OGH 2Ob10/23v

OGH2Ob10/23v21.2.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen Kindes S*, geboren am *, über den Revisionsrekurs des Vaters R*, vertreten durch Martin Fürthaler, LL.M. (WU), MSc (WU), Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 18. März 2022, GZ 48 R 219/21t‑77, womit infolge Rekurses des Vaters der Beschluss des Bezirksgerichts Donaustadt vom 25. Mai 2021, GZ 56 Pu 24/19f‑58, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0020OB00010.23V.0221.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Unterhaltsrecht inkl. UVG

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben und der angefochtene Beschluss wie folgt abgeändert:

„1. Der Vater R* ist bei sonstiger Exekution schuldig, für den minderjährigen S*, geboren am *,

im Zeitraum vom 1. 10. 2016 bis 30. 4. 2018 monatlich 353 EUR sowie

ab 1. 5. 2018 monatlich 392 EUR

an Unterhalt zu Handen des gesetzlichen Vertreters, das ist derzeit die Mutter S*, zu zahlen.

2. Die bis zur Rechtskraft dieses Beschlusses fällig gewordenen Unterhaltsbeiträge sind unter Berücksichtigung der bereits geleisteten Zahlungen binnen 14 Tagen, die in Hinkunft fällig werdenden Unterhaltsbeiträge am 1. eines jeden Monats im Vorhinein zu Handen des gesetzlichen Vertreters, das ist derzeit die Mutter S*, zu zahlen.

3. Das Unterhaltsmehrbegehren des Kindes wird abgewiesen.“

 

Begründung:

[1] Das Kind lebt mit seiner Mutter in Österreich. Der Vater lebt in Dänemark, hat keine weiteren Sorgepflichten und verdient (umgerechnet) 2.305 EUR im Monat.

[2] Das durch die Mutter vertretene Kind beantragte die Erhöhung des vom Vater monatlich zu leistenden Unterhalts von 100 EUR auf 400 EUR ab 1. 10. 2016. Der Vater sei in der Lage, ein Einkommen von 2.000 EUR monatlich zu erzielen.

[3] Der Vater sprach sich gegen eine Neufestsetzung des Unterhalts aus. Würde ein dänisches Gericht den Unterhalt festsetzen, müsste er aufgrund der höheren Lebenshaltungskosten höchstens 150 EUR an Unterhalt zahlen.

[4] Das Erstgericht gab dem Unterhalts-erhöhungsantrag zur Gänze statt. Zwar seien die Lebenshaltungskosten in Dänemark höher als in Österreich, man erziele dort aber auch ein höheres Einkommen, sodass die Kaufkraft in beiden Ländern annähernd gleich sei. Der Unterhalt sei daher ausgehend vom festgestellten Einkommen nach der Prozentsatzmethode auszumitteln.

[5] Das Rekursgerichtgab dem Rekurs des Vaters nicht Folge. Der Unterhaltsanspruch des Kindes sei nach Art 3 HUP 2007 nach österreichischem Recht zu beurteilen. Trotz des höheren Preisniveaus in Dänemark sei der Vater durch den zugesprochenen Unterhalt in der Deckung seines Lebensbedarfs nicht gefährdet. Dass das Erstgericht die Kaufkraft von Österreich und Dänemark als annähernd gleich beurteilt habe, sei nicht zu beanstanden.

[6] Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs nachträglich zu, weil das „für Dänemark angenommene annähernd gleiche Kaufkraftniveau bei tatsächlich höherem Preisniveau rechtlich unrichtig beurteilt sein könnte.“

[7] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag auf Abweisung des Unterhaltserhöhungsantrags; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[8] Eine Revisionsrekursbeantwortung wurde nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil dem Rekursgericht bei der Unterhaltsbemessung eine aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlaufen ist; er ist auch teilweise berechtigt.

[10] 1. Zutreffend haben die Vorinstanzen den Unterhaltsanspruch des in Österreich lebenden Kindes gemäß Art 3 HUP 2007 nach österreichischem Recht beurteilt (vgl RS0128723). Das HUP 2007 ist nach dessen Art 2 allseitig – und daher auch im Verhältnis zu einem Nichtvertragsstaat wie Dänemark – anzuwenden (vgl 3 Ob 104/17s = RS0131701).

[11] 2. Nach ständiger Rechtsprechung sollen bei der Bemessung des Unterhaltsanspruchs im Ausland lebender Kinder eines im Inland wohnenden Elternteils die Unterhaltsbeiträge einerseits in einem angemessenen Verhältnis zu den durchschnittlichen Lebensverhältnissen und zur Kaufkraft im Heimatland der Kinder stehen und andererseits die Kinder am Lebensstandard des in Österreich lebenden Unterhaltsverpflichteten teilnehmen lassen (RS0111899 [T1, T7]). In solchen Fällen ist ein Mischunterhalt zu bilden, der sich nach den Bedürfnissen der Unterhaltsberechtigten und dem verbesserten Nettoeinkommen des Unterhaltspflichtigen richtet. Gleichzeitig muss auch auf den Umstand Rücksicht genommen werden, dass im Aufenthaltsstaat des Unterhaltsberechtigten ein niedrigeres Kaufkraft- und Preisniveau besteht (4 Ob 191/20x Rz 31). Nichts anderes kann umgekehrt gelten, wenn die Kinder in Österreich leben und es das Wohnsitzland des Unterhaltspflichtigen ist, in dem ein höheres Einkommens- und Preisniveau herrscht (3 Ob 109/20f Rz 27 mwN). Bei der Unterhaltsberechnung nach diesen Grundsätzen handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des Gerichts ohne konkretes Berechnungssystem (vgl RS0111899 [T12]).

[12] 2.1. Der Oberste Gerichtshof hat bei vergleichbarer Sachverhaltskonstellation (unterhaltsberechtigte Kinder in Österreich, unterhaltspflichtiger Elternteil in Dänemark) in der Entscheidung 8 Ob 30/16v einen Abzug von 20 % von der Unterhaltsbemessungsgrundlage als sachgerecht erachtet, um das (dort festgestellte) erheblich unterschiedliche Preisniveau in Österreich und Dänemark (rund 30 bis 35 % Unterschied) angemessen zu berücksichtigen. Die Bemessungsgrundlage sei nicht um die gesamte „Kaufkraftdifferenz“ zu verringern, vielmehr sei eine Erheblichkeitsschwelle zu berücksichtigen. Aus der Rechtsprechung zum Mischunterhalt ergibt sich, dass unter dem Begriff „Kaufkraftdifferenz“ in der Regel die Differenz zwischen den Preisniveaus in den beiden Ländern zu verstehen ist.

[13] 2.2. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Feststellungen des Erstgerichts, dass die Lebenshaltungskosten in Dänemark rund 25 % höher sind als in Österreich, sich ein Däne aufgrund des in Dänemark höheren Durchschnittseinkommens aber statistisch annähernd gleich viel leisten kann wie ein Österreicher. Die Vorinstanzen haben daraus den unzutreffenden Schluss gezogen, dass kein „Mischunterhalt“ zu bilden, sondern der Unterhalt nach der allgemein üblichen Prozentsatzmethode auszumitteln ist.

[14] Entscheidend ist aber nach der dargestellten Rechtsprechung nicht, ob sich der in einem anderen Staat lebende Unterhaltsberechtigte aufgrund des dort höheren Durchschnittseinkommens statistisch gesehen ungefähr gleich viel „leisten“ kann wie ein in Österreich wohnhafter Unterhaltsberechtigter, sondern ob dieser Unterhaltspflichtige höhere Kosten zur Finanzierung des täglichen Lebens aufwenden muss als ein in Österreich wohnhafter Unterhaltsberechtigter. Von Relevanz ist damit das vom Erstgericht festgestellte, im Vergleich zu Österreich um 25 % höhere Preisniveau in Dänemark.

[15] 2.3. Unter Berücksichtigung der Erheblichkeitsschwelle und unter Hinweis darauf, dass es sich um eine Ermessensentscheidung ohne konkretes Berechnungssystem handelt, erachtet der Senat im vorliegenden Fall eine Reduktion der Unterhaltsbemessungsgrundlage um 15 % sachgerecht, was zu einer Bemessungsgrundlage von (gerundet) 1.960 EUR führt (85 % von 2.305 EUR). In Anwendung der Prozentsatzmethode ergeben sich die aus dem Spruch ersichtlichen Beträge.

[16] 2.4. Dass der Vater mit dem ihm nach Abzug der zugesprochenen Unterhaltsbeträge verbleibenden Betrag von über 1.800 EUR pro Monat unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten in Dänemark nicht das Auslangen finden könnte, behauptet er im Revisionsrekurs nicht.

[17] 3. Die Ausführungen des Vaters zur angeblich unterlassenen Berücksichtigung der „stark angestiegenen unterschiedlichen Inflation in Dänemark und Österreich“ werden den Anforderungen an eine gesetzmäßig ausgeführte Rechtsrüge nicht gerecht.

[18] 4. Die Erhöhung des (von einem serbischen Gericht festgelegten) Unterhalts von 100 EUR auf die nunmehr zugesprochenen Beträge verstößt entgegen den Ausführungen im Revisionsrekurs nicht gegen den ordre public. Weder der Umstand, dass aufgrund des Wechsels des Aufenthaltsorts des Kindes eine Neubemessung des Unterhalts vorzunehmen war (vgl nur Art 3 Abs 2 HUP 2007), noch die Behauptung, dass der nach dänischem Recht auszumessende Unterhaltsbeitrag weit geringer wäre, indizieren einen Verstoß gegen den ordre public.

[19] 5. Insgesamt war dem Revisionsrekurs damit teilweise Folge zu geben.

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