Fahrzeugschaden in Bad Gastein gehaltenen Referat (ZVR 1983, 328), daß auch die Bindungsnorm des §268 ZPO im Zuge der Wandlung unserer Wertvorstellung einem Bedeutungswandel unterworfen ist. Heute wird das rechtliche Gehör zunehmend als ein prozessuales Grund- und Menschenrecht erkannt, das nicht nur dem Verfahrenszweck dient, sondern Ausdruck der Menschenwürde und Eigenpersönlichkeit im Angesicht der durch das Gericht verkörperten Staatsmacht ist. Bei einer solchen Sicht des rechtlichen Gehörs, wie sie auch die Europäische Menschenrechtskonvention in Art6 verankert, wird eine Verletzung des Gehörs durch eine Bindungsnorm nicht mehr tolerabel, dies umso weniger, als der praktische Effekt der Bindungsnorm in diesem Punkt nur gering und daher kaum schützenswert ist (soweit Fasching aa0). In seinem Lehr- und Handbuch des Zivilprozeßrechtes führt Fasching aus (Rdz 862), daß dann, wenn die Partei, zu deren Nachteil die strafgerichtlichen Feststellungen wirken, im Strafprozeß kein rechtliches Gehör hatte, die Annahme einer Bindung gegen ihr verfahrensrechtliches Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art6 MRK) verstößt und die Bindung nur dann eintreten darf, wenn die von der Feststellung betroffene Partei im Strafprozeß Gehör und Antragsrecht hatte. Auch Bauerreiss erachtet die Bindungswirkung des §268 ZPO dann, wenn das Strafurteil gegen eine von den Parteien des Zivilprozesses verschiedene Person ergangen ist, als gegen Art6 Abs1 MRK verstoßend (ZVR 1974, 69 f, JBl 1977, 582 f).
Zu den Garantien, die Art6 Abs1 MRK gewährleistet, zählt das rechtliche Gehör. Es ist allgemein anerkannt, daß das rechtliche Gehör im Sinne dieser Bestimmung in einem Zivilverfahren nicht nur dann verletzt wird, wenn einer Partei die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, überhaupt genommen wurde. Eine solche Verletzung wird vielmehr auch dann angenommen, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrundegelegt wurden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten (SZ 54/124). Gerade jenes Recht wird aber den Prozeßparteien durch §268 ZPO verwehrt, die an dem Strafverfahren nicht beteiligt waren, an dessen maßgebliche Ergebnisse der Zivilrichter nach §268 ZPO gebunden ist. Eine Auslegung des §268 ZPO im dem Sinne, daß diese Bestimmung nur auf Fälle anzuwenden sei, in denen die Prozeßparteien am Strafverfahren beteiligt waren, läßt der Wortlaut des §268 ZPO, wie bereits ausgeführt, nicht zu. Auch eine Vertröstung der betroffenen Partei darauf, es wäre ihr freigestanden, sich dem Strafverfahren als Privatbeteiligter anzuschließen, vermag nicht zu überzeugen. Zum einen kommt es häufig - so wie im vorliegenden Falle - vor, daß die betroffene Partei des Zivilverfahrens nicht an einer Verurteilung des im Strafverfahren Beschuldigten interessiert ist, was Voraussetzung der Privatbeteiligung ist, sondern an einer Entlastung des Beschuldigten. Zum anderen ist einer Prozeßpartei, die - wie hier - nur über mehrere Umwege zur Haftung herangezogen werden kann, für gewöhnlich die Tatsache eines Strafverfahrens zu einer Zeit, zu welcher ein Beitritt als Privatbeteiligter in Betracht kommt, nicht bekannt."
Die Bundesregierung verteidigt die Verfassungsmäßigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift mit folgenden Gründen:
"Verfahren, in denen §268 ZPO anzuwenden ist, sind zum weitaus überwiegenden Teil Schadenersatzprozesse gegen strafgerichtlich Verurteilte; die Bindung des Zivilgerichtes an den Inhalt des verurteilenden Straferkenntnisses wirkt sich dabei also nur gegen den Verurteilten selbst aus. Dieser hat aber im Strafverfahren die Möglichkeit, sich gegen die (auch) der zivilrechtlichen Haftung zugrundeliegenden Vorwürfe zu wehren. Hinsichtlich des Klägers im Zivilverfahren stellt aber - entgegen den Ausführungen des antragstellenden Gerichtes - das in der Praxis auch durchaus geübte Recht, sich einem Strafverfahren als Privatbeteiligter anzuschließen, grundsätzlich eine Möglichkeit dar, vom Recht auf das 'öffentliche Gehör' Gebrauch zu machen und auf das Verfahrensgeschehen Einfluß zu nehmen.
Im übringen ist die Regelung des §268 ZPO für die Rechtspflege von wesentlicher Bedeutung: Sie soll - im Sinne der ... Erläuternden Bemerkungen - vor allem sicherstellen, daß Feststellungen, die im Strafverfahren - in dem bekanntlich der Grundsatz der amtswegigen Wahrheitsforschung gilt - getroffen wurden, nicht in einem Verfahren in Frage gestellt werden können, für das dieser Grundsatz nicht gilt. Ihr Wegfall würde, abgesehen von einer erheblichen Mehrbelastung der Zivilgerichte, die Gefahr schwer verständlicher und damit das Ansehen der Justiz beeinträchtigender Entscheidungsdivergenzen mit sich bringen."
Über diese Gründe hinaus sei die Vorschrift jedenfalls einer verfassungskonformen Auslegung dahin zugänglich, daß die Bindung nur eintrete, wenn den Parteien im Strafverfahren rechtliches Gehör gewährt wurde.
II. Der Gesetzesprüfungsantrag ist zulässig.
Es ist nichts hervorgekommen, was gegen die Annahme des antragstellenden Gerichtes spräche, es hätte in dem bei ihm anhängigen Rechtsmittelverfahren auch §268 ZPO anzuwenden.
Auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen sind gegeben.
III. Der Antrag ist auch begründet. §268 ZPO widerspricht dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein rechtliches Gehör (Art6 Abs1 MRK).
1. In der Zeit vor der Schaffung der geltenden Zivilprozeßgesetze war die Frage nach der Bindung des Zivilrichters an Urteile des Strafgerichts strittig. Der Entwurf einer neuen Zivilprozeßordnung aus 1874 hatte auf eine solche Vorschrift mit der Begründung verzichtet, daß es kaum möglich sei, in allgemein gültiger Weise die Grenze festzusetzen, innerhalb welcher es dem Zivilrichter verboten sein solle, sich eine selbständige Überzeugung über eine in einem andern Verfahren festgestellte Tatsache zu bilden, und zu bestimmen, inwieweit es ihm gestattet sei, zur Beruhigung seines Gewissens noch Beweisführungen zuzulassen (535 Blg AH, 8.Sess; auch bei Fasching, Gutachten zum
3. ÖJT I/1, 22f). §268 ZPO geht auf §279 der Regierungsvorlage über die Zivilprozeßordnung aus 1893 zurück. Die Erläuterungen zu dieser Regierungsvorlage (688 Blg. AH, 9.Sess, 264 f) führen darüber aus:
"Was die Frage betrifft, welcher Einfluß einer mittels Strafurtheil erfolgten Thatsachenfeststellung auf die Beweisführung im Civilprocesse einzuräumen sei, beschränkt sich der Entwurf darauf, den Inhalt des über die bezügliche Thatsache ergangenen, verurtheilenden strafgerichtlichen Erkenntnisses als für den Civilrichter bindend zu erklären (§. 279). Wenigstens in diesen Grenzen Widersprüche zwischen civilgerichtlichen und strafrichterlichen Erkenntnissen hintanzuhalten wird durch wichtige rechts- und legislativ-politische Gründe gefordert, die sowohl auf Seite des Strafrechtsschutzes liegen, als mit den Zweckmäßigkeitsrücksichten zusammenhängen, welche für die Einrichtung des civilgerichtlichen Verfahrens maßgebend sind. Sieht man auf die zur Zeit für die strafgerichtliche Verfolgung bestehenden Einrichtungen, so kann es weder für nothwendig, noch für wünschenswert erachtet werden, nach durchgeführtem Strafprocesse eine Wiederholung des ganzen Beweisverfahrens vor dem Civilgerichte, und damit gewissermaßen eine Überprüfung des Strafprocesses durch den Zivilrichter zuzulassen. Insbesondere muß hier auch auf das Institut der Schwurgerichte Bedacht genommen werden. Die Consequenz des Grundsatzes freier Beweiswürdigung darf nicht so weit geführt werden, daß dadurch die Rechtssicherheit gefährdet, das Vertrauen in die Gerechtigkeit der erflossenen strafgerichtlichen Erkenntnisse erschüttert werde. Hingegen ist das Beweisverfahren im Strafprocesse ein so eindringliches und freies, der Strafrichter mit der Beurtheilung der Thatsachenwahrheit und mit der Sachverhaltsfeststellung so vertraut, daß seiner Entscheidung über die Wahrheit oder Unwahrheit processerheblicher Thatsachen volle Verläßlichkeit innewohnt. Die Gleichheit der Beweisgrundsätze, welche fortan in beiden Arten des gerichtlichen Verfahrens herrschen soll, macht dieses Herüberwirken der strafgerichtlichen Thatsachenfeststellung noch begreiflicher. Trotz alledem konnte jedoch nur der Inhalt eines condemnirenden strafricherlichen Erkenntnisses für den Zivilrichter bindend erklärt werden. Denn das freisprechende Erkenntnis muß nach den Vorschriften der gegenwärtigen Strafprocessordnung nicht nothwendig mit der Entscheidung zusammenfallen, daß die der Anklage zugrunde liegenden Thatsachen unwahr und unbewiesen sind. Deshalb kann auch keine derart allgemeine Regel ausgesprochen werden, wie hinsichtlich der condemnirenden Urtheile. Einem freisprechenden Erkenntnisse gegenüber besteht das freie Beweiswürdigungsrecht des Richters ungeschmälert fort. Gründet sich concretenfalls der Freispruch darauf, daß sich die nun auch im Civilprocesse wichtig werdenden Thatsachen nicht zugetragen haben, dann kann eine solche Feststellung immerhin im Sinne des §. 282 auf die Bildung der Überzeugung des Civilrichters großen Einfluß haben."
Der Wortlaut der angegriffenen Vorschrift ("... von dem Beweise und der Zurechnung einer strafbaren Handlung abhängt ...") ließe eine Auslegung zu, wonach die darin angeordnete Bindung nur eintreten würde, wenn die für den Zivilrichter maßgebliche Vorschrift auf die Begehung einer Straftat abstellt (wie zB die §§335 oder 1331 ABGB). Die Formulierung der Motive ("welcher Einfluß einer mittels Strafurteil erfolgten Tatsachenfeststellung ... einzuräumen sei") und der erklärte Zweck der Vorschrift, eine "Überprüfung des Strafprozesses durch den Civilrichter" zu vermeiden, damit das "Vertrauen in die Gerechtigkeit der erflossenen strafgerichtlichen Erkenntnisse" nicht erschüttert werden, zwingen jedoch zu der für die bisherige Praxis maßgeblichen Annahme, daß die Bindung den Beweis und die Zurechnung einer Handlung betrifft, die zugleich strafbar ist, sodaß darüber ein Strafurteil ergangen ist. Aus dem Wortlaut ("eine strafbare Handlung"), der Entstehungsgeschichte und dem Sinn des Instituts muß auch geschlossen werden, daß die Bindung nicht etwa nur dem Verurteilten gegenüber oder allenfalls zu Lasten von Prozeßparteien wirken soll, die vor dem Strafgericht sonst als Beteiligte aufgetreten sind. Vielmehr wird jedermann vom Gesetzgeber auf die "volle Verläßlichkeit" der strafgerichtlichen Entscheidung über die Wahrheit oder Unwahrheit prozeßerheblicher Tatsachen verwiesen. Von der Annahme, der strafgerichtlich Verurteilte habe die ihm im Strafurteil zur Last gelegte Tat wirklich begangen, muß der Zivilrichter also in allen Verfahren ausgehen, in denen diese Tat rechtserheblich ist. Der Verfassungsgerichtshof folgt insoweit der im Antrag näher geschilderten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes.
2. Daß eine solche Regelung in offenkundigem Widerspruch zu dem in Art6 Abs1 MRK jedermann gewährleisteten Recht steht, von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht gehört zu werden, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen zu entscheiden hat, bedarf keiner näheren Begründung. Wer den Beweis und die Zurechnung einer für die Entscheidung über seine Ansprüche und Verpflichtungen wesentlichen Handlung im zivilgerichtlichen Verfahren nicht in Frage stellen kann, weil das Gericht an die Entscheidung in einem andern (strafgerichtlichen) Verfahren gebunden ist, zu welchem er aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen keinen Zugang hatte, dessen Anspruch auf Gehör durch das seine Sache entscheidende unabhängige und unparteiische Gericht ist nicht erfüllt. Die gegenteilige Aussage des Obersten Gerichtshofs stützt sich allein auf das Votum Faschings in dem schon genannten Gutachten für den dritten Österreichischen Juristentag 1967 (vgl. die Verweisungskette EvBl 1982/164 - RZ 1977/75 - Fasching). Dort wird unter Hinweis auf ähnliche Regelungen in den Rechtsordnungen anderer Europäischer Staaten das Recht auf Gehör auf die bloße Begründung und Dartuung des Anspruchs bezogen und behauptet, Art6 MRK garantiere kein unbeschränktes Sachvorbringen (weil sonst schon die wechselseitige Bindung der Staatsorgane einen Verstoß bedeuten würde). Diese Ansicht wird der Bedeutung nicht gerecht, die Art6 MRK im Zuge seiner Anwendung durch die Europäischen Organe insgesamt erlangt hat. Fasching selbst ist davon spätestens im Jahr 1984 abgegangen (erste Auflage des Lehrbuchs des Österreichischen Zivilprozeßrechts, Rdz 862). Es mag unter besonderen Umständen - etwa bei Statusentscheidungen - zulässig sein, bestimmte Rechtsfolgen aus behördlichen oder gerichtlichen Akten abzuleiten, die unter Ausschluß der von diesen - sekundären - Folgen Betroffenen ergangen sind. Denn es kann Gründe geben, die für diese Folgen maßgebliche Entscheidung nicht als eine solche über "deren Sache" im Sinne des Art6 Abs1 MRK anzusehen (vgl. B639/87 vom 13. Dezember 1988 - Feststellung der Invalidität). Das für die Einführung des §268 ZPO ausschlaggebend gewesene rechtspolitische Bedürfnis, Feststellungen eines Strafurteils von niemandem in Frage stellen zu lassen, kann eine derart umfassende, alle denkbaren - auch die schwerwiegendsten - zivilrechtlichen Folgen mit einschließende Bindung aber keinesfalls rechtfertigen (vgl. den Diskussionsbeitrag Bydlinskis auf dem 3.ÖJT II/1, 96 ff).
Zu prüfen ist daher nur, ob die angegriffene Vorschrift im Wege verfassungskonformer Auslegung gemäß der Anregung der Bundesregierung derart eingeschränkt verstanden werden kann, daß den Bedenken aus dem Blickwinkel des Art6 Abs1 MRK der Boden entzogen wird. Dabei müßte die Bindung im Hinblick auf den beschränkten Zweck einer Privatbeteiligung wohl auf den Verurteilten selbst eingeschränkt werden. Der Verfassungsgerichtshof hält eine solche einschränkende Auslegung aber für ausgeschlossen:
Zunächst könnte man den Umfang der Bindung weder aus dem Text noch aus dem Zweck des Gesetzes oder der Absicht des Gesetzgebers ableiten, weil sich aus all dem nur die uneingeschränkte Geltung ergibt. Die Grenze müßte allein aus Art6 MRK abgeleitet werden. Vor allem bestehen aber erhebliche Zweifel, ob die mit einer unvollständigen Verwirklichung des Gesetzeszweckes verbundenen Auswirkungen vom - hypothetischen - Willen des Gesetzgebers überhaupt noch getragen würden. Tritt nämlich die Bindung in einer beachtlichen Zahl von Fällen nicht ein, so wird nicht nur das ursprüngliche Ziel der Bestimmung, eine "Überprüfung des Strafprozesses durch den Civilrichter" zu vermeiden, nicht mehr erreicht; vielmehr wirft das Nebeneinander gebundener und nicht gebundener Beteiligter - etwa in Fällen des Rückgriffs oder der Haftung Dritter - eine Reihe von rechtspolitischen Fragen auf, die der Lösung durch den Gesetzgeber bedürfen. Eine allfällige Bindung des Zivilrichters an ein Strafurteil - zu welchem Zweck immer - im Einklang mit Art6 MRK zu regeln und abzugrenzen, ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs oder der Strafgerichte, sondern des Gesetzgebers.
Dem Antrag ist daher Folge zu geben.
IV. Von der Bestimmung einer Frist für das Inkrafttreten der Aufhebung sieht der Gerichtshof ab, weil allfällige legistische Vorkehrungen nicht lückenlos an die bisher geltende Regelung anschließen müssen und ohne zwingende Gründe nicht ein konventionswidriges Vorgehen angeordnet bleiben soll.
Der Ausspruch über die Kundmachung stützt sich auf Art140 Abs5 B-VG.
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