European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00107.23W.0830.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Versicherungsvertragsrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision der beklagten Partei wird nicht, jener der klagenden Partei wird Folge gegeben und die Entscheidungen der Vorinstanzen dahin abgeändert, dass sie lauten:
„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 21.840 EUR samt 4 % Zinsen seit 1. 4. 2022 zu zahlen.
2. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 4.669,38 EUR (darin enthalten 626,63 EUR an USt und 909,60 EUR an Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 6.881,64 EUR (darin enthalten 689,44 EUR an USt und 2.745 EUR an Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Zwischen dem Kläger und der Beklagten besteht ein Krankenversicherung‑Gesundheitsversicherungsvertrag, dem die Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Krankheitskosten‑ und Krankenhaustagegeldversicherung (AVB‑1995/Fassung Juli 2017; in Hinkunft: AVB) sowie die Besonderen Versicherungsbedingungen für die Krankheitskostenversicherung Krankengeldtarif für unselbstständig und selbstständig Erwerbstätige MIK 28/16_060 (in Hinkunft: BVB) zugrunde liegen. Es wurde ein tägliches Krankengeld von 60 EUR ab dem 29. Tag der 100%‑igen Arbeitsunfähigkeit vereinbart.
[2] Seit Beginn des Versicherungsvertrags (1. Juli 2017) befand sich der Kläger vom 14. Februar 2018 bis 8. Juli 2018 wegen eines Bandscheibenvorfalls für 145 Tage und vom 26. März 2020 bis zum Tag seiner Ruhestandsversetzung (1. April 2022) im Krankenstand. In beiden Fällen lag eine 100%-ige Arbeitsunfähigkeit vor.
[3] Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen(AVB) lauten – auszugsweise – wie folgt:
„ § 5
Art und Umfang des Versicherungsschutzes
(1) Art und Umfang des Versicherungsschutzes ergeben sich aus dem Tarif (den Besonderen Versicherungsbedingungen – BVB) und dem Versicherungsschein. [...]
(19) Krankengeld
In Krankheitskostentarifen, in denen Leistungen hiefür vorgesehen sind, wird bei Arbeitsunfähigkeit bei Krankheit und Unfallfolgen an vollbeschäftigte Hauptversicherte in der Sozialversicherung (Dienstnehmer), nicht aber an mitversicherte Familienangehörige, sofern sie sich während der Dauer der Erkrankung in häuslicher Pflege befinden, in der ständigen Wohnung gepflegt und behandelt werden und aufgrund der ordnungsgemäßen Krankmeldung bei der zuständigen Pflichtkrankenkasse in Krankenstand geführt werden, ein Krankengeld für eine im Tarif vorgesehene Dauer der häuslichen Pflege bezahlt.
[…]
Für einen fortlaufenden Krankenstand wird das Krankengeld nur einmal bis zum tariflichen Höchstausmaß ausbezahlt. Ein neuerlicher Krankenstand gilt als gegeben, wenn zwischen dem Abschluss des ersten Krankenstandes und dem neuerlichen Krankenstand eine mindestens sechs Wochen dauernde Dienstleistung liegt.
[…]
§ 13 Kündigung durch den Versicherungsnehmer
(1) Der Versicherungsvertrag wird auf Lebenszeit des Versicherungsnehmers abgeschlossen. Der Versicherungsnehmer hat das Recht, den Versicherungsvertrag zum Ende eines jeden Versicherungsjahres, frühestens aber zum Ablauf einer vereinbarten Vertragsdauer, mit einer Frist von drei Monaten zu kündigen.
[...]“
[4] Die Besonderen Versicherungsbedingungen(BVB) lauten – auszugsweise – wie folgt:
„Erster Abschnitt – Tarifbestimmungen
[...]
Unter Anwendung der Bestimmungen des § 1 AVB‑1995 werden folgende Leistungen erbracht. Die Höhe dieser Leistungen ergibt sich aus dem zweiten Abschnitt – Leistungen.
I. Versicherungsfall
(1) Versicherungsfall nach diesem Tarif ist der Nachweis und die Feststellung einer völligen (100%‑igen) Arbeitsunfähigkeit. [...]
(a) Ein Krankengeld für unselbständig Erwerbstätige wird nur dann vergütet, wenn eine Krankenstandsbestätigung von der gesetzlichen Sozialversicherung vorliegt. Der Versicherungsfall beginnt bei unselbständig Erwerbstätigen mit dem Eintritt der völligen Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit oder Unfallfolgen und endet, wenn keine völlige Arbeitsunfähigkeit mehr besteht.
[...]
II. Leistungsvoraussetzungen
(1) Bei einer durch Krankheit oder Unfall hervorgerufenen völligen (100%-igen) Arbeitsunfähigkeit wird nach Ablauf der vereinbarten Karenzzeit für die Dauer der völligen (100%‑igen) Arbeitsunfähigkeit und Einschluss der Sonn‑ und Feiertage ein vereinbartes Krankengeld pro Tag geleistet. Die Karenzzeit beträgt 28 Tage.
(2) Der Anspruch auf Krankengeld endet mit dem letzten Tag der nachgewiesenen Arbeitsunfähigkeit, spätestens zu dem Zeitpunkt, in welchem die gesetzliche Krankenkasse ihre Krankengeldleistungen einstellt.
[...]
III. Summenbegrenzung
[...]
IV. Obliegenheiten
[…]
V. Familienrabatt, Aufnahmealter
[…]
VI. Beendigung der Versicherung
(1) Unbeschadet der Bestimmungen der §§ 11, 13, 14 und 15 AVB‑1995 endet die Versicherung nach Vorlage der entsprechenden Nachweise auch:
(a) durch Beendigung des ständigen Dienst‑ und Arbeitsverhältnisses
(b) durch Entfall jeglichen Einkommens aus selbständiger Erwerbstätigkeit
(c) durch Eintritt der dauernden Berufsunfähigkeit oder Invalidität, eine solche liegt dann vor, wenn die versicherte Person im bisher ausgeübten Beruf auf nicht absehbare Zeit mehr als 50 % erwerbsunfähig wird.
(2) Kündigt der Versicherer die Versicherung gemäß § 14 (1) AVB‑1995, endet der Versicherungsschutz in Abänderung der Bestimmungen des § 9 (2) AVB‑1995 nach Ablauf von 4 Wochen ab Beendigung des Versicherungsvertrages.
(3) Leistungen werden für längstens 364 Tage innerhalb von drei Versicherungsjahren erbracht. In diesem Fall kann der Versicherer den Vertrag zum Ende des Monats, in dem die Leistung für 364 Tage erbracht wurde, kündigen.
Zweiter Abschnitt – Leistungen
Krankengeld für unselbständig Erwerbstätige
Ab dem 29. Tag der 100%‑igen Arbeitsunfähigkeit ....EUR 60,00.“
[5] Der Kläger begehrt Krankengeld für den Krankenstand vom 26. Dezember 2020 bis 31. März 2022 im Ausmaß von (weiteren) 364 Tagen zu je 60 EUR, somit 21.840 EUR. Die Beklagte habe Leistungen bis zum 25. Dezember 2020 erbracht. Die Ablehnung der weiteren Leistung durch die Beklagte sei jedoch ungerechtfertigt. Der einzige Hinweis auf die von der Beklagten behauptete maximale Leistungspflicht für 364 Tage innerhalb von drei Versicherungsjahren sei nur in VI. „Beendigung der Versicherung“ enthalten. Die Bestimmung sei unwirksam. Sie sei intransparent gemäß § 6 Abs 3 KSchG, gröblich benachteiligend nach § 879 Abs 3 ABGB und an einer Stelle in den BVB formuliert, an der mit einer solchen nachteiligen Bestimmung nicht zu rechnen sei. Da sich der Kläger vom 26. März 2020 bis 31. März 2022 durchgehend im Krankenstand befunden habe und dieser über die ersten drei Versicherungsjahre hinausgehend bestanden habe, habe er auch über diesen genannten Zeitraum hinaus Versicherungsleistungen in Form des Krankengeldes zu erhalten.
[6] Die Beklagte bestritt das Klagebegehren. Der zweite Krankenstand sei innerhalb der ersten drei Versicherungsjahre entstanden und habe daher nicht in den zweiten drei Versicherungsjahren neu zu laufen begonnen. Es handle sich daher um keinen neuen Schadensfall. Auslösend sei immer der erste Tag des Krankenstand-Versicherungsfalls. Die BVB seien in diesem Punkt weder missverständlich noch gröblich benachteiligend. Es sei einem verständigen Versicherungsnehmer möglich und zumutbar, diese auf einer Seite zusammengefassten Besonderen Versicherungsbedingungen durchzulesen, zu verstehen und richtig zu beurteilen. Von einer versteckten Klausel könne daher nicht gesprochen werden. Es ergebe sich klar und deutlich, dass es sich unabhängig von der Anzahl der Versicherungsfälle um eine Risikobeschränkung im Sinne eines Maximalanspruchs für 364 Tage innerhalb von drei Versicherungsjahren handle.
[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es erachtete das vertragliche Ausmaß der Versicherungsleistungen durch die Beklagte zur Gänze erfüllt und lehnte weitergehende Ansprüche des Klägers aus dem Versicherungsvertrag ab. Aus dem Wortlaut der Leistungsbeschränkung in VI. (3) BVB ergebe sich in Zusammenschau mit § 13 AVB, in dem der Begriff des „Versicherungsjahres“ definiert sei, für einen durchschnittlichen Versicherungsnehmer unzweifelhaft, dass das Versicherungsjahr mit dem Wirksamwerden der Versicherung beginne und von der Versicherung innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren Leistungen für längstens 364 Tage zu erbringen seien. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer habe die Leistungsbegrenzungsregelung nicht so auffassen können, dass die Krankengeldversicherung für unbeschränkt viele Krankenstandstage auszubezahlen sei. Das Interesse des Versicherers bei Personen, die innerhalb von drei Jahren mehr als 364 Tage Krankenstandstage aufweisen, diene einerseits der Leistungsbegrenzung und auch der Kündigungsmöglichkeit nach Erbringung des Tagegeldes für diesen Zeitraum und gewährleiste eine – mit vertretbarem Aufwand und zeitnah zu treffende – Entscheidung über die Versicherungsleistungen. Durch eine unbegrenzte Krankengeldleistungsverpflichtung für den Versicherer ließe sich eine möglichst günstige Tarifkalkulation aber nicht gewährleisten.
[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers teilweise Folge und änderte das Urteil dahingehend ab, dass es die Beklagte schuldig sprach, dem Kläger einen Betrag von 7.020 EUR samt 4 % Zinsen seit 1. April 2022 zu zahlen. Das Mehrbegehren auf Zahlung weiterer 14.820 EUR samt 4 % Zinsen seit 1. April 2022 wies es ab.
[9] Durch den zu Art und Umfang des Versicherungsschutzes in den AVB ausdrücklichen Verweis auf die BVB liege eine objektiv ungewöhnliche Klausel iSd § 864a ABGB nicht vor, weil der Kläger mit dieser Klausel und deren Inhalt nicht „überrumpelt“ und/oder überrascht werde habe können und die BVB – nur eine Seite umfassend – überschaubar seien. Nach § 5 (19) AVB stehe dem Versicherungsnehmer für einen fortlaufenden Krankenstand Krankengeld nur einmal bis zum – in VI. (3) BVB geregelten – tariflichen Höchstausmaß zu. Somit habe der Kläger für den mit 26. März 2020 begonnenen und fortwährenden Krankenstand Anspruch auf ein Tagegeld von insgesamt 364 Tagen. Ein darüber hinausgehender Anspruch bestehe – unbeschadet der Überschreitung eines Zeitraums von drei Versicherungsjahren – für diesen Versicherungsfall nicht. Die Bestimmung in VI. (3) BVB iVm § 5 (1) und (19) AVB könne in verschränkter Interpretation nur so ausgelegt werden, dass dem Kläger für seinen (zweiten) Krankenstand (nach Versicherungsbeginn) ein Krankengeld bis zu 364 Tagen (tarifliches Höchstausmaß) zustehe und die Leistungsbegrenzung von „364 Tagen im Zeitraum von drei Versicherungsjahren“ nicht bedeute, dass dieser Zeitraum (nur) die ersten drei Versicherungsjahre umfasse und in den darauffolgenden drei Versicherungsjahren keine weitere Leistung mehr (auch nicht wegen eines bereits eingetretenen Versicherungsfalls) zu erbringen wäre. Die Leistungsbegrenzung nach VI. (3) BVB räume der Beklagten in diesem Zusammenhang nur ein (zusätzliches) Kündigungsrecht ein. Das Transparenzgebot gemäß § 6 Abs 3 KSchG sei gewahrt.
[10] Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil der Auslegung von Klauseln in Allgemeinen und/oder Besonderen Vertragsbedingungen, welche regelmäßig für eine größere Anzahl von Versicherungsnehmern bestimmt und von Bedeutung seien, eine erhebliche Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zukomme und zu den gegenständlichen Klauseln, soweit überblickbar, noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.
[11] Gegen den klagsabweisenden Teil dieses Urteils wendet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, dem Klagebegehren zur Gänze Folge zu geben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[12] Gegen den klagsstattgebenden Teil dieses Urteils wendet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag, es im klagsabweisenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[13] Die Streitteile begehren jeweils, die Revision des Gegners zurückzuweisen; hilfsweise ihr keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[14] Die Revisionen sind zulässig; jene des Klägers ist berechtigt, jene der Beklagten ist nicht berechtigt.
[15] Aus Gründen der Zweckmäßigkeit werden die Revisionen in einem behandelt:
[16] 1.1 In § 178b Abs 1 bis 4 VersVG werden typische Versicherungsfälle und Leistungsversprechen in den bedeutendsten Formen der privaten Krankenversicherung definiert. § 178b VersVG ist dispositiv und daher im Rahmen der Vertragsfreiheit abdingbar. Die Vertragsparteien können somit weitgehend selbst wählen, wie die Krankenversicherung ausgestaltet sein muss. Typischerweise wird die private Krankenversicherung als sogenannte Zusatzversicherung abgeschlossen (7 Ob 202/22i).
[17] 1.2 Gemäß § 178b Abs 3 VersVG ist bei der – hier interessierenden – Krankengeldversicherung der Versicherer verpflichtet, den als Folge von Krankheit oder Unfall durch Arbeitsunfähigkeit verursachten Verdienstausfall durch das vereinbarte Krankengeld zu ersetzen. Bei der Krankengeldversicherung ist Versicherungsfall die als Folge von Krankheit und Unfall herbeigeführte Arbeitsunfähigkeit (7 Ob 189/19y).
[18] 1.3 Die Krankenversicherung ist im Regelfall als „lebenslanges“ Versicherungsverhältnis konzipiert (§ 178i Abs 1 VersVG). Eine Ausnahme vom Ausschluss der ordentlichen Kündigung besteht für die Krankengeldversicherung. Bei dieser Vertragsart kann der Versicherer sowohl nach § 8 Abs 2 VersVG als auch aufgrund von Vertragsbestimmungen kündigen (§ 178i Abs 2 VersVG, vgl 7 Ob 189/19y).
[19] 2.1 Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) sind nach ständiger Rechtsprechung nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 ff ABGB) auszulegen und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv und unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen, dabei ist der einem objektiven Beobachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insb T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).
[20] 2.2 Die allgemeine Umschreibung des versicherten Risikos erfolgt durch die primäre Risikobegrenzung. Durch sie wird in grundsätzlicher Weise festgelegt, welche Interessen gegen welche Gefahren und für welchen Bedarf versichert sind. Auf der zweiten Ebene (sekundäre Risikobeschreibung) kann durch einen Risikoausschluss ein Stück des von der primären Risikobegrenzung erfassten Deckungsumfangs ausgenommen und für nicht versichert erklärt werden. Der Zweck liegt darin, dass ein für den Versicherer nicht überschaubares und kalkulierbares Teilrisiko ausgenommen und eine sichere Kalkulation der Prämie ermöglicht werden soll. Mit dem Risikoausschluss begrenzt also der Versicherer von vornherein den Versicherungsschutz, ein bestimmter Gefahrenumstand wird von Anfang an von der versicherten Gefahr ausgenommen (RS0080166 [T10]).
[21] 2.3 Die Geltungskontrolle nach § 864a ABGB geht der Inhaltskontrolle gemäß § 879 ABGB vor (RS0037089). Objektiv ungewöhnlich nach § 864a ABGB ist eine Klausel, die von den Erwartungen des Vertragspartners deutlich abweicht, mit der er also nach den Umständen vernünftigerweise nicht zu rechnen brauchte. Der Klausel muss ein „Überrumpelungseffekt“ innewohnen (RS0014646). Entscheidend ist, ob die Klausel beim entsprechenden Geschäftstyp üblich ist und ob sie den redlichen Vertragsgewohnheiten entspricht (RS0105643 [T3]). Auf ihren Inhalt allein kommt es aber nicht an. Er spielt vor allem im Zusammenhang mit der Stellung im Gesamtgefüge des Vertragstextes eine Rolle, denn das Ungewöhnliche einer Vertragsbestimmung ergibt sich besonders aus der Art ihrer Einordnung in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen (RS0014659 [T2]). Die Bestimmung darf im Text nicht derart „versteckt sein“, dass sie der Vertragspartner – ein durchschnittlich sorgfältiger Leser – dort nicht vermutet, wo sie sich befindet, und dort nicht findet, wo er sie vermuten könnte (RS0014646 [T14]). Erfasst sind alle dem Kunden nachteilige Klauseln; eine grobe Benachteiligung nach § 879 Abs 3 ABGB ist nicht vorausgesetzt (RS0123234). Die Geltungskontrolle ist nicht allein auf Nebenabreden beschränkt, sondern umfasst auch Vertragsbestimmungen über die Begründung, Umgestaltung bzw Erweiterung der Hauptpflichten (RS0014603).
[22] 3.1 Die Beklagte argumentiert, dass § 5 (1) AVB hinsichtlich Art und Umfang des Versicherungsschutzes auf den Tarif (die Besonderen Versicherungsbedingungen – BVB) verweisen. Aus VI. (3) BVB folge, dass Leistungen für längstens 364 Tage innerhalb von drei Versicherungsjahren erbracht würden. Für die Periode der nächsten drei Versicherungsjahre sei künftig wiederum für maximal 364 Tage Krankengeld zu erbringen, wenn in diesem Zeitraum weitere Krankenstände (aufgrund neuerlicher Erkrankungen) anfallen würden. Die Beklagte beruft sich damit darauf, dass eine Leistungsbeschränkung (Leistungsbegrenzung) für das Krankentagegeld in VI. (3) BVB geregelt sei.
[23] 3.2.1 Die BVB definieren unter „Erster Abschnitt – Tarifbestimmungen“ in I. unter der gleichlautenden Überschrift den Versicherungsfall. Dieser beginnt mit dem Eintritt der völligen (100%‑igen) Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit oder Unfallfolgen (I. [1] BVB) und endet, wenn die Arbeitsunfähigkeit nicht mehr besteht (I. [1] a und b BVB). Unter der Überschrift „II. Leistungsvoraussetzungen“ regelt II. (1) BVB, dass bei einer durch Krankheit oder Unfall hervorgerufenen völligen Arbeitsunfähigkeit nach Ablauf der vereinbarten Karenzzeit (28 Tage) für die Dauer der völligen (100%‑igen) Arbeitsunfähigkeit und Einschluss von Sonn‑ und Feiertagen das vereinbarte Krankengeld pro Tag (hier 60 EUR) geleistet wird. In II. (2) BVB wird festgehalten, dass der Anspruch mit dem letzten Tag der nachgewiesenen Arbeitsunfähigkeit, spätestens in dem Zeitpunkt, in welchem die gesetzliche Krankenkassa die Krankengeldleistungen einstellt, endet.
[24] 3.2.2 Aus I. im Zusammenhalt mit II. BVB folgt daher nach dem Wortlaut grundsätzlich ein Anspruch auf Krankengeld für die Dauer der völligen Arbeitsunfähigkeit unter Berücksichtigung der vereinbarten Karenzfrist.
[25] 3.3 Im Anschluss finden sich in den BVB die Überschriften „III. Summenbegrenzung“, „IV. Obliegenheiten“ und „V. Familienrabatt, Aufnahmealter“ und „VI. Beendigung der Versicherung“. In VI. (1) a bis c BVB wird eine Erweiterung der in 11, 13, 14 und 15 AVB‑1995 vorgesehenen Gründe der Beendigung des Versicherungsvertrags angeführt (Beendigung des ständigen Dienst‑ und Arbeitsverhältnisses, Entfall jeglichen Einkommens aus selbständiger Erwerbstätigkeit und Eintritt dauernder Berufsunfähigkeit oder Invalidität). VI. (2) BVB sieht für den Fall der Kündigung durch den Versicherer gemäß § 14 (1) AVB das Ende des Versicherungsschutzes nach Ablauf von vier Wochen ab Beendigung des Versicherungsvertrags vor.
[26] 3.4.1 In der von der Beklagten herangezogenen Bestimmung VI. (3) BVB wird festgehalten, dass Leistungen für längstens 364 Tage innerhalb von drei Versicherungsjahren erbracht werden. In diesem Fall kann der Versicherer den Vertrag zum Ende des Monats, in dem die Leistung für 364 Tage erbracht wurde, kündigen.
[27] 3.4.2 Die Textierung spricht für die Vereinbarung eines Kündigungsrechts nach § 178i Abs 2 VersVG. Darauf muss hier aber nicht näher eingegangen werden, gründet die Beklagte ihren gegen das Leistungsbegehren erhobenen Einwand doch – wie ausgeführt – darauf, dass VI (3) BVB eine Begrenzung der in II. BVB umschriebenen versicherten Leistungen darstellt.
[28] 3.4.3 Unter der Überschrift „Beendigung der Versicherung“ wird der durchschnittlich sorgfältige Leser thematisch auch nur Regelungen über die Beendigung des Versicherungsverhältnisses erwarten und gerade keine Einschränkung der unter der entsprechenden Überschrift „Leistungsvoraussetzungen“ enthaltenen Leistungsbeschreibung. Keine andere Überschrift lässt vermuten, dass in den BVB eine weitere Umschreibung der Leistungen (vor allem in Form einer Leistungsbegrenzung) bei aufrechtem Versicherungsverhältnis vorgenommen wird. Die Vertragsparteien der Beklagten werden daher davon ausgehen, dass es zu diesem Thema keine besondere Bestimmung in den BVB gibt. Auf gar keinen Fall werden sie eine Begrenzung der Leistung bei Fortbestehen des Vertragsverhältnisses unter der Überschrift „Beendigung der Versicherung“ vermuten oder gar suchen.
[29] 3.4.4 Die von der Beklagten in VI. (3) BVB unterstellte Leistungsbegrenzung ist damit ungewöhnlich und unwirksam nach § 864a ABGB.
[30] 4.1 Davon ausgehend besteht der Anspruch des Klägers auf Erbringung des Krankengeldes für die Dauer seiner völligen Arbeitsunfähigkeit. Dem Klagebegehren war daher Folge zu geben.
[31] 4.2 In diesem Zusammenhang wird der vom Berufungsgericht vertretenen – selbst von der Beklagten bemängelten – Rechtsansicht, dass ausgehend von § 5 (19) AVB in Verbindung mit VI. (3) BVB für den zweiten fortlaufenden Krankenstand nur einmal das Krankengeld bis zum tariflichen Höchstausmaß (= 364 Tage) zustehe, nicht beigetreten: Abgesehen davon, dass die dortige Leistungsbegrenzung ungewöhnlich und damit unwirksam ist, verweist § 5 (19) AVB weder auf VI. (3) BVB noch enthält diese Regelung nach dem Wortlaut eine Leistungsbegrenzung pro Versicherungsfall.
[32] 5.1 Die Kostenentscheidung hinsichtlich der Kosten des erstgerichtlichen Verfahrens gründet sich auf § 41 ZPO, jene betreffend das Rechtsmittelverfahren auf §§ 41, 50 ZPO. Mit Schreiben vom 9. Dezember 2022 teilte der Kläger – über Auftrag des Gerichts – mit, dass ihm aufgetragen worden sei, alle Seiten der „Besonderen Versicherungsbedingungen“ vorzulegen. Diesbezüglich bestehe die gesamte Urkunde lediglich aus der bereits vorgelegten einen Seite. Wie im außergerichtlichen Vorfeld erhoben, gebe es keine sonstigen Seiten der vorgelegten Besonderen Versicherungsbedingungen, weshalb er der aufgetragenen Urkundenvorlage auch bereits faktisch nicht nachkommen könne. Für diese einfache Bekanntgabe gebührt lediglich Entlohnung nach TP I.
[33] Weiters wandte sich die Beklagte gegen die verzeichneten Reisekosten des Klägers zur Verhandlung nach Graz mit dem ausschließlichen Argument, diese seien vom Einheitssatz gedeckt. Abgesehen davon, dass der Partei im Regelfall bei – hier nicht bestrittener – Notwendigkeit ihres Erscheinens der Ersatz der – der Höhe nach ebenfalls unstrittigen – Reisekosten gebührt (vgl M. Bydlinski in Fasching/Konecny³ II/1 § 42 ZPO Rz 4), bleibt auch offen, aus welchen Gründen diese vom Anwaltshonorar umfasst sein sollen.
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