OGH 13Os52/23f

OGH13Os52/23f19.7.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. Juli 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz‑Hummel LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Richteramtsanwärter Mag. Wunsch in der Strafsache gegen * L* und eine Angeklagte wegen Verbrechen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1 und 3a Z 1 StGB sowie weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Angeklagten * L* und C* sowie über die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis als Schöffengericht vom 16. Jänner 2023, GZ 10 Hv 68/22t‑63, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0130OS00052.23F.0719.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerden werden zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Linz zugeleitet.

Den Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurden * L* und C* jeweils eines Verbrechens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1 und 3 StGB und nach § 107b Abs 1 und 3a Z 1 StGB schuldig erkannt.

[2] Danach haben sie vom September 2021 bis zum 28. September 2022 in R* gegen A*, geboren am 13. Dezember 2005, und den am 29. Dezember 2008 geborenen, somit unmündigen J* eine längere Zeit hindurch fortgesetzt Gewalt ausgeübt, wobei sie durch die Taten eine umfassende Kontrolle des Verhaltens des A* herstellten oder eine erhebliche Einschränkung der autonomen Lebensführung des A* bewirkten, und zwar

* L* dadurch, dass er A* und J* zunächst in etwa 14‑tägigen und ab Juli 2022 in einmonatigen Abständen Ohrfeigen gegen das Gesicht und Schläge gegen das Gesäß versetzte, weiters die Genannten ab Beginn des Jahres 2022 wiederholt an den Armen festhielt, während ihnen C* Schläge mit der Wasserwaage auf das nackte Gesäß versetzte, wodurch A* und J* Hämatome erlitten, und indem er A* durch Versperren der Wohnungstüre wiederholt am alleinigen Verlassen der Wohnung hinderte und ihn zweimal würgte sowie

C* dadurch, dass sie A* und J* in 4‑wöchigen Abständen mit einem Kochlöffel, ab Jahresbeginn 2022 mit einer Wasserwaage zumindest zehn Schläge gegen das nackte Gesäß versetzte, wodurch die Genannten Hämatome erlitten, weiters im Februar 2022 deren Penis und Afterregion mit „Habaneros“‑Chilis einrieb, wodurch beide mehrtägig starke Schmerzen im Genitalbereich erlitten, ferner, indem sie A* am 28. September 2022 androhte, ihn mit Kabelbindern zu fesseln, ihm den Mund zuzukleben und ihn gemeinsam mit * L* in sein Zimmer zu verbringen, und ihn mehrfach durch Versperren der Wohnungstüre daran hinderte, die Wohnung zu verlassen, sowie J* wiederholt dazu nötigte, ein Brot mit Käseaufstrich zu essen, indem sie es ihm – Brechreiz auslösend – in den Mund stopfte.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen wenden sich die auf § 281 Abs 1 Z 2 StPO gestützten, gemeinsam ausgeführten Nichtigkeitsbeschwerden der beiden Angeklagten.

[4] In der Hauptverhandlung machten die Angeklagten von ihrem Aussageverweigerungsrecht (§ 7 Abs 2 StPO und § 164 Abs 1 StPO) Gebrauch. Der Vorsitzende verlas daraufhin – trotz Widerspruchs (ON 62 S 8 ff) – die früheren Aussagen der Angeklagten (ON 62 S 10 und S 12 f).

[5] Eine mit Nichtigkeit bedrohte Beweiserhebung im Ermittlungsverfahren behauptet die Rüge insoweit, weil * L* bei seinen Vernehmungen nicht über die Aussagebefreiung nach „§ 156 Abs 1 Z 1 StPO“ belehrt worden (§ 159 Abs 1 und 3 StPO) und ihm überdies – unter angeblicher Verletzung des § 166 Abs 1 Z 2 StPO – „suggeriert“ worden sei, er müsse etwas zu den Anschuldigungen sagen, ohne darauf hingewiesen worden zu sein, dass sich seine Stiefsöhne künftig auch ihrer Aussage entschlagen könnten (§ 166 Abs 2 StPO).

[6] Der behauptete Verstoß gegen § 156 Abs 1 Z 1 StPO liegt nicht vor, weil sich diese Bestimmung auf die Abhörung von Zeugen (§ 154 Abs 1 StPO) bezieht. * L* wurde aber – rechtsrichtig – als Beschuldigter vernommen (§ 164 StPO; ON 5, 11, 24.5, 24.6 und 25). Beschuldigte (und Angeklagte) sind stets berechtigt, nicht auszusagen (§§ 164 Abs 1, 245 Abs 1 StPO), worüber der Angeklagte – von der Beschwerde unbestritten – nach der Aktenlage bei allen in Rede stehenden Vernehmungen belehrt worden ist (erstmals ON 5 S 3). Eine Vernehmung des Angeklagten als Zeugen hätte dem Gesetz widersprochen (RIS‑Justiz RS0097675 und RS0098083; Kirchbacher/ Sadoghi, WK-StPO § 245 Rz 4).

[7] Der Vorwurf der Druckausübung infolge des erfolgten Vorhalts der bereits erhobenen Misshandlungsvorwürfe ist ebenso unberechtigt.

[8] Als wesentliches Element der Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 6 StPO) ordnet § 164 Abs 3 zweiter Satz StPO an, dem Beschuldigten Gelegenheit einzuräumen, den gegen ihn erhobenen Vorwurf zusammenfassend zu entkräften. Der Vernehmende ist somit verpflichtet, dem Beschuldigten sämtliche Anschuldigungspunkte und gegen ihn vorliegenden Beweise vorzuhalten, um dessen Erklärung darüber zu ermöglichen (Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 164 Rz 8).

[9] Auf ein Einverständnis der Parteien kommt es im gegebenen Zusammenhang für die Zulässigkeit der Verlesung der Protokolle über frühere Aussagen der Angeklagten nicht an (dazu § 245 Abs 1 letzter Satz StPO und § 252 Abs 1 Z 3 zweiter Fall StPO, RIS‑Justiz RS0117390 [T1]; Kirchbacher/Sadoghi, WK-StPO § 245 Rz 59).

[10] Die Verletzungsanzeige vom 29. September 2022 (ON 10.2) wurde dem Vorbringen (der Sache nach Z 3) zuwider ebenso zu Recht verlesen. Um ein amtliches Schriftstück im Sinn des § 252 Abs 1 StPO handelt es sich dabei nicht, womit die diesbezüglichen Verlesungsbeschränkungen nicht gelten. Als für die Sache von Bedeutung musste die Urkunde vielmehr verlesen werden (§ 252 Abs 2 StPO).

[11] Die Nichtigkeitsbeschwerden waren daher gemäß § 285d Abs 1 StPO bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen.

[12] Über die Berufungen hat das Oberlandesgericht zu entscheiden (§ 285i StPO).

[13] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

Stichworte