VfGH G7/89

VfGHG7/8929.9.1989

Ahndung des unbefugten Betriebes von Versicherungsgeschäften als Verwaltungsübertretung; Tatbestand bildet inhaltlich Gegenstand einer strafrechtlichen Anklage nach Art6 Abs1 MRK;

nachprüfende Kontrolle durch ein Tribunal nicht ausreichend;

vom Vorbehalt zu Art5 MRK nicht erfaßt; im Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes geltende Vorläuferbestimmung dem Justizstrafrecht zugehörig

Normen

B-VG Art140 Abs3 erster Satz
B-VG Art140 Abs5 / Fristsetzung
MRK Vorbehalt zu Art5
MRK Art6 Abs1 / Strafrecht
MRK Art6 Abs1 / Tribunal
VersicherungsaufsichtsG §110 idF BGBl 558/1986
VersicherungsaufsichtsG §115 Abs1
B-VG Art140 Abs3 erster Satz
B-VG Art140 Abs5 / Fristsetzung
MRK Vorbehalt zu Art5
MRK Art6 Abs1 / Strafrecht
MRK Art6 Abs1 / Tribunal
VersicherungsaufsichtsG §110 idF BGBl 558/1986
VersicherungsaufsichtsG §115 Abs1

 

Spruch:

§110 des Bundesgesetzes vom 18. Oktober 1978, BGBl. Nr. 569, über den Betrieb und die Beaufsichtigung der Vertragsversicherung (Versicherungsaufsichtsgesetz - VAG), in der Fassung BGBl. Nr. 558/1986, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt am 31. März 1990 in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. §110 VAG idF BGBl. 558/1986 lautet:

"Wer ohne Konzession oder nach Untersagung des Geschäftsbetriebes Versicherungsgeschäfte betreibt, begeht, wenn die Handlung nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht ist, eine Verwaltungsübertretung und ist von der Versicherungsaufsichtsbehörde mit einer Geldstrafe bis 1.000.000,-

Schilling zu bestrafen."

Versicherungsaufsichtsbehörde ist gemäß §115 Abs1 VAG der Bundesminister für Finanzen.

2. Aufgrund der wiedergegebenen Vorschrift des §110 VAG in Verbindung mit §9 Abs1 VStG wurde der Beschwerdeführer in dem Verfahren, das der zu B1378/87 protokollierten Beschwerde zugrundeliegt, bestraft. In der Begründung seines Straferkenntnisses führt der Bundesminister für Finanzen aus, daß die Bank, deren Vorstandsvorsitzender der Beschwerdeführer ist, durch das Anbieten einer bestimmten Zusatzvereinbarung, welche die Bezeichnung "Ablebensklausel" trage, zu Kreditverträgen den Tatbestand des §110 VAG verwirklicht habe, weil besagte Ablebensklausel als Lebensversicherungsgeschäft zu qualifizieren sei.

3. Aus Anlaß der gegen das Straferkenntnis des Bundesministers für Finanzen erhobenen Beschwerde gemäß Art144 B-VG leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 B-VG von Amts wegen das gegenwärtige Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §110 VAG ein.

In seinem Einleitungsbeschluß ging der Verfassungsgerichtshof vorläufig davon aus, daß §110 VAG dem Art6 MRK widerspreche, weil die nach dieser Gesetzesbestimmung vorgesehene Strafe nicht von einem "Tribunal" im Sinne des Art6 MRK zu verhängen sei und die Verwaltungsstrafbestimmung des §110 VAG vom Vorbehalt, den die Republik Österreich zu Art5 MRK erklärte, nicht erfaßt werde. Der Verfassungsgerichtshof zog ferner in Zweifel, ob die Zuständigkeit des Bundesministers für Finanzen zur Ahndung der Verwaltungsübertretung nach §110 VAG in erster und letzter Instanz dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz entspricht. Schließlich machte der Verfassungsgerichtshof gegen §110 VAG noch dieselben Bedenken geltend, die er in seinem Prüfungsbeschluß vom 2.12.1988 zu B744/87 gegen die Bestimmung des §35 Vergnügungssteuergesetz für Wien 1963, LGBl. 11, idF der Vergnügungssteuergesetznovelle 1976, LGBl. 37, und der Vergnügungssteuergesetznovelle 1981, LGBl. 16, äußerte und bezweifelte somit, ob es verfassungsrechtlich im Hinblick auf Art91 B-VG und auf den Gleichheitssatz zulässig ist, daß der Gesetzgeber Verwaltungsbehörden zur Verhängung von Strafen in einer Höhe und Intensität ermächtigt, wie sie §110 VAG vorsehe.

4. Die Bundesregierung trat in ihrer Äußerung zwar den Bedenken entgegen, die der Zuständigkeit des Bundesministers für Finanzen zur Anwendung des §110 VAG in erster und letzter Instanz galten, sowie den Bedenken, die sich auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Höhe und Intensität der vorgesehenen Strafe bezogen. Sie äußerte sich hingegen nicht zur Vereinbarkeit des §110 VAG mit Art6 Abs1 MRK.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. In seinem Prüfungsbeschluß ging der Gerichtshof vorläufig davon aus, daß der meritorischen Erledigung der erhobenen Beschwerde keine Prozeßhindernisse entgegenstehen und daß er bei seiner Entscheidung über die Beschwerde §110 VAG anzuwenden hätte.

An diesen Annahmen über die Zulässigkeit der Anlaßbeschwerde und über die Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Vorschrift des §110 VAG hält der Verfassungsgerichtshof fest.

2. Das Bedenken des Verfassungsgerichtshofes, daß §110 VAG den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art6 Abs1 MRK nicht genügt, trifft zu.

a. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinen Erkenntnissen vom 14.10.1987, G181/86 u.a., sowie vom 1.10.1988, G164 - 166/88, näher ausgeführt hat, muß bei strafrechtlichen Anklagen im Sinne des Art6 Abs1 MRK ein Organ, das als unabhängiges Tribunal zu qualifizieren ist, selbst den Sachverhalt feststellen und die Entscheidung fällen; die bloß nachprüfende Kontrolle durch ein Tribunal, etwa durch den Verwaltungsgerichtshof, genügt dieser Rechtsprechung zufolge den Anforderungen des Art6 Abs1 MRK nicht.

Die Verwaltungsübertretung des unbefugten Betriebs von Versicherungsgeschäften nach §110 VAG bildet ihrem Inhalt nach den Gegenstand einer strafrechtlichen Anklage nach Art6 Abs1 MRK. Dies erhellt bereits aus der Entstehungsgeschichte der in Prüfung gezogenen Vorschrift. Ihr Vorläufer war nämlich die aufgrund der Verordnung vom 28. Februar 1939, DRGBl. I S. 365, geltende Vorschrift des §140 Abs1 des Versicherungsaufsichtsgesetzes vom 6. Juni 1931, DRGBl. I S. 315 ("Wer im Inland das Versicherungsgeschäft ... ohne die vorgeschriebene Erlaubnis betreibt, wird mit Geldstrafe oder mit Haft oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft."), welche aufgrund des §3 Abs1 Strafanwendungsgesetzes, StGBl. 148/1945, den Tatbestand einer von den Gerichten zu ahndenden Übertretung festlegte. Die mit der Absicht der "Entkriminalisierung des Versicherungsaufsichtsrechtes" (so die Vorbemerkung zu §108 VAG, in: Versicherungsaufsichtsgesetz 1978, Hrsg. Pollak, 1979, 147) vom Gesetzgeber bewirkte Umwandlung des gerichtlich strafbaren Tatbestandes des §140 Abs1 VAG 1931 in den Verwaltungsstraftatbestand des §110 VAG (1978) hat am Charakter dieser Sanktion als Strafmaßnahme nichts geändert. Bei der "Geldstrafe bis 1.000.000,- Schilling" nach §110 VAG handelt es sich um keine bloß administrative Maßnahme zur Herstellung des gesetzmäßigen Zustandes. Vielmehr enthält §110 VAG auch jenes "vom Gesetzgeber dem sanktionierten Verhalten gegenüber ausgesprochene Unwerturteil", das der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 14.10.1987, G181/86 u.a., als für das Wesen eines Straftatbestandes im Sinne des Art6 MRK kennzeichnend ansah.

b. Daß die Ahndung von Übertretungen nach §110 VAG den verfassungsgesetzlichen Garantien des Art6 MRK unterliegt, wird auch vom Vorbehalt Österreichs zu Art5 MRK nicht ausgeschlossen. Denn dieser Vorbehalt umfaßt neben den zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes geltenden Verwaltungsvorschriften spätere, nach Erklärung des Vorbehaltes vom Gesetzgeber aufgestellte Verwaltungsstraftatbestände nur dann, wenn diese keine nachträgliche Erweiterung jenes materiell-rechtlichen Bereiches bewirken, der durch die Abgabe des Vorbehaltes ausgeschlossen werden sollte (VfSlg. 11369/1987, 11371/1987 und VfGH 1.10.1988, G164-166/88).

Nach Erklärung des Vorbehaltes geschaffene Verwaltungsstraftatbestände sind daher von diesem nur dann gedeckt, wenn gleichartige Straftatbestände bereits in Verwaltungsvorschriften enthalten waren, die vor dem 3. September 1958 (dem Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes) erlassen worden waren, oder wenn sich die nach dem genannten Zeitpunkt neu erlassenen gesetzlichen Verwaltungsstraftatbestände als systemimmanente Fortentwicklung der zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes geltenden Verwaltungsstrafvorschriften darstellen (vgl. VfSlg. 8234/1978, 10291/1984, 11369/1987, 11371/1987).

Schon der Umstand, daß zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes, d.i. zum 3. September 1958, der unbefugte Betrieb von Versicherungsgeschäften durch die bereits dargestellte Bestimmung des §140 Abs1 VAG 1931 zum Bereich des Justizstrafrechtes zählte, schließt es aus, daß sich §110 VAG, der - in seiner Fassung vor der Novelle BGBl. 558/1986 - mit 1. Jänner 1979 in Kraft trat (§119 Abs1 VAG), als systemimmanente Fortentwicklung einer zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes bereits geltenden Verwaltungsstrafbestimmung verstehen läßt. Desgleichen fehlt es an einem, zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes geltenden gleichartigen Verwaltungsstraftatbestand. Der Verfassungsgerichtshof hält es auch schlechthin für ausgeschlossen, den Vorbehalt so zu verstehen, daß er es zuläßt, eine zum Zeitpunkt seiner Abgabe vorgesehene Zuständigkeit eines Gerichtes, - und sohin einen diesbezüglich den Organisations- und Verfahrensgarantien der Art5 und 6 MRK entsprechenden Rechtszustand - , zugunsten einer - sei es auch im Hinblick auf den Tatbestand gleichartigen - Verwaltungsstrafbefugnis preiszugeben. Auch die vom Gesetzgeber verfolgte Absicht der "Entkriminalisierung des Versicherungsaufsichtsrechtes" gestattet keine Deutung des Vorbehaltes zu Art5 MRK, wonach sich dieser auch auf (später) verwaltungsstrafrechtlich sanktionierte Übertretungen bezieht, die zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes von den Gerichten zu ahndende Straftatbestände bildeten.

c. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 14.10.1987, G181/86 u.a., dargelegt hat, reicht die (bloß) nachprüfende Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof oder Verfassungsgerichtshof bei einem Strafverfahren wie es §110 VAG vorsieht, nicht aus, um den Garantien des Art6 MRK zu genügen. Die Verhängung einer Strafe nach §110 VAG kommt sohin verfassungsrechtlich nur in Betracht, wenn sie zumindest in letzter Instanz von einem "über die Stichhaltigkeit der ... strafrechtlichen Anklage" im Sinne des Art6 Abs1 MRK entscheidenden Tribunal ausgesprochen wird. Es bedarf keiner näheren Darlegung, daß der mit dem Vollzug des §110 VAG gemäß §115 Abs1 VAG betraute Bundesminister für Finanzen als Regierungsorgan kein unabhängiges Tribunal im Sinne des Art6 Abs1 MRK sein kann. Seine Strafbefugnis nach §110 VAG ist sohin verfassungswidrig.

Da durch die Beseitigung der Strafbefugnis der Versicherungsaufsichtsbehörde in §110 VAG die geschilderte Verfassungswidrigkeit schon deswegen nicht behoben würde, weil dadurch der Charakter des §110 VAG als Verwaltungsstrafbestimmung (vgl. auch die Überschrift über den ersten Abschnitt des 7. Hauptstücks des VAG, zu dem §110 VAG zählt) erhalten bliebe und lediglich - im Falle der Aufhebung der Worte "von der Versicherungsaufsichtsbehörde" in §110 VAG - die Zuständigkeitsbestimmung der §§26 ff. VStG anzuwenden wären, ist der ganze §110 VAG als verfassungswidrig aufzuheben.

3. Angesichts dieses Verfahrensergebnisses erübrigt es sich für den Verfassungsgerichtshof, auf die sonstigen, im Prüfungsbeschluß gegen §110 VAG aufgezeigten verfassungsrechtlichen Bedenken einzugehen.

4. Der Anregung der Bundesregierung, gemäß Art140 Abs5 B-VG für das Außerkrafttreten des §110 VAG eine Frist von einem Jahr zu bestimmen, ist der Verfassungsgerichtshof lediglich durch Fristsetzung bis 31. März 1990 nachgekommen. Der Gerichtshof wollte damit die Fortgeltung des dem Art6 Abs1 MRK widersprechenden Rechtszustandes möglichst beschränken, gleichzeitig aber dem Gesetzgeber die Möglichkeit wahren, in verfassungskonformer Weise einen der aufgehobenen Bestimmung entsprechenden Straftatbestand rechtzeitig neu zu schaffen.

5. Der Ausspruch, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art140 Abs6 erster Satz B-VG.

Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art140 Abs5 erster Satz B-VG und §64 Abs2 VerfGG.

Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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