OGH 1Ob133/22y

OGH1Ob133/22y14.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei I*, vertreten durch die Doschek Rechtsanwalts GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 5.935,54 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei (Revisionsinteresse 3.680 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 10. Mai 2022, GZ 14 R 51/22f‑15, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 1. Februar 2022, GZ 33 Cg 26/21t‑11, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0010OB00133.22Y.0914.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, derbeklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 1.178,60 EUR bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Das Landesgericht für Strafsachen Wien verurteilte den Kläger am 15. 5. 2017wegen § 84 Abs 4 StGB zu einer Geldstrafe und zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von neun Monaten (erstes Strafurteil).

[2] In einem weiteren Strafverfahren wurde er mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 21. 6. 2018 nach § 84 Abs 4 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt, wobei diese Freiheitsstrafe nachträglich wegen einer (zusätzlichen) Schadensgutmachung auf neun Monate herabgesetzt wurde (zweites Strafurteil).

[3] Nachdem das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 1. 10. 2019 über Antrag des Klägers die Wiederaufnahme des ersten Strafverfahrens bewilligt und das erste Strafurteil aufgehoben hatte, wurde der Kläger im ersten Strafverfahren am 22. 1. 2020 freigesprochen. Die dort ursprünglich verhängte Freiheitsstrafe wurde nie vollzogen.

[4] Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 26. 2. 2020 wurde die mit dem zweiten Strafurteil verhängte und nachträglich auf neun Monate herabgesetzte unbedingte Freiheitsstrafe gemäß § 31a Abs 1 StGB, § 410 Abs 1 StPO dadurch nachträglich gemildert, dass sie im Ausmaß von sechs Monaten für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde; dies deswegen, weil durch den rechtskräftigen Freispruch im ersten Strafverfahren der Erschwerungsgrund der „einschlägigen Vorstrafe“ im zweiten Strafverfahren weggefallen war. Zum Zeitpunkt der Fassung dieses Beschlusses hatte der Kläger die aus dem zweiten Strafurteil resultierende Haftstrafe von neun Monaten allerdings bereits durch einen elektronisch überwachten Hausarrest („Fußfessel“) vollständig verbüßt.

[5] Gestützt auf das StEG begehrte der Kläger von der Beklagten eine Haftentschädigung von 9.200 EUR für 184 Tage á 50 EUR, die er zuletzt um eine von der Beklagten compensando eingewendete Abgabenforderung von 3.264,46 EUR auf 5.935,57 EUR sA einschränkte. Er habe zu Unrecht sechs Monate Strafhaft mittels Fußfessel verbüßt. Nach der ganz allgemein gehaltenen Bestimmung des § 2 Abs 1 Z 3 StEG bestehe ein Entschädigungsanspruch immer dann, wenn infolge einer Wiederaufnahme ein Freispruch gefällt oder eine mildere Strafe verhängt werde, und zwar unabhängig davon, ob dies im selben oder in einem anderen Verfahren und ob dies mit Urteil oder Beschluss erfolge. Widrigenfalls müsste man von einer planwidrigen Lücke ausgehen, die mittels Analogie zugunsten des Klägers zu schließen wäre.

[6] DieBeklagte bestritt. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Abs 1 Z 3 StEG seien nicht erfüllt, weil die Freiheitsstrafe im wiederaufgenommenen ersten Strafverfahren gar nicht vollzogen worden sei und der dortige Freispruch nur Auswirkungen auf die Strafbemessung im zweiten Strafverfahren entfaltet habe. Eine analoge Anwendung des § 2 Abs 1 Z 3 StEG komme mangels einer planwidrigen Gesetzeslücke nicht in Betracht.

[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es liege keiner der in § 2 Abs 1 StEG geregelten Fälle vor und es bestehe auch keine planwidrige Gesetzeslücke.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung desKlägersteilweise Folge und verpflichtete die Beklagte (nach Abzug der Abgabenforderung von 3.264,46 EUR) zur Zahlung einer Haftentschädigung von 415,54 EUR sA. Das Mehrbegehren von 5.520 EUR sA wies es rechtskräftig ab. Aus dem Wortlaut des § 2 Abs 1 Z 3 StEG in seinem Sinnzusammenhang ergebe sich eindeutig, dass darin ausschließlich jener Fall geregelt sei, in dem die nachträgliche mildere Verurteilung in ein- und demselben Strafverfahren erfolge, wo zuvor die Wiederaufnahme bewilligt bzw das frühere Urteil aufgehoben worden sei. Nach der im StEG 2005 zum Ausdruck kommenden grundlegenden Wertung sei aber davon auszugehen, dass ein Anspruch auf Haftentschädigung jeder Person zustehen solle, die letztlich – aus einem Blickwinkel ex post betrachtet – eine Haft bzw eine Einschränkung der persönlichen Freiheit ungerechtfertigt verbüßt habe. Es sei daher vom Vorliegen einer planwidrigen Gesetzeslücke aufgrund eines Versehens des Gesetzgebers auszugehen, die eine Schließung durch eine analoge Anwendung des § 2 Abs 1 Z 3 StEG erfordere.

[9] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage bestehe, ob und gegebenenfalls inwiefern § 2 Abs 1 Z 3 StEG bei einer nachträglichen Strafmilderung (§ 31a StGB) ohne neuerliche Verurteilung anwendbar sei.

[10] Die dagegen von der Beklagten erhobene – vomKläger beantwortete – Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grundzulässig. Sie ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[11] 1. Nach § 2 Abs 1 Z 3 StEG steht ein Ersatzanspruch nach § 1 Abs 1 StEGnur einer Person zu, die durch ein inländisches Strafgericht nach Wiederaufnahme oder Erneuerung des Verfahrens oder sonstiger Aufhebung eines früheren Urteils freigesprochen oder sonst außer Verfolgung gesetzt oder neuerlich verurteilt wurde, sofern in diesem Fall eine mildere Strafe verhängt wurde oder eine vorbeugende Maßnahme entfiel oder durch eine weniger belastende Maßnahme ersetzt wurde (Wiederaufnahme).

[12] 1.1. Richtig sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass diese Bestimmungden Fall einer nachträglichen Strafmilderung nach § 31a StGB iVm § 410 StPO nicht regelt. Der Kläger wurde im zweiten – der verbüßten Strafhaft zugrundeliegenden – Strafverfahren weder freigesprochen noch sonst außer Verfolgung gesetzt noch neuerlich – zu einer milderen Strafe – verurteilt, sodass die Voraussetzungen des § 2 Abs 1 Z 3 StEG nach dem Wortlaut dieser Bestimmung nicht vorliegen.

[13] 1.2. In der Literatur (vgl Heissenberger, Haftentschädigung [2006] 101 f mwN [zur Vorgängerbestimmung § 2 Abs 1 lit c StEG 1969]; Eder‑Rieder, StEG 2005 [2007] 47) wird die (analoge) Anwendung des § 2 Abs 1 Z 3 StEG auf die nachträgliche Strafmilderung nach § 31a StGB iVm § 410 StPO befürwortet, obwohl es – wegen unveränderten Schuldspruchs – nicht zu einer Aufhebung der Verurteilung komme. Als Begründung wird angeführt, dass eine bloß aufgrund der Anwendung von Milderungsgründen im wiederaufgenommenen Verfahren mildere Strafe auch unter die Z 3 falle, selbst wenn nach demselben Strafsatz verurteilt werde (Mayerhofer/Salzmann, Nebenstrafrecht, § 2 StEG Anm 3). Kodek/Leupold (in Höpfel/Ratz, WK2 StEG § 2 Rz 36) folgen dieser Ansicht nur für den Fall, dass die nachträgliche Strafmilderung nicht aufgrund nachträglich eingetretener, sondern bei der Strafbemessung zwar schon vorhandener, aber erst nachträglich bekannt gewordener Umstände erfolge.

[14] 1.3. Ob und inwieweit eine analoge Anwendung der Bestimmung des § 2 Abs 1 Z 3 StEG bei einer nachträglichen Strafmilderung nach § 31a StGB iVm § 410 StPO in Betracht kommt, insbesondere wenn – wie hier – die ursprünglich (zutreffend) als erschwerend angenommene Vorstrafenbelastung durch nachträglichen Freispruch im wiederaufgenommenen Vorverfahren entfällt, muss im Anlassfall allerdings aus den nachstehend genannten Gründen nicht abschließend geklärt werden.

[15] 2. Die analoge Anwendung einer Bestimmung setzt eine Lücke im Rechtssinn voraus. Eine solche ist dort anzunehmen, wo das Gesetz, gemessen an seiner eigenen Absicht und immanenten Teleologie unvollständig, also ergänzungsbedürftig ist, ohne dass seine Ergänzung einer vom Gesetz gewollten Beschränkung widerspricht (RS0008866 [T5]). Einem Ersatzanspruch des Klägers analog § 2 Abs 1 Z 3 StEG steht – wie die Beklagte zu Recht geltend macht – hier schon die § 3 Abs 1 Z 1 StEG zugrundeliegende Wertung entgegen:

[16] 2.1. Demnach besteht eine Entschädigungspflicht unter anderem auch bei der Wiederaufnahme mit einer nachfolgenden milderen Strafe oder weniger belastenden Maßnahme insoweit nicht, als die Zeit der Anhaltung auf eine Strafe angerechnet wurde (Kodek/Leupold in Höpfel/Ratz, WK2 StEG § 3 Rz 4).

[17] 2.2. Schon zur Vorgängerbestimmung des § 3 lit b StEG 1969 wurde judiziert, dass sich dieser Ausschlussgrund nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes, das keine Einschränkung des Anwendungsbereichs vorsieht, nicht nur auf eine unmittelbar zu vollziehende (unbedingt verhängte) Strafe, sondern gleichermaßen auch auf eine ganz oder nur zum Teil bedingt nachgesehene Freiheits- oder/und Geldstrafe bezieht (RS0087743; 15 Os 71/97).

[18] In diesem Sinn betonen die Gesetzesmaterialien zum StEG 2005 (ErlRV 618 BlgNR 22. GP  7 f), dass der Ausschlussgrund des § 3 Abs 1 Z 1 StEG nicht nur etwa für die Fälle der Anrechnung auf eine unmittelbar zu vollziehende (unbedingte) Strafe gelte. Vielmehr schließe auch die Anrechnung auf eine ganz oder zum Teil bedingt nachgesehene Strafe den Ersatzanspruch in diesem Umfang aus.

[19] Von dieser – auch in der Literatur geteilten (Eder-Rieder, StEG 2005, 51; Kodek/Leupold in Höpfel/Ratz, WK2 StEG § 3 Rz 4) – Ansicht abzugehen, besteht kein Anlass.

[20] 2.3. Auch wenn hier kein Fall der Anrechnung der erlittenen Vorhaft nach § 38 StGB, § 400 StPO vorliegt, darf nicht übersehen werden, dass der Kläger keine längere als die – wenn auch nachträglich zum Teil bedingt nachgesehene – neunmonatige Freiheitsstrafe verbüßt hat, zu der er im zweiten Strafverfahren rechtskräftig verurteilt wurde. Eine Entschädigung dafür, dass er zum Zeitpunkt der nachträglichen Strafmilderung durch teilbedingte Strafnachsicht die gesamte Strafzeit bereits verbüßt hatte, er also eine endgültige Strafnachsicht tatsächlich gar nie erreichen konnte, kann ihm nicht gewährt werden. Andernfalls wäre er gegenüber Personen besser gestellt, denen die Zeit einer Anhaltung auf eine von vornherein (teil‑)bedingt nachgesehene Strafe angerechnet wurde und denen das Gesetz aus diesem Grund keinen Entschädigungsanspruch zubilligt.

3. Zusammenfassend ergibt sich:

[21] Ein Ersatzanspruch analog § 2 Abs 1 Z 3 StEG im Fall einer nachträglichen Strafmilderung ist im Hinblick auf die Bestimmung des § 3 Abs 1 Z 1 StEG jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn der Anspruchswerber bereits vor der nachträglichen (teil‑)bedingten Strafnachsicht nach § 31a Abs 1 StGB, § 410 StPO die gesamte Strafhaft verbüßt hat.

[22] 4. Da dem Kläger aus diesem Grund kein Entschädigungsanspruch zusteht, war der Revision der Beklagten Folge zu geben und das Urteil des Erstgerichts einschließlich dessen Kostenentscheidung wiederherzustellen.

[23] 5. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens beruht auf §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO.

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