European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0020OB00134.23D.0919.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiete: Persönlichkeitsschutzrecht, Zivilverfahrensrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil, das in seinem abweisenden Teil (Punkt 2 der Berufungsentscheidung) unbekämpft in Rechtskraft erwachsen ist, wird im Übrigen dahin abgeändert, dass die Entscheidung über das Leistungsbegehren als Teilurteil insgesamt lautet:
„Das Klagebegehren, die beklagten Parteien seien zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 29.460,37 EUR samt 4 % Zinsen ab Klagstag zu zahlen, wird abgewiesen.“
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Entscheidungsgründe:
[1] Am 9. 6. 2021 gegen 12:30 Uhr ereignete sich in Wien 1 im Bereich der Kreuzung der Canovagasse mit der Nebenfahrbahn des Kärntner Rings ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Radfahrer und der Zweitbeklagte als Lenker und Halter des bei der erstbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW Tesla Modell X beteiligt waren. Im Kreuzungsbereich befanden sich zum Unfallszeitpunkt keine Vorschriftszeichen, die den Vorrang explizit geregelt hätten. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug 30 km/h.
[2] Der Kläger näherte sich der Kreuzung aus Richtung Schwarzenbergplatz auf einem Radweg mit nicht näher feststellbarer Geschwindigkeit zwischen 15 km/h und 18 km/h und wollte in die Canovagasse einbiegen. Zu diesem Zeitpunkt nahm er das sich ebenfalls der Kreuzung nähernde (ihm gegenüber bevorrangte) Beklagtenfahrzeug wahr.
[3] Der Zweitbeklagte parkte mit dem Beklagtenfahrzeug in der Nebenfahrbahn des Kärntner Rings vor der Adresse Kärntner Ring 16 aus und näherte sich der Kreuzung mit einer nicht näher feststellbaren Geschwindigkeit zwischen 10 km/h und 15 km/h. Er erreichte die Kreuzung kurz vor dem Kläger und wollte ebenfalls in die Canovagasse einbiegen. Dabei bemerkte der Zweitbeklagte einen Klein-LKW, der sich der Kreuzung von rechts in der Canovagasse näherte und auch vom Kläger wahrgenommen wurde. Der Zweitbeklagte reagierte unverzüglich dadurch, dass er den Fuß vom Gaspedal nahm, wodurch das auf die starke Rekuperationsstufe eingestellte Beklagtenfahrzeug automatisch eine Betriebsbremsung mit einer Verzögerung von 3 m/s2 einleitete, die der Zweitbeklagte durch nachfolgende Betätigung des Bremspedals mit derselben Verzögerung bis zum vollständigen Stillstand fortsetzte. Nur durch diese Betriebsbremsung konnte der Klein-LKW die Kreuzung gefahrlos passieren.
[4] Wegen des geringen Abstands zum Beklagtenfahrzeug musste der Kläger sein Fahrrad mit einer Vollbremsung zum Stillstand bringen, was ihm auch gelang. Er schaffte es jedoch infolge eigenen fahrtechnischen Fehlers nicht, seine Schuhe aus den Pedalen rechtzeitig auszuklinken, weshalb er mit seinem Fahrrad seitlich stürzte.
[5] Der Kläger stützt seinen Schadenersatzanspruch darauf, dass der Zweitbeklagte ohne jegliche verkehrsbedingte Veranlassung eine plötzliche und unerwartete Vollbremsung eingeleitet habe. Der Kläger sei von dem unvorhergesehenen Abbremsen des Beklagtenfahrzeugs überrascht worden und seinerseits gezwungen gewesen, eine Vollbremsung mit dem Fahrrad einzuleiten, wodurch er gestürzt sei. Als Haftungsgrundlage wurde neben dem ABGB auch das EKHG herangezogen.
[6] Die Beklagten wandten ein, dass der Zweitbeklagte die Betriebsbremsung verkehrsbedingt vorgenommen habe. Der Kläger trage wegen überhöhter Geschwindigkeit, Unachtsamkeit bzw Fahrfehlers das Alleinverschulden an seinem Sturz.
[7] Das Erstgericht wies die Klage ab. Der Zweitbeklagte sei zu der von ihm vorgenommenen Betriebsbremsung verpflichtet gewesen, weil er ansonsten mit dem sich im Vorrang befindlichen Klein-LKW kollidiert wäre. Dem Zweitbeklagten sei kein Verschulden anzulasten, zumal er auch nicht mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs gewesen sei. Hingegen habe der Kläger mit Blick auf den erwartbaren Bremsvorgang des Beklagtenfahrzeugs das Fahrrad wegen der gewählten Fahrweise und Geschwindigkeit nicht sicher zum Stillstand bringen können. Zudem sei ihm sein fahrtechnischer Fehler vorzuwerfen, weil er beim Bremsen seine Füße nicht aus den Pedalen ausklinken habe können.
[8] In seiner dagegen erhobenen Berufung stützte der Kläger seine Ansprüche ausschließlich auf das EKHG. Ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 EKHG liege nicht vor.
[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers teilweise Folge. Es erkannte in Punkt 1 seiner Entscheidung das Leistungsbegehren dem Grunde nach zu 50 % als zu Recht bestehend. In Punkt 2 wies es das Zahlungsbegehren hinsichtlich 14.730,19 EUR sA und das Feststellungsbegehren hinsichtlich 50 % jedes weiteren Schadens unbekämpft ab. Hinsichtlich des verbleibenden Teils des Feststellungsbegehrens hob es das Ersturteil zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.
[10] Das Berufungsgericht vertrat die Ansicht, dass den Zweitbeklagten kein Verschulden treffe und er auch jede nach den Umständen des Falls gebotene Sorgfalt beachtet habe. Dennoch liege kein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 EKHG vor, weil die Bremsung des Beklagtenfahrzeugs und damit auch der Sturz des Klägers durch das Verhalten eines nicht beim Betrieb des Beklagtenfahrzeugs tätigen Dritten, nämlich des LKW-Fahrers ausgelöst worden sei. Die Beklagten hätten daher für eine außergewöhnliche Betriebsgefahr einzustehen. Der Kläger sei bei der von ihm gewählten Geschwindigkeit und Fahrweise nicht in der Lage gewesen, sein Fahrrad hinter dem „vollbremsenden Beklagtenfahrzeug“ kollisionsfrei anzuhalten. Diese Verletzung des § 18 Abs 1 StVO begründe ein Mitverschulden im Sinne des § 1304 ABGB, wobei eine Schadensteilung im Verhältnis 1:1 angemessen sei.
[11] Mangels erheblicher Rechtsfrage sei die Revision nicht zulässig.
[12] Gegen Punkt 1 der Berufungsentscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung im abweisenden Sinn. Als Folge möge der Oberste Gerichtshof auch die Zurückweisung des verbleibenden Teils des Feststellungsbegehrens beheben. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[13] Der Kläger macht in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung die Unzulässigkeit der Revision geltend; er tritt ihr auch inhaltlich entgegen. Es liege hier – wie vom Berufungsgericht zu Recht angenommen – eine außergewöhnliche Betriebsgefahr vor. Das Berufungsgericht habe diese und das nicht gravierende Verschulden des Klägers zutreffend als gleichwertig betrachtet.
Rechtliche Beurteilung
[14] Die außerordentliche Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist; sie ist deshalb auch berechtigt.
[15] 1. Das Berufungsgericht hat eine außergewöhnliche Betriebsgefahr im Widerspruch zur höchstgerichtlichen Rechtsprechung bejaht.
[16] 2.1 Eine außergewöhnliche Betriebsgefahr im Sinne von § 9 Abs 2 EKHG ist immer dann anzunehmen wenn die Gefährlichkeit, die regelmäßig und notwendig mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs verbunden ist, dadurch vergrößert wird, dass besondere Gefahrenmomente hinzutreten, die nach dem normalen Verlauf der Dinge nicht schon deshalb vorliegen, weil ein Fahrzeug im Betrieb ist (RS0058461 [T4]; RS0058467; RS0058586). Die Unbeherrschbarkeit des Fahrzeugs ist kein notwendiges Merkmal; liegt sie jedoch vor, so ist regelmäßig eine außergewöhnliche Betriebsgefahr anzunehmen (Schauer in Schwimann/Kodek, ABGB5 § 9 EKHG Rz 42).
[17] 2.2 Das entscheidende Kriterium für die Annahme einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr liegt darin, dass das Kraftfahrzeug in einer Weise verwendet wird, dass dadurch eine Gefahrenlage eintritt, die mit dem ordnungsgemäßen und normalen Betrieb nicht verbunden ist; dies gilt etwa für ein ins Rutschen oder Schleudern geratenes Kraftfahrzeug, das vom Lenker nicht mehr voll beherrscht werden kann (RS0058467 [T14]). Ein bloß verkehrsbedingtes Anhalten eines Kraftfahrzeugs ohne Hinzutreten besonderer Umstände wie etwa Schleudern oder Unkontrollierbarkeit begründet in der Regel keine außergewöhnliche Betriebsgefahr (2 Ob 170/12g).
[18] 3. Im Anlassfall waren mit dem Bremsvorgang des Zweitbeklagten keine besonderen Gefahrenmomente verbunden. Der Zweitbeklagte führte eine verkehrsbedingte, kontrollierte und gleichmäßige (wenngleich mit einer Verzögerung von 3 m/s2 stärkere) Betriebsbremsung bei geringer Ausgangsgeschwindigkeit durch. Er reagierte unverzüglich auf den entgegenkommenden Klein-LKW und setzte nach der automatisch einsetzenden Betriebsbremsung aufgrund der Rekuperation diese gleichmäßig durch die Betätigung des Bremspedals fort. Bei diesem Fahrmanöver sind keine Gefahren erkennbar, die zu den regelmäßig und notwendig mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs verbundenen hinzutreten, die normale Betriebsgefahr vergrößern und sie zu einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr machen würden. Diese Gefahrenlage ist vielmehr mit dem ordnungsgemäßen und normalen Betrieb eines jeden Kraftfahrzeugs verbunden. Auch der Umstand, dass das Elektrofahrzeug die Betriebsbremsung automatisch einleitet, sobald der Fuß vom Gaspedal genommen wird, ändert daran nichts.
[19] 4. Insoweit das Berufungsgericht offenbar von einer „Vollbremsung“ ausging, ist dem entgegenzuhalten, dass im Anlassfall eine solche Vollbremsung, also eine deutlich stärkere Bremsung als eine gewöhnliche „Betriebsbremsung" gar nicht vorlag. Davon abgesehen, gehört eine „spurhaltende Vollbremsung“ noch zum gewöhnlichen Betrieb eines Kraftfahrzeugs, solange das Fahrzeug nicht ins Schleudern gerät bzw verrissen oder unlenkbar wird (2 Ob 80/16b; RS0128516; vgl auch 2 Ob 163/20i).
[20] 5.1 Mangels außergewöhnlicher Betriebsgefahr liegt ein unabwendbares Ereignis vor, das eine auf EKHG gestützte Ersatzpflicht der Beklagten ausschließt.
[21] Eine durch eine stärkere Betriebsbremsung begründete gewöhnliche Betriebsgefahr (vgl RS0128516) würde auch durch das im Rechtsmittelverfahren unstrittige Verschulden des Klägers zurückgedrängt (RS0058551; vgl etwa 2 Ob 131/22m Rz 11).
[22] 6.1 Der außerordentlichen Revision war Folge zu geben und die (das Leistungsbegehren betreffende) angefochtene Entscheidung (= Punkt des Berufungsurteils) im zur Gänze klagsabweisenden Sinn abzuändern.
[23] 6.2 Das Ersturteil war daher – unter Einschluss der in Teilrechtskraft erwachsenen Aussprüche des Berufungsgerichts – wiederherzustellen, soweit es nicht vom Aufhebungsbeschluss betroffen ist. Weder ließ das Berufungsgericht den Rekurs gegen seinen Aufhebungsbeschluss zu noch hat aufgrund der Revisionsentscheidung überhaupt keine weitere Behandlung des von der Aufhebung umfassten Klagebegehrens mehr stattzufinden. Daher kann der Oberste Gerichtshof über den vom Aufhebungsbeschluss betroffenen Teil nicht entscheiden (RS0040804 [T4]; Musger in Fasching/Konecny³ § 519 ZPO Rz 101). Allerdings entfällt in einem solchen Fall die Bindung des Erstgerichts an eine dem Aufhebungsbeschluss zugrundeliegende, vom Obersten Gerichtshof nicht geteilte Rechtsauffassung (RS0042279). Vielmehr ist das Erstgericht im fortgesetzten Verfahren an die Rechtsansicht des Obersten Gerichtshofs gebunden (3 Ob 73/20m; RS0042279 [T3]).
[24] 6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 Abs 4 ZPO.
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